Die anthropologische und psychologische Genealogie Puschkins


“Russische Rassentheorie bis 1917” | 1. Auflage

Sammelband von Originalwerken russischer Klassiker
herausgegeben von Wladimir Awdejew
Moskau 2002

Iwan Alexejewitsch Sikorski

Iwan Alexejewitsch Sikorski


Ein genialer Mensch taucht niemals aus dem Nichts auf. Stets gehen einem großen Naturereignis lange und komplexe Vorbereitungen voraus. Französische Anthropologen haben ihre Aufmerksamkeit der Frage gewidmet, unter welchen Voraussetzungen sich die biologische Aura einer kommenden Größe herauskristallisiert, und welche Phänomene diesen Prozeß begleiten. Es stellte sich heraus, daß Genialität, Talent und Begabung, die eine Reihe von Abstufungen ein und desselben Phänomens darstellen, mit bestimmten Sippen und Geschlechtern verbunden sind und auf deren biologischem Fundament in unterschiedlich großen zeitlichen Abständen bald in ihren männlichen, bald in ihren weiblichen Vertretern zutage treten. Die französischen Anthropologen haben das Schicksal von hundert Familien im Lauf einiger Jahrhunderte untersucht. Ihre Forschungen führten zum Ergebnis, daß es Geschlechter und Sippen gibt, die auch während eines recht großen Zeitraums (bis zu siebenhundert Jahre) ausschließlich Durchschnittsmenschen ohne jeden „göttlichen Funken“ – d.h. Talent oder Begabung - hervorgebracht haben. Doch aus anderen Sippen sind von Zeit zu Zeit begabte und talentierte Menschen hervorgegangen, worauf die schöpferische Kraft des Geschlechts bis zum nächsten Höhenflug wieder erlosch.

Bei der Entstehung der Genialität spielt neben der sippenmäßigen Vorbereitung auch die individuelle eine Rolle; letztere entspricht der Periode der Vereinigung zahlreicher komplexer Elemente der Persönlichkeit. Dies ist der Grund dafür, daß die heranreifende Individualität in der Kindheit nicht selten unbemerkt bleibt. Eben dies war bei Puschkin der Fall. Doch dann erfolgt die individuelle Entwicklung in beschleunigtem Tempo, und im Jünglingsalter gibt sich die Genialität zu erkennen. Beim jugendlichen Genie sind sämtliche Züge der Individualität bereits deutlich ausgeprägt, während sich die geistigen Kräfte und Begabungen beim Durchschnittsmenschen zu diesem Zeitpunkt durchaus nicht immer schon voll entfalten.

Die Erforschung der bio-historischen Basis der Genialität ist von außerordentlichem Interesse. Bekanntlich strebten im alten Griechenland viele Städte danach, begabte Menschen als Bürger zu gewinnen. Solchen biologischen Bestrebungen liegt die offensichtliche Tatsache zugrunde, daß die Genialität viele anthropologische Wurzeln besitzt; an ihrer Schöpfung sind zahlreiche, bisweilen sehr unterschiedliche biologische Faktoren beteiligt. In der Persönlichkeit Lermontows traten schottische Charakterzüge zutage; bei Tolstoi gehen gewisse Forscher (z.B. Cholodilin) davon aus, daß er möglicherweise mit dem tatarischen Fürsten Mamai verwandt war. Daß in Puschkins Adern afrikanisches Blut floß – sein Urgroßvater mütterlicherseits war der Äthiopier Ibrahim Hannibal – ist eine allgemein bekannte Tatsache.

Feine Mischungen zwischen den Hauptstämmen der Menschheit (der weißen, gelben und schwarzen Rasse) können unter Umständen geniale Menschen hervorbringen. Es mag sein, daß sie sogar zu jener Universalität des Geistes beitragen, die ein Kennzeichen solcher Genies ist.

Psychiater haben ermittelt, daß nicht alle, sondern lediglich einige Eigenschaften biologisch vererbt werden. Vererbt werden könnten rein äußerliche und temperamentsmäßige, aber auch tiefe innere, mit dem Charakter und den geistigen Fähigkeiten des Menschen verbundene Eigenschaften. Diese Beobachtung gilt ganz allgemein für neuro-psychische Erscheinungen.

Die Persönlichkeit des Menschen kristallisiert sich auf der Grundlage der gegenseitigen Beeinflussung sowie der Konkurrenz zwischen  den einzelnen Fähigkeiten sowie den verschiedenen Aspekten der Seele heraus, welche für Eindrücke aus der äußeren Welt, aber auch solche, die dem Temperament und dem Leben des Organismus selbst entspringen,  empfänglich sind und von ihnen gesteuert werden. Das Gedächtnis, das alles je Erfahrene und Erlebte speichert, geht als drittes Element der Entwicklung in ein komplexes individuelles Ganzes ein, indem es mit den beiden erstgenannten konkurriert und die Gegenwart mit der Vergangenheit verbindet. So leben sowohl der gewöhnliche als auch der geniale Mensch.

Welche schöpferischen Prinzipien waren im anthropologischen Fundament sowie im neuro-psychischen Organismus Puschkins latent vorhanden?

Puschkins Geschlecht tritt am Ende des 16. Jahrhunderts, zur Regierungszeit Iwans des Schrecklichen, ins Rampenlicht. Schon damals zeichnete es sich rühmlich aus, und unter dem Zaren Alexei Michailowitsch tat sich Grigori Gawrilowitsch Puschkin hervor, dessen Andenken seinem Nachfahren, dem Poeten, besonders teuer war. Somit spielte das Geschlecht der Puschkins schon mehr als zwei Jahrhunderte vor der Geburt des Dichterfürsten eine bedeutsame gesellschaftliche Rolle.

Zu Beginn des 18. Jahrhunderts, als die Puschkins bereits als begabtes Geschlecht bekannt waren, ging eine seiner Angehörigen, Maria Alexejewna Puschkina, die Großmutter des Poeten, den Ehebund mit Osip Ibrahimowitsch (Abramowitsch), dem Sohn Ibrahim Hannibals, ein. Dieser Ehe entsprang eine Tochter, Nadeschda Hannibal, ein Mischlingsmädchen, die Sergei Lwowitsch Puschkin ehelichte und ihm Alexander Sergejewitsch Puschkin gebar. Somit ging der Dichter aus einer gemischtrassigen Ehe hervor, und es stellt sich die Frage: Wie verbanden sich die heterogenen Bestandteile seines Charakters miteinander, wie harmonisch verlief diese Verbindung, und wie sah das Endergebnis aus? Die Antwort auf diese Frage wirft darum keine besonderen Schwierigkeiten auf, weil sich der Poet durch einen äußerst offenen und gradlinigen Charakter auszeichnete. Die hauptsächlichen Elemente und Höhepunkte seines Selbstgefühls hat er nicht nur im engen Kreis und in seinen zahlreichen Briefen offenbart, sondern auch in seinen Dichtungen.

In der anthropologischen und psychologischen Genealogie stehen die anthropologischen Fragen an erster Stelle. Auf sie hat I. E. Repin mit seinem letzten Bild hingewiesen, und auch in der Presse wird ihnen die erforderliche Aufmerksamkeit geschenkt. Welches Erscheinungsbild bot der Poet? Was für ein Temperament hatte er? Welche Auswirkungen hatte seine gemischtrassige Herkunft auf seine seelische Konstellation?

Seine Mutter Nadeschda Osipowna war die Tochter Osip Abramowitsch Hannibals und die Enkelin Ibrahim (Abram) Hannibals. Letzterer wies unverkennbare afrikanische Rassenmerkmale auf, sowohl bezüglich seiner Hautfarbe als auch hinsichtlich seiner Gesichtsform. Puschkins Mutter war die erste anthropologische Vertreterin der gemischtrassigen Nachkommenschaft, das erste lebendige Produkt der Verbindung zwischen den Sippen Puschkin und Hannibal, zwischen der weißen und der schwarzen Rasse. In bezug auf ihre Hautfarbe sowie andere physische Merkmale war sie eine typische Mischlingsfrau, und ihre gemischte Natur hat zweifellos auch ihr Seelenleben geprägt. Möglicherweise war sogar ihr Gesicht nicht ganz frei von Haaren; darauf lassen die Haarbüschel auf ihrer Stirn und ihren Wangen schließen. Doch zugleich besaß sie sämtliche Kennzeichen der weißen Rasse: Eine zarte Nase, dünne Nüstern, feine Lippen, einen auserlesen schönen Mund und eine zarte, harmonische Gesichtsmuskulatur. In jungen Jahren erfreute sie sich gesellschaftlichen Erfolgs, was vor allem auf die Originalität und Neuartigkeit ihrer natürlichen körperlichen und seelischen Eigenschaften zurückging. Diese Originalität verdankte sie der Tatsache, daß sie in sich Elemente zweier grundverschiedener Rassen, der weißen und der schwarzen, vereinigte. Trug sie letzten Endes gar noch Elemente der dritten menschlichen Hauptrasse, der gelben, in sich? Es gibt solche Fälle. Wo Menschen schöpferisch tätig sind, wo zwei Prinzipien aufeinanderprallen und im Wettstreit miteinander stehen, kann auch das dritte Prinzip unerwartete biologische Stärke gewinnen, das bisher verborgen, unterdrückt und kaum bemerkbar war, jedoch im großen Augenblick der Keimung eines neuen Lebens erwacht. Haben vielleicht auch seit Jahrhunderten im Erbgut der Geschlechter Puschkin und Hannibal verborgene Elemente der dritten Menschenrasse – der gelben – mitgewirkt, als die ersten Zellen der künftigen Mutter des Dichters entstanden? Wenn ja, konnte sich dies in ihr offenbaren, die an der Grenze zwischen verschiedenen Rassen stand. Die Frage, ob sie Trägerin eines doppelten oder eines dreifachen Rassenprinzips war, kann nachträglich einzig und allein anhand von Porträten beantwortet werden. Wenn ihre Hautfarbe lediglich von leicht bräunlicher Hautfarbe war, ist sie als Vertreterin zweier Rassen (der weißen und der schwarzen) zu betrachten; war sie hingegen nicht nur leicht dunkelhäutig, sondern eine „glühende Schönheit“, so barg sie Keime aller drei Hauptrassen der Menschheit in sich und konnte ihrem Sohn die Eigenschaften eben dieser drei Rassen mit allen materiellen und geistigen Konsequenzen vermachen. Daß Natalja Osipowna Merkmale zumindest zweier Rassen aufwies, ist unbestritten – doch in welchem Verhältnis?

Die Schöpfer der physischen und geistigen Eigenschaften Natalia Osipowas waren Maria Alexejewna Puschkin und Osip Abramowitsch Hannibal. Maria Alexejewna war eine energische Persönlichkeit, was die Frage nach dem biologischen Geschick ihrer Nachkommenschaft bereits in erheblichem Grad vorentschied – zu Gunsten der weißen Rasse. Dazu trug auch die Tatsache stark bei, daß diese Rasse die höchsten Errungenschaften gezeitigt hat. Die schwarze Rasse trat in der Figur des unbeständigen Osip Abramowitsch in den Wettbewerb ein, in dem sich seine rassische Abstammung zudem nicht nur in ihren besten, sondern auch ihren schlechtesten Zügen offenbarte. Unter diesen Umständen war der Ausgang des Wettstreits zum Vorteil der weißen Rasse gewährleistet: Nadeschda Osipowna erwies sich als anziehendes russisches Mädchen mit nur geringfügig ausgeprägten afrikanischen Zügen; in ihrer ganzen biologischen Erlesenheit war sie eine originelle Schöpfung der Natur. Aus diesem Grund barg sie bereits vom Zeitpunkt ihrer Geburt an die frische Kraft der lebenstüchtigen Kreativität.

Alexander Puschkin

Alexander Puschkin

Von besonderer Wichtigkeit für ihre Nachkommenschaft war, daß ihr Mann Sergej Lwowitsch Puschkin war, ein Angehöriger einer Sippe, die große Lebenserfahrung besaß. Im Sinne des biologischen Wettstreits zwischen der weißen und der schwarzen Rasse war dies ein neue „Hilfe“ seitens des Geschlecht der Puschkins, die bewirkte, daß der Sieg der weißen Rasse sowie der Puschkin-Sippe noch eindeutiger ausfiel. Außerdem bedeutete das Auseinandertreffen zweier Prinzipien, die sich zeitlich und artenmäßig so unähnlich sind wie nur möglich (die schwarze Rasse ist die älteste der drei, die weiße die jüngste, während die gelbe eine Mittelposition einnimmt), eine willkommene Blutauffrischung. Wenn die Mutter des Poeten nicht bloß „dunkelhäutig“, sondern eine „glutheiße Schönheit“ war, vermochte sie ihrem genialen Sohn jene anthropologische Universalität zu verleihen, die ihn so merklich von den Myriaden anderer großer Menschen abhebt. 

Das Äußere des Dichters unterscheidet sich vom vorherrschenden Typ des Puschkin-Geschlechts (namentlich des Vaters) und entspricht in mancher Hinsicht dem afrikanischen Typus, der bei ihm noch unverkennbarer hervortritt als bei seiner Mutter. Fast alle hauptsächlichen Merkmale der schwarzen Rasse sind hier vorhanden: Die geringe Körpergröße, die breiten Brauen, die sich nach außen und nicht nach innen öffnenden Nasenlöcher (vgl. das vom Maler Tropinin angefertigte Porträt), das dunkelhäutige Gesicht, die dicken Lippen, das kräftige Kinn (der Unterkiefer), die breite Mundöffnung ungeachtet des starken Willens und der ungewöhnlichen Selbstbeherrschung des Dichters. Doch zugleich hat er blaue Augen, was das klarste Kennzeichen der weißen Rasse ist. So stellt  I. E. Repin den Poeten auf seinem Bild „Puschkin beim Examen“ dar. Von der Erscheinung Puschkins auf diesem Gemälde war in der großen Presse oft die Rede, jedoch ohne wissenschaftliches Verständnis der Frage. Sämtliche auffallenden Züge seines Äußeren erhielt der Poet von Hannibal durch die Vermittlung seiner Mutter. Auf dem vom Künstler Witges angefertigten Porträt, wo Puschkin als Knabe von vielleicht sechs oder acht Jahren zu sehen ist, tritt eine afrikanische Besonderheit klar hervor: Die dicken, nach vorne gestülpten Lippen. Dieses Merkmal ist auch in späteren Jahren nicht zu übersehen, ganz besonders auf dem von Tropinin geschaffenen Bild. daß das wichtigste Kennzeichen der schwarzen Rasse, die Dolichozephalie (längliche Form des Kopfes) bei Puschkin vorhanden war, geht eindeutig aus den Seitenansichten hervor, z.B. jenen, die ihn im Grabe zeigen, und auch auf dem Bild des Künstlers Naumow erscheint Puschkin als Dolichozephaler. Nach sämtlichen anthropologischen Merkmalen, insbesondere nach der unwiderlegbar feststellbaren Skelettform, wies Puschkin sowohl im einzelnen als auch insgesamt einen afrikanischen Körperbau auf.

Der Dichter selbst hat seine afrikanischen Wurzeln nicht nur nicht geleugnet, sondern mehrfach ausdrücklich hervorgehoben. „Es ist statthaft, über das Schicksal der heutigen Griechen so zu urteilen wie über das Geschick meiner Brüder, der Neger“, schrieb er. „Man darf den einen wie den anderen Freiheit von der Sklaverei wünschen, doch daß aufgeklärte Nationen für sie schwärmen, ist eine unverzeihliche Kinderei.“ Unter Hinweis auf seine teils afrikanische Abstammung lehnt er es ab, eine Gipsbüste von sich anfertigen zu lassen. „Dann wird meine arabische Mißgestalt der Ewigkeit übergeben werden“, begründete er diese Weigerung (Brief an seine Frau vom 16. Mai 1836).

Somit legen das Äußere des Poeten und seine anthropologische Konstitution unleugbar Zeugnis von seinen afrikanischen Eigenschaften ab. Doch die Augen (d.h. das Pigment der Regenbogenhaut) sind hell und nicht schwarz oder auch nur dunkel oder braun; seine Hautfarbe ist leicht bräunlich, aber nicht eigentlich dunkel und auf keinen Fall afrikanisch. Folglich kann man von einer gemischten Abstammung sprechen. Sämtliche Völker der Erde sind in mehr oder weniger hohem Grad gemischt; es gibt keine absolut reinen Rassen. Selbst die Juden, die doch alles in allem ein anthropologisch geschlossenes Bild abgeben, haben sich seit alter Zeit vermischt (es gibt schwarze und rothaarige Vertreter des jüdischen Volkes). Die Rassen der Zukunft, sagt Quatrefages, werden sich infolge von Kreuzungen blutsmäßig weniger voneinander unterscheiden und einander ähnlicher sein. Die Japaner sind ein typisches Beispiel einer gemischten Rasse, rinnt in ihren Adern doch das Blut der drei Großrassen – der schwarzen, der gelben und der weißen. Diese Rassen haben sich der Reihe nach auf den japanischen Inseln niedergelassen, nebeneinander gelebt, sich nach und nach miteinander vermischt. Der Vermischungsprozeß ist bei ihnen noch längst nicht abgeschlossen: Neben bartlosen Vertretern der gelben und schwarzen Rasse leben in Japan reinblütige Abkömmlinge der weißen Rasse (die Ainus) mit stark behaarten Gesichtern und gewaltigen Bärten (einem typischen Rassenmerkmal der Weißen). Quatrefages nennt sie „Russen aus der Gegend um Moskau“.

Die geistigen Eigenschaften gemischter Rassen und individueller Mischlinge tragen den Stempel ihres früheren biohistorischen Schicksals. Die Talentiertheit der Japaner erklärt sich nach dem allgemeinen Urteil der Anthropologen (H. ten Kate) in erster Linie mit dem weißen Blut, das in ihren Adern fließt.

Das Geschick des größten russischen Dichters ist in jeder Hinsicht das Geschick der Menschheit. Seiner weißen Hautfarbe und seinen hellen Augen nach zu urteilen ist er ein weißer Mensch im rassischen Sinne des Wortes. Freilich hat auch das schwarze Element in ihm sein Machtwort gesprochen, und dieses hat sich vor allem auf die äußere Erscheinung des Poeten ausgewirkt. Was seine inneren Qualitäten betrifft, d.h. seine psychische Natur, so ist der zuvor angeführte Ausspruch der Psychiater von seinem doppelten Erbe berechtigt: Von der schwarzen Menschheit hat er einige äußere Züge sowie Instinkte ererbt, während alle wesentlichen Eigenschaften, insbesondere die höheren, auf das Erbe des russischen Zweigs der weißen Rasse zurückgehen. In diesem Zusammenhang entstammen die individuellen Züge des Dichters zwei Quellen. Die Ungezügeltheit seiner Natur, die jähe Impulsivität seiner Entscheidungen und Handlungen (Ausdrucksformen „genialer Urteilslosigkeit“), seine Maßlosigkeit, seine stürmischen Instinkte beim Freien, bei Gelagen, bei     Streitigkeiten, bei Duellen – all dies stellt einen Tribut an das schwarze Blut dar. Hierzu gehören auch jene „Vergnügungen“, die der Poet „lasterhafte Verirrungen“ nennt; schon beim zwanzigjährigen Jüngling ruft die Erinnerung an diese Dinge eine klare, tiefe und reife Reaktion hervor; er bedauert zu Recht, daß er um dieser „Verirrungen“ willen „sich selbst, seine Ruhe, seinen Ruhm, seine Freiheit und seine Seele geopfert hat“ (Pogaslo dnjevoje svetilo“ [„Erloschen ist der Sonne Licht“]).

Dieses einem edlen Geist fremde, wilde, instinktive Prinzip, das mit seiner künstlerischen Natur ganz und gar unvereinbar ist, bemächtigte sich seiner wie eine fremde, nicht zu bändigende Kraft des Blutes zeitweise vollständig. Dieses instinktive „afrikanische“ Prinzip in seiner unverfälschten, urtümlichen Erscheinungsform treffen wir jenseits des Ozeans als fremdes Element inmitten der weißen Bevölkerung der Vereinigten Staaten, wo die wilde Wollust und die aggressive Sexualität der Neger jeden näheren Kontakt mit einem solchen für weiße Frauen brandgefährlich macht. Getrennte Wagen in den Eisenbahnzügen, getrennte Säle in den Gasthäusern, und die immer nachhaltigere Absonderung der weißen von den Schwarzen – all dies läßt durchaus nicht nur auf den Geruch der Neger oder ihre Hautfarbe erklären, sondern in weit höherem Maß durch die Gefahr ihres wilden Instinkts, gegen den sich die der kultivierte Amerikaner nicht bloß durch Pogrome und Lynchjustiz zur Wehr setzt. In der idealen, künstlerischen Seele des großen Dichters lebte dieser urafrikanische Instinkt in freilich stark abgemilderter Form weiter wie ein Parasit, der ihn auch dann nicht verließ, als er älter und reifer geworden war und seine Seele mit einer Eifersucht umnebelte, die eines Othello würdig gewesen wäre und aller Wahrscheinlichkeit nach eine verhängnisvolle Rolle bei den Ereignissen spielte, die zum für Puschkin tödlichen Duelle führten.

Das afrikanische Prinzip im Blut und in den Nerven des begnadeten Poeten, welches ihm die eben erwähnten wilden, rein instinktiven Eigenschaften verlieh, hat ihn jedoch gleichzeitig um eine wertvolle Gabe bereichert, die in psychischer Einheit mit den Elementen des weißen Prinzips zur Schaffung jener scharfen Beobachtungsgabe beitrug, welche dem Dichter eigen war. Diese Beobachtungsgabe entsprang physiologisch der Lebendigkeit und Schnelligkeit seiner Bewegungen, jener psycho-reflektorischen Schärfe der organischen Reaktionen, die dazu führten, daß der Dichter von unermüdlicher Energie, behend zu Fuß, ein ausgezeichneter Schwimmer sowie ein forscher Reiter, Turner und Fechter war. Zu all diesen Aktivitäten besaß er eine natürliche Neigung. Hand in Hand mit diesen urwüchsigen afrikanischen Eigenschaften besaß er aber eine feine weiße Kulturseele, die seine Zugehörigkeit zum alten Adelsgeschlecht der Puschkins widerspiegelte. Alle vorhergehenden Generationen der Puschkin-Sippe hatten diese große Persönlichkeit vorbereitet; sie verliehen ihm ihre Eigenschaften und sorgten dafür, daß das afrikanische Prinzip nur eine Nebenrolle spielte. Diese komplexe biologische Konstellation verlieh den Wahrnehmungsprozessen des Dichters eine erstaunliche Vollkommenheit. Mit derselben wilden, elementaren Leichtigkeit, mit der Puschkin schwamm und focht, fing er auch die flüchtigsten Eindrücke auf. Wie die Schwalbe im Flug mit unnachahmlicher Fertigkeit eine Mücke erhascht, verblüfft Puschkin mit seiner erstaunlichen Gabe der feinen Wahrnehmung von sowohl äußeren als auch inneren Eindrücken. Von zentraler Bedeutung sind hier die Geschwindigkeit, mit der die Sinnesorgane – die Augen, die Ohren – reagieren, sowie die Schnelligkeit der psychischen, oder besser gesagt psychophysischen Wahrnehmungen. Nicht die Arbeit der Muskeln, des Körpers spielt hier die entscheidende Rolle, sondern die psycho-reflektorische und die seelische. Manche Pädagogen klammern sich bei der Beurteilung dieser Phänomene bis zuletzt an veraltete psychologische Begriffe und beharren stur darauf, daß die Entwicklung des Ohrs, des Auges, der Hand etc. das Entscheidende sei. In Wahrheit sind bei der Wahrnehmung von Eindrücken durchaus nicht Auge, Ohr und Hand maßgeblich, sondern der mit diesen Körperteilen verbundene Psychoreflex und Psychismus. Die Begegnung mit der äußeren Welt, das Erhaschen eines Eindrucks sowie dessen Wahrnehmung (wie es in der Psychologie heißt) erweist sich als jenes ungeheuer wichtige System psychophysischer Prozeduren, welches dem Betreffenden unzählige Vorteile beschert. Wenn sich dieses System durch die technischen Eigenschaften eines feinen Apparats auszeichnet, sind die Folgen Legion. Bei Puschkin legte die Wahrnehmung der äußeren und inneren Welt Zeugnis von einer solchen künstlerisch feinen Konstellation ab, die man, wenn diese Parallele statthaft ist, mit der Funktionsweise eines Seismographen vergleichen könnte, der Erdbeben noch auf eine Entfernung von Tausenden von Kilometern registriert. Im folgenden werden wir eindrückliche Beispiele dafür anführen, welche das System der inneren Wahrnehmungen bei Puschkin veranschaulichen. Diese Wahrnehmungen erfordern eine noch größere physiologische Feinheit des nervlichen Mechanismus als die Wahrnehmungen äußerer Erscheinungen, und die diesem Gebiet entnommenen Beispiele lassen die wunderbare Feinheit und Genauigkeit der physiologischen Mechanismen im Gehirn dieses genialen Menschen noch klarer hervortreten.

Die zeitgenössische physiologische und experimentelle Psychologie mißt den Prozessen der Wahrnehmung größte Bedeutung bei und unterscheidet sich dadurch von der bis vor nicht allzu langer Zeit vorherrschenden Auffassung, wonach diese Faktoren eine vernachlässigbare Rolle spielen und das Schwergewicht statt dessen auf andere psychologische Akte geistiger und abstrakter Natur legten. Seit kurzem sehen die Psychologen diese Frage in neuem Licht; anhand der genialen Seelenkonstellation Puschkins läßt sich diese neue Betrachtungsweise leicht demonstrieren. Die Wahrnehmungsapparate und der Mechanismus, nach dem sie funktionieren, treten bei Puschkin mit dermaßen phänomenaler Klarheit hervor, daß man ihm als Träger eines einzigartigen Gehirnapparates unbedingt den ersten Rang unter den Menschen zubilligen muß. Seiner Begabung nach steht er mit Shakespeare und den Verfassern der Ilias auf einer Stufe, und er starb vor der vollen Entfaltung seiner titanischen Geisteskräfte!

Heute definieren die Psychologen den Begriff „Wahrnehmung“ klarer und umfassender, als dies noch unlängst der Fall war. Diese Entwicklung vollzog sich unter dem Einfluß experimenteller Forschungen in psychologischen Laboratorien mit Hilfe eines Instruments, das man als Taxistoskop („Schnellseher“) bezeichnet. Dieses Instrument dient zur Bestimmung der Bedingungen sowie des eigentlichen Vorgangs der Wahrnehmung. Mit Hilfe des Taxistoskopen kann man sich davon überzeugen, daß jedwede Wahrnehmung das Potential der im Gedächtnis gespeicherten Akte erhöht und sie dadurch dem Moment der Erinnerung näherbringt. Dadurch erfolgt die Erinnerung leichter und früher, je nach der lebendigen Tätigkeit der Wahrnehmung. Und diese Tätigkeit unterschied sich wie gesagt bei Puschkin durch ihre phänomenale Schärfe und Kraft, dank einer segensreichen Kombination von Faktoren seines gemischtrassigen Erbes.

Über die afrikanischen Gaben, welche die Natur in die Seele Puschkins einbrachte, wäre hiermit alles gesagt. Alles Übrige läßt sich mit jenem Puschkinschen Steckreis erklären, der von Maria Alexejewna Puschkina, die der Welt die Mutter des Dichters schenkte, auf den afrikanischen Wildling aufgepfropft wurde.

Von besonderer Bedeutung ist hier der Umstand, daß der Vater des Dichters, Sergej Lwowitsch Puschkin ebenfalls ein Vertreter des Puschkin-Geschlechts war. Durch ihn verband sich seine Sippe abermals mit derjenigen Hannibals, d.h. es erfolgte eine erneute Zufuhr Puschkinschen Blutes in das gemischte Geschlecht Puschkin-Hannibal. Dies verlieh der Schöpfungskraft der Puschkins einen neuen, starken Auftrieb auf Kosten der Hannibals. In diesem Punkte ist die Genealogie Puschkins von ganz besonderem Interesse.

Die Sippe der Puschkins war bereits sehr alt, und dieser Tatsache wohnt eine erhebliche biologische Bedeutung inne. Die französischen Anthropologen haben das biologische und psychologische Schicksal einer Anzahl von Geschlechtern untersucht, wobei sie in der Gegenwart begannen und bis zu siebenhundert Jahre in die Vergangenheit zurückgingen. Puschkin, der an seiner Genealogie lebhaft interessiert war, nennt sich einen Adligen von sechshundert Jahren (Brief an A. A. Bestuschew vom April 1825); in einem weiteren Schreiben an denselben Empfänger (vom Dezember 1825) gibt er sein Alter noch höher an. Allein schon dieses hohe Alter deutet auf das gesunde Nervensystem und die biologische Beständigkeit der Sippe hin. Diese ist weder entartet noch ausgestorben und hat nicht bloß überlebt, sondern auch seine physiologischen und geistigen Qualitäten unerschütterlich bewahrt. In dieser langen Folge von Generationen gab es keine Degeneraten und Verbrecher: Der unter Peter dem Grossen hingerichtete Puschkin war nicht wegen eines kriminellen Delikts, sondern wegen seiner eigenwilligen Ansichten zur Machtfrage zum Tode verurteilt worden. Besonders wichtig ist jedoch, daß die Sippe der Puschkins sich seit ferner Vergangenheit (seit der Zeit Alexander Newskis) durch die persönlichen und gesellschaftlichen Tugenden seiner Angehörigen auszeichnete; dies wurde zur biologischen Tradition, die im Blut und den Nerven festgeschrieben war. Mit seinem lapidaren psychologischen Radikalismus schrieb Puschkin in einem Brief an Bestuschew: „[Generalgouverneur] Woronzow stellte sich vor, ein russischer Dichter werde sich mit einer Widmung oder einer Ode in seinem Vorzimmer einfinden, doch dieser stellte sich mit der Forderung nach jener Achtung ein, die einem sechshundertjährigen Adligen gebührt. Ein höllisch großer Unterschied!“ „Du bist erbost, weil ich mich meiner sechshundertjähriger Zugehörigkeit zum Adel rühme“, hielt er in einem weiteren Brief an denselben Empfänger fest und fügte hinzu: „Meine Zugehörigkeit zum Adel ist in Wirklichkeit noch älter.“

In seinem lyrischen Werk Mein Stammbaum oder ein russischer Kleinbürger weist Puschkin auf sein hauptsächliches Rassenmerkmal hin – seine alte russische Abstammung. Anschließend schildert er die psychischen Vorzüge des Puschkin-Geschlechtes: Talent und geistige Unabhängigkeit. „Bei uns war mehr als einer berühmt, doch der Geist der Hartnäckigkeit war uns allen eigen.“ Nach der Einschätzung des Poeten waren alle Puschkins, er selbst nicht ausgenommen, während der viele Jahrhunderte währenden Existenz ihrer Sippe talentiert, unabhängig, unbezähmbar standhaft und zugleich Träger und Überlieferer von Moral, Untadeligkeit und Reinheit.  Diese Vorzüge und diese Beschaffenheit des seelischen Lebens sind keine Zufälligkeit und keine unbegründete Laune des Schicksals, sondern die Frucht ununterbrochener und rastloser Bemühungen der Sippe. Welches Los den neugeborenen Menschen auf Erden erwartet, hat Pomjalowski mittels künstlerischer Aphorismen ausgedrückt: „Schlägt man das Kind auf den Kopf, so wird aus ihm ein Dummkopf, auch wenn es nicht als solcher geboren wurde; erzieht es ein Tanzmeister, so wird aus ihm eine Puppe; nährt man es mit gestohlenem Geld, so wird auch dies seine Folgen haben.“ Im talentierten Geschlecht der Puschkins war jeder seiner Angehörigen gegen solche physischen und moralischen Zufälligkeiten gefeit: Das wache Programm des Lebens, die der Poet in seinem oben erwähnten Gedicht so treffend schildert, hat  verhinderte solche Entgleisungen stets verhindert. Dieses streng befolgte und sieben Jahrhunderte lang von Generation zu Generation weitergegebene Programm wurde schließlich zur erblichen Familientradition und -praxis und erhielt dadurch biologische Dauerhaftigkeit – jene Dauerhaftigkeit und Beständigkeit, die zur genetisch verankerten, kostbaren Gabe der Ahnen wurde. An solchen Gaben sind die Russen und die Engländer reich, und dies verleiht ihnen seelische Beharrlichkeit bis hin zur Unbändigkeit. Eine solche Beharrlichkeit darf nicht mit Konservativismus oder biologischer Erstarrung verwechselt werden, sondern ist ein Instinkt höherer Ordnung, dank dem alle psychischen Neuerungen und Neuerwerbungen, sofern sie sich als nützlich erwiesen haben, mit derselben Kraft und Unerschütterlichkeit bewahrt werden wie das Leben selbst. Die Bedeutung der psychischen Neuerungen einzuschätzen und sie zu verteidigen, solange sie noch schwach und unbeständig sind, ist ein Merkmal des Talents einer Sippe und kündet die Möglichkeit der Erscheinung eines genialen Menschen in ihrem Schosse an. Eben dies geschah in der sechshundert Jahre alten Sippe der Puschkins. Sie fühlte instinktiv, was sie tat und wohin ihr Weg ging. daß sie einen großen Dichter hervorbrachte, war kein Zufall! Er war Fleisch vom Fleisch seines Puschkin-Geschlechts, und seine Nervenzellen waren die seiner Sippe. Das afrikanische Aroma, das dem Familienbestand beigegeben wurde, verlieh dieser moralisch unerschütterlichen Sippe Salz und Pfeffer und spielte dabei die Rolle eines Hilfs- und nicht eines Hauptprinzips.

Die edle Natur des Dichters läßt sich durchaus nicht in den Rahmen seiner Nationalität allein zwängen. Er reicht, um es in der Sprache des Dichters selbst zu sagen, weit über diesen hinaus. Doch um so teurer und kostbarer ist die Persönlichkeit des Poeten, die auf einer universalen Höhe steht und der ganzen Menschheit gehört. Sein unmittelbares nationales Prinzip ist in das Netz eines allgemeinmenschlichen Psychismus eingewoben. Im Fluß seiner Seele und ihrer Wege schwingt sich das nationale Genie Rußlands zu allgemeinmenschlichen Idealen auf, während sich die Menschheit durch seine Seele ihrerseits der russischen Seele als einer ihrer zahlreichen Wurzeln nähert. Grosse Menschen wie Puschkin schaffen einen internationalen oder allgemeinmenschlichen Psychismus, der für alle Angehörigen des Menschengeschlechts gleichermaßen wertvoll ist. Dafür muß man freilich jene Universalität des Geistes besitzen, die den Menschen allem Grossen und allem wahrhaft Menschlichen gleich nahe bringt. So war Puschkin.

Vom anthropologischen Standpunkt aus gesehen beeindruckt bei Puschkin vor allem sein gewaltiges Denkorgan, das in ein ungeschlachtetes und nicht sonderlich schönes afrikanisches Futteral eingebettet war. In einem typisch afrikanischen Schädel und Leib saß ein Gehirn von allerhöchster Qualität, wie es nur den am weitesten entwickelten Vertretern des Menschengeschlechtes eigen ist. Mit besonderer Eindringlichkeit tritt eine spezifische Seite Puschkins zutage – seine unübertreffliche Fähigkeit der Wahrnehmung, verbunden mit einem ebenso unübertrefflichen Gedächtnis. Wenn Puschkin irgendeinen Eindruck empfing, also irgend etwas sah, hörte etc., ging dies bei ihm mit verschiedenen Erinnerungen Hand in Hand, die einen ihm bekannten, wenn auch manchmal nur ganz entfernten Zusammenhang mit dem neuen Eindruck aufwiesen. Im Prinzip ist dies natürlich eine gewöhnliche psychologische Erscheinung und allen Menschen gemeinsam: Eindrücke lösen stets Erinnerungen aus; gerade hierin besteht der ganzheitliche Akt der Wahrnehmung. Doch Umfang und Grad solcher Erinnerungen können bei verschiedenen Menschen höchst unterschiedlich sein. Manchmal sind die Erinnerungen so spärlich, daß der Eindruck fast isoliert bleibt und auf den Grund der Seele absinkt, um dort für immer zu ertrinken. Manchmal sind die Erinnerungen zahlreicher, doch sind sie so lose miteinander verbunden, daß der Betreffende mitunter beinahe Verwunderung darüber empfindet, daß er sich dieser oder jener Sache überhaupt entsinnt. Puschkins Geist war anders. Bei ihm rief jeder in die Seele eingedrungene Eindruck eine solche Masse von Erinnerungen wach wie bei kaum einem anderen bekannten Schriftsteller; in dieser Hinsicht übertrifft Puschkin wahrscheinlich sogar Shakespeare, der in anderen Punkten seines großen Geistes ein unerreichbares Genie ist und bleibt. Wenn wir uns das Denkorgan eines Menschen wie einen Wasserbehälter vorstellen (der Vergleich stammt vom amerikanischen Psychologen James), in den man ein Steinchen wirft, so entsprechen die hierdurch ausgelösten Wellen dem Prozeß der Erinnerungen. Die Wellen nehmen bald an Intensität ab, werden breiter, ausgefächerter und schwächer. Puschkin besaß einen seelischen Ozean, der aus einer so feinen, ätherischen und beweglichen Masse bestand, daß ein in diese geworfener Eindruck diese ganze unermeßlich große Masse in ihrer vollen Breite, Tiefe und Weite aufwühlte und eine unübersehbare Menge geistiger Bilder heraufbeschwor, die seinem schöpferischen Sinn zu Diensten waren. Die in ihm aufwallenden Erinnerungen waren nicht nur Bilder seines Gedankens, sondern auch seiner Gefühle sowie eine Unzahl von Willensäußerungen. Aus dem geringfügigsten Anlaß geriet der ganze unermeßliche Ozean der Seele Puschkins in Bewegung, vom Gipfel seines Psychismus bis hin zu den untersten Schichten und den finstersten Tiefen. Alles wurde mit Leben erfüllt und ins Laboratorium seiner schöpferischen und denkerischen Tätigkeit versetzt. Die Gedankenwellen in der Seele Puschkins verbreiteten sich jeweils sehr weit, ohne unterwegs abzuebben oder schwächer zu werden. Dies ist der Grund dafür, daß seine Erinnerungen stets ungemein farbig, effektvoll und von erstaunlicher Frische und Neuheit sind. Es reicht, die ersten Zeilen von Ruslan und Ludmilla zu lesen, um sich von der Klarheit, dem Glanz und der Einfachheit des Stroms der Denkbilder des Poeten zu überzeugen sowie von der Freiheit, mit der die einzelnen Bilder ineinander übergehen, als sei das Gehirn des Dichters ein idealer Apparat, bei dem keine Spur von Anstrengungen, Stockungen, Reibungen oder Belastung erkennbar ist. Unter diesen Umständen fällt die Wahl der Rhythmen leicht, und nichts verrät, daß seine Schöpfung dem Dichter harte Arbeit abverlangt hat. Er vermittelt nicht bloß das, was beim Gang seiner Gedanken vor ihm steht, sondern auch das, was sich am Wegesrand oder gar irgendwo in der Ferne befindet. Darum verläuft der Strom der Gedanken bei ihm zwar völlig natürlich, doch stets unerwartet, so daß jedermann Erstaunen empfindet, der seine Verse, seine Prosa, seine Briefe oder Aufzeichnungen liest. Hier einige Beispiele.

Der Dichter sieht sich genötigt, einen Freund, dem er Geld geliehen hat, an seine Schulden zu erinnern. Dabei nimmt er den Schuldner, bildlich ausgedrückt, liebevoll und zärtlich bei der Hand und führt ihn zunächst weit weg von sämtlichen leidigen Geldangelegenheiten, doch plötzlich bringt er ihn mit entwaffnender Natürlichkeit und Logik auf gewundenem und schmalem, aber kurzem Weg zum gewünschten Ziel. Dabei baut der Zauberer von einem Dichter die ganze Szene so auf, daß der Schuldner anfangs nichts ahnt, ihm jedoch schließlich nichts anderes mehr übrigbleibt, als zu lachen und zu zahlen. Der betreffende kurze Brief hat folgenden Wortlaut:

Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie so liebenswürdig wären, die 500 Rubel, die Sie mir schulden, nicht mir, sondern Herrn Nazimow zu übergeben. Ihr sehr ergebener A. Puschkin.

Dies ist kein Kunstgriff, keine List, kein Hokuspokus: Der Dichter ersinnt, oder besser gesagt findet, in der unerschöpflichen Vorratskammer seines Gedächtnisses ein passendes kleines Bild, ein zwar seltenes, aber nichtsdestoweniger reales Modell des Verlaufs der Ereignisse, und beschreitet dann diesen Weg, indem er den Gesprächspartner oder Leser mit sich führt.

„Du bist wirklich unausstehlich“, schreibt er Pletnew (am 11. 4. 1831), „keine einzige Zeile darf man von Dir erhoffen. Bist Du etwa gestorben? Wenn Du nicht länger auf dieser Erde weilst, dann, verliebter Schatten, grüsse Derschawin von mir und umarme meinen Delwig. (Delwig hatte geheiratet und war in der allegorischen Ausdrucksweise des Dichters damit gestorben.) Solltest Du aber noch am Leben sein, dann antworte doch um Gottes willen auf meine Briefe. Soll ich zu euch fahren oder in Zarskoe Selo bleiben oder daran vorbeireiten etc.

Bei der Reichhaltigkeit und Fülle der aus der Erinnerung geschöpften Bilder, deren sich der Dichter bedient – wenn er denkt -, muß er das wählen, was für ihn unentbehrlich ist, und alles Schwächere oder am Rand seines geistigen Weges Stehende wegwischen. So geht auch der Durchschnittsmensch vor, und deshalb gerät der Durchschnittsmensch beim Denkprozeß bisweilen ins Stocken und vollzieht eine geistige Sortierung (wie dies auch I. S. Turgenjew eigen war). Doch bei Puschkin gibt es keine schwächeren Denkelemente, und was am Wegesrande oder in der Ferne steht, ist für ihn stark und klar wie das vor ihm Befindliche. Deshalb trägt er wie ein Kind alles in seiner Seele; er vermag restlos alles zu erfassen und geschickt in seinem kostbaren Handgepäck unterzubringen. Hier seine Antwort auf einen Brief Wjasemskis:

“Mein Lieber, Du hast befohlen, dir Gedichte für irgendeinen Almanach zu schicken (zum Teufel mit ihm!). Hier hast du ein paar Epigramme; ich besitze jede Menge davon, such dir die unschuldigsten aus.“ Natürlich hält Puschkin für einen lieben Freund ein Zückerchen bereit. Er erfüllt ihm den Wunsch gerne, aber dennoch rührt sich ein Atom Unzufriedenheit in seiner Seele, und er macht seinem gedämpften Ärger mit einem Ausfall gegen den Almanach Luft. Nicht durch Streichung oder Beschneidung kürzt der Gedankenkünstler seine Gedanken, sondern mit einer geschickten und kunstvollen Vereinigung, nicht mittels Verkürzung.

 Hierdurch läßt er die unausgesprochene Fülle seiner Seele erahnen, und der Leser lernt weit breiter denken, als dies möglich scheint, indem er, wie der Dichter, sein geistiges Gepäck geschickt unterbringt, wie man dies auf einem Schiff zu tun pflegt. Das Bündelchen oder Köfferchen scheint auf den ersten Blick nicht viel zu enthalten, aber in ihm findet sich alles Nötige. In dieser Hinsicht ist Puschkin ein erstaunliches psychisches Modell. In seiner unerreichten Kunst, Dinge nebeneinanderzustellen und unterzubringen, packt er kühn derart gewaltige und gefährliche Objekte des Gedankens, des Gefühls und des Willens an, daß es bisweilen so scheint, als verfange er sich, stoße an, taumle oder versinke – doch nichts desgleichen: er schreitet leicht und frei einher und verblüfft jedermann mit seiner Kunst. Hier ein Beispiel: „Baron, mein Freund“, schreibt er an Delwig, „ich schmolle dir nicht und entschuldige dein langes Schweigen großmütig mit deiner Eheschließung. Zum Teufel mit eurer Heirat, der Teufel soll eure Heirat holen. Wenn meine Freunde heiraten, ist ihnen zum Lachen zumute und mir zum Heulen, doch so ist es eben: Der Apostel Paulus schreibt in einem seiner Briefe, es sei besser, sich eine Frau zu nehmen, als zur Hölle und ins ewige Feuer zu gehen – ich umarme und grüsse dich, empfehle mich der Baronin Delwig.“ Der Dichter beginnt diesen Brief also kühn mit dem Eingeständnis, daß ihn seine Freunde verraten, weil er ihre Liebe mit der zu ihren Frauen teilen muß. Er verbrennt gewissermaßen das Schiff hinter sich, verkündet er doch lautstark, daß ihm ein solches Verhalten wehe tut, und schimpft darüber, daß seine Freunde heiraten, ohne sich auch nur im geringsten darum zu scheren, was ihre Frauen denken mögen. Eine solche poetische Dreistigkeit, einen solchen gedanklichen Überfall begeht der Poet darum, weil er zwar eine gewisse Bitterkeit über den Verrat seitens der Freunde empfindet, doch zugleich voll freundschaftlichen Glücks und freundschaftlicher Freude ist. Letzteres Gefühl kaschiert er allerdings delikat vor dem Freund, indem er sich hinter dem dünnen Rauchvorhang eines Zitats aus einem Apostelbrief verbirgt. Dies alles ergibt eine unvergleichlich reiches Spektrum psychischer Akte, die er in einem freundschaftlichen Brief offenbart, verbunden mit einer seltenen, schamhaften Zurückhaltung, die ihn dazu zwingt, sich abzuwenden und in den Schatten zu treten, dem engen Umgang mit den Neuvermählten zu entsagen; er begnügt sich damit, ihnen seine herzlichen Grüsse und Glückwünsche auszusprechen wie eine Amme, die ihren Zögling ja schelten und auszanken mag, ihm in Wirklichkeit jedoch grenzenlose Liebe entgegenbringt. In seiner Kunst amüsiert sich der Poet, indem er zugleich mit einer ganzen Reihe von Kugeln und Blumensträußen aus Gefühlen und Gedanken spielt, die er vor dem Beobachter erhascht, um sein Auge zu erfreuen und sein Herz mit einem Schwarm fliegender Figuren zu erwärmen, hinter denen der Zauberkünstler – der Dichter – nicht sichtbar ist.

Eine solche psychologisch-künstlerische Prägung trägt der folgende Brief an Wjasemski: „Wjasemski, mein Engel, oder mein Lebkuchen Wjasemski, ich habe den Brief deiner Frau mit deinem Vorwort erhalten. Ich danke euch beiden und fahre zu euch und erreiche mein Ziel nicht. Welches? Man versucht mich wie einen Gaul zuschandezureiten. Ich erkläre es später… Von überall habe ich Briefe bekommen, und ich beantworte alle. Adieu, couple si étourdi en apparance. Leb wohl, Fürst Wertoprach und Fürstin Wetroprachina. Leb wohl, Fürst Luftikus, richte der Fürstin Wetrona meine Grüsse aus. Du siehst, mir fehlt bereits die mir sonst eigene Einfachheit beim Briefeschreiben.“

In dem eben zitierten Brief kommen eine warme freundschaftliche Nähe sowie die Lust zum Ausdruck, sich selbst und den Freund zu erheitern. Im folgenden Brief schimmern ebenfalls Zärtlichkeit und Liebe durch, doch der allgemeine Hintergrund der Stimmung des Dichters ist anders, was sich durch das Alter der Frau erklärt, an die der Brief gerichtet ist.

Die durch den Altersunterschied bewirkte moralische Ausgangslage der Beziehungen ist anderer Art. Das hier uneingeschränkt herrschende Grundgefühl ist die Ehrfurcht. Der Dichter verleiht dem freien Spiel seiner Gedanken, mittels welcher er sich in seinem Unglück trösten und die Angeschriebene erheitern will, eine zärtliche Prägung. „Jetzt sind Sie wahrscheinlich schon in Twer“, schreibt er an die Osipowa. Ich wünsche Ihnen, daß Sie ihre Zeit fröhlich verbringen, doch nicht so fröhlich, daß Sie Trigorskoje ganz vergessen, wo wir nach der Trauer über die Trennung von Ihnen schon wieder auf Sie zu warten... Ich ziehe Ihren wundervollen Garten und das schöne Ufer der Sorota Peterburg vor; Sie sehen, daß mein Geschmack noch poetisch ist, trotz der nördlichen Prosaik meiner gegenwärtigen Existenz. Es ist wahrhaftig weiser, Ihnen zu schreiben, als Poet zu sein.“

   In jenen Fällen, wo der Dichter sich in einem Zustand der Unzufriedenheit oder Gekränktheit befindet, wird er unnachahmlich giftig und sarkastisch. Ein beredtes Beispiel hierfür legt die klassische Szene seines Gesprächs mit dem Gendarmeriechef Benkendorf aus Anlaß seiner ätzenden Verse zum Thema „Die Genesung des Lukull“ ab – eine Szene, die Benkendorf in maßlose Verwunderung versetzte und die der Poet selbst mit klassischer Schlichtheit und Objektivität geschildert hat. Er errang einen glänzenden psychologischen Sieg über den Polizeichef und seinen Feind, den Minister, der Klage gegen ihn eingereicht hatte, indem er beide als Dummköpfe dastehen ließ, und schloß die Szene mit einem blendenden logischen Feuerwerk ab: „Melden Sie dies seiner Majestät dem Kaiser.“

Ähnlichen Charakter trägt eine kurze satirische Bemerkung über die Menschen: „Ich werde Ihnen sehr verpflichtet sein“, schrieb er an F. W. Bulgarin, „wenn Sie in Ihren ‚Blättern’ die beiden beigelegten Stücke veröffentlichen. Sie wurden im Polarstern mit Fehlern abgedruckt, weshalb sie keinerlei Sinn enthalten. Bei den Menschen ist dies nicht weiter schlimm, doch Verse sind keine Menschen. Mit vorzüglicher Hochachtung...“

 In allen hier angeführten Auszügen tritt eine Besonderheit der Natur unseres Dichters klar zutage: Die ungewöhnliche Komplexität der psychischen Erlebnisse, zu denen er fähig ist. In seiner Seele verbanden sich elementare und vielschichtige Zustände immer und immer wieder und türmten sich zu für den normalen Sterblichen unersteigbaren psychischen Pyramiden. All dies vollbrachte er mit feenhafter Leichtigkeit, die sogar seine Kritiker, darunter Pisarew, betörte. Sie sahen in Puschkin einen großen Ästheten des Wortes, einen brillanten Vertreter der erlesenen, flüssigen, leichten, freien, meisterhaften Rede. Naiv wähnten sie, es gehe ihm um den Glanz und die Schönheiten der Form und nicht um den Reichtum und die Fülle des Inhalts. Sie vermochten in diesem großen Menschen den künstlerischen Aufbau des psychischen Organs,  der allein schon ausreichte, um Puschkin zu einem in seiner künstlerischen Perfektion und Fülle beispiellosen Wunder der Natur zu machen, nicht zu erkennen oder zumindest nicht richtig einzuschätzen. Mit seinen Scherzen, seiner Fröhlichkeit, seiner scharfen Zunge maskierte der Poet seine unermeßlichen psychischen Qualitäten und sein zutiefst künstlerisches, moralisches Antlitz, wobei er sich dabei von instinktiven kulturellen Postulaten leiten ließ – seinen ganze geistige Größe nicht zeigen; kleiner und kürzer erscheinen, als man ist. Selbst wo es sich notwendig wäre, einen festen Standpunkt einzunehmen, härter und kompromißloser zu sein, zwingt ihn seine Natur dazu, milde und scherzhafte Formulierungen zu wählen. Beispielsweise schreibt er in einem Brief, in dem er Anweisungen bezüglich des Drucks eines Buchs sowie der literarischen Arbeit erteilt: „Bruder Leo! Verärgere die Journalisten nicht! Es ist dies eine schlechte Gewohnheit. Bruder Pletnew, schreib keine positiven Kritiken! Sei bissig und hüte dich vor Süßholzgeraspel. Verzeiht mir, Kinder! Ich bin betrunken.“ Hiermit erweist sich Puschkin nicht bloß als großer Meister des Wortes, als der er sich üblicherweise darbietet, sondern als gewaltiger Meister des Geistes. Dieses Instrument beherrschte er so virtuos wie kein anderer. Nicht nur seine Rede ist künstlerisch; künstlerisch ist auch seine ganze seelische Struktur und Veranlagung. Er spricht und schreibt nicht bloß schön, sondern auch seine Gefühle sind breit und voll, seine Gedanken hell und scharf, sein Wille stark, und all diese einzelnen Seiten seiner Seelenstruktur sind ungewöhnlich harmonisch miteinander abgestimmt und erzeugen dadurch die Illusion natürlicher Leichtigkeit und Freiheit; man gewinnt den irrigen Eindruck, das dichterische Schaffen koste ihn nicht die geringste Mühe, obwohl er diese natürlichen Gaben seiner Seele künstlerisch ausgefeilt und vervollkommnet hat. In den großen Augenblicken seines Lebens trat diese Besonderheit mit großer Klarheit zutage.

Somit sind Puschkin der Dichter und Puschkin der Mensch gleichwertig und gleichermaßen bedeutend. Der von ihm gewählte Beruf des Literaten und Poeten beleuchtete seine geniale Individualität von der künstlerisch-literarischen Seite her und ließ die psychologische Seite seiner Persönlichkeit im Halbdunkel oder im Schatten stehen. In dieser Hinsicht weist die Puschkin-Forschung noch eine schmerzliche Lücke auf. Seine Individualität ist als einer tiefschürfenden Analyse würdig, denn solche biologischen Phänomene treten mit großer Seltenheit auf. Puschkin lediglich als Dichter und Schriftsteller zu erforschen würde den Rahmen der Untersuchung unzulässig einengen. Wir brauchen Puschkin-Gesellschaften, nach dem Vorbild der Shakespeare-Gesellschaften. Dem Poeten blieb ein früher physischer Tod nicht erspart, und eine solche Gesellschaft hat die Pflicht, sein moralisches Antlitz in vollem Lichte erstrahlen zu lassen und sein Andenken zu bewahren. Dieses Andenken lebt in unserer Erinnerung, doch eine solche Heimstatt ist ephemerer Art und sollte durch einen Ort ersetzt werden, wo Puschkins Seelenleben objektiver erforscht und gehegt wird. Den Grundstein hierzu hat I. E. Repin mit seinem letzten Gemälde Puschkin beim Examen gelegt.

Hat Puschkin als Poet und Schriftsteller seinen schöpferischen und literarischen Höhepunkt erreicht? Er starb schon in recht jungen Jahren jäh eines gewaltsamen Todes, zu einem Zeitpunkt, wo sein Talent noch im Wachsen und in der Entwicklung begriffen war.

Wie Lermontow und Gogol schied auch Puschkin früh vom Lichte, und es wäre verfehlt, hierin einen reinen Zufall zu sehen. Mit Puschkin, oder vielmehr zu seiner Zeit, begannen jene ungesunden Verhältnisse, die dazu führten, daß hervorragende Vertreter unserer Gesellschaft vorzeitig sterben mußten. Die Gründe dafür lagen hauptsächlich darin, daß die Gesellschaft nicht auf sie vorbereitet war. Puschkin empfand die verderbliche Kraft dieser Umstände schmerzlich; er hat sie treffend gekennzeichnet, doch da jemand, der allein auf weiter Flur steht, kein Krieger ist, vermochte er sie nicht zu überwinden. Kurzgefaßt läßt sich sagen, daß die Gesellschaft ihre großen Menschen nicht behütete, es an Ehrfurcht und Achtung vor ihnen fehlen ließ und es nicht für nötig befand, für sie einen kleinen Teil jener Unterstützung abzuzweigen, die ihr zu ihrer Selbstbewahrung zur Verfügung stand. Gewiß, selbst in ihrer Jugend hat die russische Gesellschaft die Träger des göttlichen Funkens klar erkannt; man liebte Puschkin und verschlang seine Werke, doch nichtsdestoweniger behandelten sowohl die Machthaber als auch die Öffentlichkeit die Vollbringer gewaltiger Taten wie gewöhnliche Menschen, so wie ein Kind rücksichtslos an seinen Puppen herumzerrt, an den billigen ebenso wie an den teuren. Es gab kein kulturelles Verständnis für Talente. Jener Glorienschein, der später einen Tolstoi umgab, fehlte bei Puschkin. Hierüber haben Puschkin und Lermontow geklagt. Immerhin konnte ersterer auf den Schutz und die Unterstützung eines Kreises von Schul- und Literaturfreunden rechnen, die er mit seiner mitfühlenden, künstlerischen, für Poesie und Freundschaft geschaffenen Seele in seinen Bann zog. Doch dies reichte nicht aus, vermochte es den Dichter doch nicht vor einem gewissen Teil der Gesellschaft zu schützen, die von einem zutiefst unheilvollen Geist erfüllt war.

Eine Aufzählung und Schilderung der Umstände, unter denen Puschkins Leben verlief, wirft ein grelles Licht auf diese Bedingungen, besonders wenn man sich die Kriterien des Dichters selbst zu eigen macht. Dieser sprach besonders häufig von der Ehe, vom Familienleben ganz allgemein, von seiner Bedeutung für die Erfüllung der Aufgabe, die dem Menschen zugewiesen ist. Vieles von dem, was er hierzu sagte, war großen Menschen aufgrund eigener Erfahrung oder instinktiv bereits bekannt. Etliche von ihnen, insbesondere Gelehrte wie Newton, blieben darum ehelos, weil sie die Last und Schwierigkeit familiärer Verpflichtungen realistisch einschätzten; sie empfanden letztere als Tribut, der dem von Natur aus bereits durch seinen Beruf belasteten großen Menschen auferlegt ist. Puschkin schätzte dieses mögliche Aufeinanderprallen von zweierlei Verpflichtungen sehr realistisch ein. In noch recht jungem Alter (im 25. Lebensjahr) betrachtete er die Ehe als eine Art Defekt. In einem Brief an seinen Bruder schrieb er: „Wsewoloschski treibt mit mir seinen Scherz: Ich schulde ihm 1000 Rubel und nicht 500; spricht mit ihm und danke ihm für das Manuskript. Er ist ein ruhmvoller Mensch, obgleich er heiratet.“ Dieser beiläufig hingeworfenen, jedoch die Meinung des Dichters klar widerspiegelnden Bemerkung sowie dem ganzen Tenor des Briefes kann man entnehmen, daß er Unverständnis und Besorgnis zugleich empfand: „Dieses große Kind, Wsewoloschski, stellt sich ja heiter an! Er vergißt 500 Rubel und schickt sich an, zu heiraten.“ Allem Anschein nach geht es hier nicht nur um jene rein materiellen Kalkulationen, die das Familienleben mit sich bringt. Kurze Zeit darauf kann es der Poet nicht unterlassen, das Thema der Ehe in einem Schreiben an Wjasemski abermals zur Sprache zu bringen, doch diesmal auf wesentlich tiefgründigere Art: “Stimmt es, daß Barjatinski heiratet? Ich fürchte um seinen Verstand. Eine gesetzliche Ehegattin ist eine Art warme Mütze, die den ganzen Kopf für sich in Anspruch nimmt. Du bist vielleicht eine Ausnahme. Doch auch in deinem Fall bin ich überzeugt, daß du gut daran tätest, noch ungefähr zehn Jahre lang Junggeselle zu bleiben. Die Ehe kühlt die Seele ab. Leb wohl, und schreibe mir.“ Der Auftakt zu diesem Brief ist hochinteressant; er stellt gewissermaßen einen Kommentar zum Abschluß dar, obwohl er offensichtlich eine Antwort auf irgendeine Nachricht darstellt: „Das Schicksal treibt mit dir auch weiterhin allerlei Schabernack. Grolle ihm nicht: Es weiß nicht, was es tut. Stelle es dir als riesigen Affen vor, der Narrenfreiheit besitzt. Wer vermag ihn an die Kette zu legen? Weder du noch ich, niemand. Man kann nichts tun, also gibt es auch nichts dazu zu sagen.“

Ein Brief Puschkins an Pletnew aus dem Jahre 1830 verdeutlicht seine  Ansichten zur theoretischen und praktischen Seite des Familienprinzips: „Mein Lieber, ich werde dir alles erzählen, was auf meiner Seele lastet: Mir ist traurig und sehr, sehr schwermütig zumute. Das Leben eines Bräutigams von dreißig Jahren ist schlimmer als dreißig Jahre im Leben eines Spielers. Um die Angelegenheiten meiner künftigen Schwiegermutter steht es schlecht, und meine Hochzeit wird immer weiter hinausgezögert. Währenddessen erkalten meine Gefühle; ich denke an die Sorgen des verheirateten Menschen und an die Freuden des Junggesellenlebens. Außerdem kommt meiner Braut und ihrer Mutter allerlei Moskauer Geschwätz zu Ohren, daher die Verstimmungen, die bissigen Anspielungen, die unsicheren Versöhnungen; kurzum, wenn ich auch nicht unglücklich bin, so bin ich zumindest nicht glücklich. Der Herbst naht; es ist dies meine Lieblingsjahreszeit; meine Gesundheit erstarkt dann gewöhnlich, und es wäre an der Zeit, mich meinen literarischen Werken zu widmen, aber ich muß mich um die Mitgift kümmern, ja um die Hochzeit, die wir weiß Gott wann feiern werden. All dies ist nicht sehr angenehm. Ich fahre aufs Land; Gott weiß, ob ich da Zeit für meine schöpferische Arbeit und seelische Ruhe finden werde, ohne die man nichts zustande bringen kann außer Epigramme auf Katschenowski... So verhält es sich also, mein Lieber. Der Teufel brachte mich auf den Gedanken, vom Glück zu faseln, als ob ich dafür geschaffen wäre. Ich würde mich gerne mit meiner Unabhängigkeit begnügen, für die ich Gott und Dir zu Dank verpflichtet bin. Traurig, mein Lieber. Ich umarme dich und küsse die unseren.“

Zwei Monate später schrieb Puschkin in einem weiteren Brief an Pletnew: „Meine Braut hat aufgehört, mir zu schreiben... Da sieh mal einer an! Mein lieber Pletow, obgleich ich nicht ganz so bin wie die anderen, könnte ich mich bisweilen glatt aufhängen. Mir fallen nicht einmal mehr Verse ein, obwohl der Herbst wunderbar ist: Regen und Schnee und Schlamm bis an die Knie [d.h. die Bedingungen, unter denen der Poet zu Hause am besten schaffen konnte; Sikorski].“

All dies war der Anfang jener familiären Unannehmlichkeiten, (ach! Kleinigkeiten des Lebens!), die vom Familienleben überhaupt nicht zu trennen sind. Auf einen großen Menschen sollte diese Seite der familiären Belastung nicht abgewälzt werden; er erträgt sie nicht, weil seine seelische Veranlagung nur den Höhen seiner großen Berufung gerecht wird: Diese Höhen erlauben es ihm nicht, sich am laufenden Band in die Niederungen zu begeben und sich in Kleinigkeiten zu verstricken (hierzu muß man an andere Dinge gewöhnt sein, und die Vorbereitung auf die bevorstehenden Aufgaben ist in beiden Fällen grundverschieden). Doch wie sollen die Genies der Menschheit dann leben? Ein großer Mensch und eine große Sache bedürfen einer besonderen Umwelt, die aus Ideen gewoben ist und ihnen Schutz bietet. Es gibt Frauen, die zu den ersten Anhängern eines Propheten oder Religionsstifters werden; andere vergessen sich selbst und verbringen ihr ganzes Leben auf einer Geschäftsreise der Ideen – am Kopfende einer kindlichen oder reifenden Seele; andere sehen ihr ganzes Leben hindurch an Sterbebetten – die Sterbenden lösen einander ab-, doch nur widerwillig stehen sie vor dem Schatz des menschlichen Lebens Wache. Ein schweres Schicksal! Ein ständiger Behüter ideeller Kleinode zu sein, bei der Arbeit nicht an sich selbst zu denken, um der Idee willen Frühling und Sommer, Tag und Nacht zu vergessen und so viele Jahre lang zu schmoren – dies ist ein großer Dienst... Doch die „Frau eines großen Menschen“ zu sein, ist ein noch größeres und noch schwereres Schicksal: Nicht umsonst beschrieb Carlyle ein solches Geschick und schuf mit seiner Beschreibung gewissermaßen einen Grabstein für jene, die dieses Schicksal demütig auf sich nahm, ihren Posten niemals verließ und das Gewehr niemals aus der Hand gab. Einen solchen Wächter mußte Puschkin in der schwierigsten Zeit seines Lebens entbehren. Eine zweite Amme nach Arina Rodionowna hatte er nie, und dieser seiner einzigen Amme schuf er ein Denkmal, bei dem kein Steinmetz Hand angelegt hat:

Die Frau Carlyles, die Amme Puschkins und all diese unbekannten Idealistinnen sind nämlich auch große Menschen. Sie sind die fleischgewordene moralische Genialität, die nicht selten zum Schutzengel für andere Formen der Genialität (der künstlerischen, der wissenschaftlichen) werden!

Moralisch große Frauen bilden einen zentralen und festen Bestandteil der Menschheit, bleiben jedoch nicht selten ihr ganzes Leben lang unbemerkt, gleich jenem bescheidenen Soldaten, der, für jedermann unerwartet, in gefährlichen Minuten des Kampfes heroisch nach vorne stürmt und seine Gefährten mit seinem Beispiel anspornt. Zuvor hat ihm niemand Beachtung geschenkt! Die anonyme Arina Rodionowna hat ein großer Dichter bemerkt und ihr noch zu Lebzeiten eilends ein künstlerisches Monument gesetzt. Carlyle schuf seiner Frau, die ihn wie eine Amme umsorgt hatte, erst nach ihrem Tode ein solches Denkmal. Tun wir es Puschkin gleich und errichten wir all diesen unbekannten Idealistinnen, diesen Juwelen, die hell zu leuchten beginnen, sobald der letzte Funken ihres zerbrechlichen Lebens erloschen ist, schleunigst ein Denkmal, damit es die Menschheit nicht versäumt, sie in ihrer Mitte zu erkennen. Hätte Puschkin in Michailowsk gelebt, unter dem Schutze Arina Rodionownas, oder in Trigorsk, so wäre es Rußland erspart geblieben, seinen allzu frühen Hinschied zu betrauern.

Puschkin mußte eine bittere Dosis an Familien- und Alltagskleinigkeiten schlucken. Finanzfragen und Rechnungen, die Bezahlung fremder oder unnötiger Ausgaben, Gerede, ein Leben inmitten des Lärms der menschlichen Niedertracht – all dies ermüdete den Dichter und beraubte ihn jener Ruhe und Muße, die er für seine schöpferische Arbeit so dringend gebraucht hätte. Dabei kann ein Poet nicht ohne schöpferische Spannung leben, so wenig wie ein Mönch ohne das Gebet oder ein Student oder das Fieber der Wissenschaft. Doch diese ganzen Umstände, die der Dichter fürchtete und in denen er plötzlich versank, machten die abschließende Katastrophe fast unvermeidlich: Er hatte die tödliche Kugel bereits empfangen, ehe das verhängnisvolle Duell am Schwarzen Bach in Petersburg stattfand. (Er war in der Tat schwarz, so wie Petersburg für den Poeten schwarz war!) Wie sehnte sich seine Seele doch nach der Provinz! Der Freundeskreis, der dem Dichter nahe stand und ihm Stärke verlieh, schmolz unerbittlich dahin, und der Hinschied seiner Freunde erfüllte ihn mit tiefer Trauer. In der Gesellschaft, in ihren breiten Kreisen, gab es wenig Lichtblicke. „Unser gesellschaftliches Leben“, schrieb Puschkin, „ist höchst betrüblich; das Fehlen einer öffentlichen Meinung, die Gleichgültigkeit gegenüber jeglicher Pflicht, die zynische Verachtung des Gedankens und der menschlichen Würde bringen einen tatsächlich zur Verzweiflung.“ Im Gegensatz zu jenen, welche die Gründe der gesellschaftlichen Übel lediglich in den Vertretern der Macht sahen, ortete der Dichter ihre Ursachen tiefer: Es sah das Böse in der Gesellschaft selbst. „Dem bin ich nicht länger gram“, hielt er in einem Brief an seine Gattin fest, „denn toute réflexion faite ist er nicht schuld an der Schweinerei, die ihn umgibt. Wenn du in H. wohnst, gewöhnst du dich wohl oder übel an die S..., und ihr Gestank ist dir nicht mehr zuwider, magst du auch ein Gentleman sein.  Uff, nichts wie raus an die frische Luft!”

Frische Luft gab es in den „lieblichen Gefilden“ wenig, und der große Mann mußte während der wichtigsten Periode seines Lebens notgedrungen in einer ungesunden Atmosphäre leben. Er hätte es dringend nötig gehabt, in den Wald zu flüchten, sich einzuschließen wie weiland die Heiligen, oder sich in die Wüste zurückzuziehen wie einst die Kirchenväter, die unter diesen Umständen ihre besten Werke niederschrieben. Daran dachte der Poet in der Tat auch. In jenem gewaltigen künstlerischen Umschwung, der in ihm heranreifte, war dies eine Conditio sine qua non. Der Dichter begriff dies mit voller Klarheit, und seine Sympathien galten nach wie vor der tiefen Provinz mit ihren sympathischen, herzlichen, einfachen Freunden. Im Jahre 1827 dämmerte für ihn die Morgenröte einer neuen (und zugleich der letzten) künstlerischen Periode seines Lebens; bald darauf, im Frühjahr 1828, äußerte er sich in einem Schreiben an die Osipowa wie folgt: „Da Sie mich noch Ihrer Teilnahme würdigen, was soll ich Ihnen da über meinen Aufenthalt in Moskau und meine Ankunft in Petersburg sagen? Gemeinheit und Dummheit sind in unseren beiden Hauptstädten gleich groß, auch wenn sie verschiedene Formen annehmen; und da ich den Anspruch erhebe, unparteilich zu sein, sage ich, daß ich, hätte ich die Wahl zwischen den beiden, Trigorsk wählen würde, fast so wie Harkelin auf die Frage, ob er lieber gerädert oder gehängt werden wolle, antwortete: „Ich bevorzuge Milchsuppe.““ Feiner ließ sich schwerlich ausdrücken, was der Dichter nach den moralischen Geboten des durchlebten psychologischen Momentes benötigte: Er brauchte Ruhe und Unabhängigkeit – die Natur und nicht die Menschen.

Hier wird eine Gegenfrage laut, die der Antwort bedarf: Fehlten Puschkin die Kräfte, um die Ketten zu sprengen, sich der fauligen Atmosphäre zu entringen und dem, was er selbst mit Fug und Recht als „Gemeinheit“, „Dummheit“ und „Schweinerei“ bezeichnete, für immer zu entsagen? In der Tat unternahm der Poet in der Tat entschlossene Schritte, um einen solchen Bruch zu vollziehen. Eine große Zahl seiner Gedichte (noch mehr als bei Lermontow) ist dem unterschwelligen, quälenden Bewußtsein gewidmet, Fehler und Verirrungen begangen zu haben und dadurch seine künstlerische Begabung in Gefahr gebracht zu haben. In den Elegien des Poeten, in diesen hellen und tiefen, heißen und aufrichtigen Aufwallungen, denen man keine anderen psychologischen Namen geben darf als „Tränen“ oder „Reue“ – der Dichter selbst nennt sie so -, ist alles gesagt. Elegien wie Schelanije (Der Wunsch), Naslaschdenije (Der Genuß), Opjat ja wasch, o junije drusja (Abermals bin ich der eure, junge Freunde), Pogaslo Dnevnoje Swetilo (Erloschen ist der Sonne Licht) usw. sind helle Fackeln, die den Seelenzustand des Dichters beleuchten und mit aller Klarheit zeigen, daß er über genügend Kräfte verfügte, um sich vor sich selbst zu schützen, sich gegen sich selbst zur Wehr zu setzen und die erste und höchste Pflicht eines großen Menschen zu erfüllen – die Pflicht der künstlerischen Selbstbewahrung.

Die Zeitgenossen des Dichters behaupteten eine Zeitlang, mit seinem Talent gehe es abwärts, und dies erfüllte ihn mit tiefer Sorge. Doch zweifellos war dieses Urteil falsch. Der Poet selbst als bester und strengster Richter in dieser Sache klagte zwar in einem Brief an seine Frau über seine Schwermut und seine nachlassende Arbeitskraft („Vieles habe ich begonnen, doch zu nichts habe ich Lust“), kleidete diese Klage jedoch letzten Endes in dermaßen spaßige Formulierungen, daß ganz offenbar nichts Schlimmes geschehen sein konnte. „Gott weiß, was mit mir los ist. Bin altes Mensch geworden, meine Kopf wird schlecht“, äffte er die Sprache der Wolgatataren nach, unter denen er kurze Zeit gelebt hatte. „Ich komme, um aus deiner Jugend neue Lebenskräfte zu gewinnen, mein Engel.“ Ohne jeden Zweifel konnte von einem Niedergang seines Talents keine Rede sein, doch immerhin trat eine gewisse Stockung in seiner künstlerischen Tätigkeit ein. Dies war freilich vollkommen unvermeidlich. Der Poet stand mittlerweile an der Schwelle zu jenem Alter, in dem die künstlerische Begabung reift und in dem Shakespeare seine gewaltigsten Dramen geschaffen hat. Die vorbereitenden Schritte hierzu hatte Puschkin bereits zurückgelegt. Es stand ihm jene letzte Periode bevor, welche eine kolossale künstlerische und psychologische Erfahrung voraussetzt, die dem Dichter nicht von der Natur auf dem Tablett serviert wird, sondern auch von genialen Menschen durch schöpferische Tätigkeit hart erarbeitet werden muß. Die vorausgegangenen einzelnen Etüden genügten Puschkin nun nicht mehr; in seinem poetischen Schweigen brauten sich die Schlußakkorde einer künstlerischen Großtat zusammen.

Bei Shakespeare erfolgten reife, umfassende literarische Schöpfungen nicht ohne besonderen Antrieb und ohne besondere Vorbereitung. Als zentrale Vorbereitung diente ihm seine gesamte vorhergehende dramatische und dramaturgische Tätigkeit. Doch hierzu kam noch ein ungemein starkes Motiv seines persönlichen Charakters, der in einer tiefen emotionalen Erschütterung bestand, zu welcher die Hinrichtung seiner Freunde den Anstoß gegeben hatte. Das Schaffen eines großen Menschen, dem dank steter Übung bereits ein hohes Potential innewohnt, erhielt eine emotionale Verstärkung. Durch die Hinrichtung seiner Freunde bis ins Mark erschüttert, wallten in Shakespeare tiefste Gefühle auf; sein faustischer Geist wandte sich der künstlerischen Erforschung der Ursachen und Erscheinungsformen des Bösen in der Menschenseele zu. Seine großen Tragödien waren die Antwort auf seine Befragung seines eigenen Geistes.

Puschkin lebte und wirkte unter anderen Bedingungen; diese waren alles in allem ungünstig für eine bahnbrechende natürliche Entwicklung künstlerischer Genialität. Bei Shakespeare waren tiefe Emotionen im Spiel, die auf Erschütterung und Empörung zurückgingen. Sie zwangen den Poeten zum Kampf mit dem Weltenübel und drängten ihn zur Lösung des Rätsels von der Ursache und der Herkunft der Verbrechen. Puschkin legte das Schicksal eine Unmenge kleiner, unbedeutender Hindernisse in den Weg, die auch die Seele eines nicht alltäglichen Menschen drückend belasten, so wie feiner Sand, der in das Getriebe einer Maschine eingedrungen ist, deren Funktion hemmt. Doch auf Kleinigkeiten war er weder von Geburt noch durch seine künstlerische Praxis vorbereitet; er war für große Aufgaben berufen. Bagatellen hemmten sein schöpferisches Wirken. Dieser Umstand bot denn auch Anlaß zu vielen bitteren Klagen des Poeten. Die Hindernisse wurden besonders in jener Periode zahlreicher und größer, als gemäß dem natürlichen Gang des psychologischen Fortschritts des Lebens für den Dichter die Zeit großer dramatischer Schöpfungen heranreifte. In dieser entscheidenden Phase, in dieser Periode tiefgreifenden Wandels, ging ein großes Leben jäh zu Ende! Einigen dramatischen Werken und Fragmenten nach zu schließen, barg der Poet in seiner Seele sämtliche unabdingbaren Elemente eines weiteren schöpferischen Fortschritts.

Besonders stark wuchs seine Unruhe und Besorgnis in den letzten beiden Jahren seines Erdendaseins. Mit Gerüchten, familiären Streitigkeiten und anderen leidigen Scherereien allein läßt sich dies ganz unmöglich erklären. Grosse Menschen vermögen über solchen Dingen zu stehen, und Puschkin war hier keine Ausnahme, wovon folgender Ausspruch von ihm zeugt: „Dem da grolle ich nicht mehr...“. Der Satz bezog sich auf das Staatsoberhaupt (siehe oben). Emotionalität, Besorgnis und Kummer waren die ständigen Begleiter des Dichters und äußere Zeichen eines beginnenden künstlerischen Wandels in Richtung einer höheren Stufe der Schaffenskraft. Es waren dies jene Emotionen und  Bekümmernisse, die, um einen Ausdruck Renans aufzugreifen, große Folgen zeitigen – jene „heilige Unruhe“, welche einer Explosion des Schaffens vorauszugehen pflegt. Der Poet erlebt den abschließenden Prozeß einer geistigen Evolution mit jener stiller Unruhe, ja beinahe Verwunderung, und mit jener festen Entschlossenheit, die all seinen neuen künstlerischen Schritten ihren Stempel verleiht. Folgendes Gedicht veranschaulicht diesen Seelenzustand:

Das Leben des gewaltigen Dichters nahm im wichtigsten Augenblick seiner geistigen Existenz ein jähes Ende! Das feierliche Mysterium des Todes trat unvermittelt an ihn heran. Die Tore der Unendlichkeit öffneten sich plötzlich weit! Der Poet zauderte nicht... Ruhig schritt er auf sie zu und blickte jedermann ohne Zittern in die Augen! Die Größe seines Todes unterstrich seine edle Natur noch stärker als sein ganzes Leben, das so arm an Glück, doch so unendlich reich an großen Taten gewesen war.

Nach dem Duell wurde er verwundet nach Hause gebracht, wo er Dr. Scholz unter vier Augen die Frage stellte: „Was denken Sie über meinen Zustand? Sagen Sie es mir offen.“

Ich kann es Ihnen nicht verhehlen: Sie sind in Gefahr, sprach der Arzt.

Sagen Sie lieber: Ich sterbe.

Ich erachte es meine Pflicht, Ihnen auch dies nicht zu verbergen.

Ich danke Ihnen; Sie haben sich mir gegenüber verhalten wie ein ehrlicher Mensch.

Von dieser Minute an dachte der Dichter bis zu seinem letzten Atemzug nicht an sich, obgleich seine Leiden fürchterlich waren. Fünfundvierzig Stunden lang durchlitt er schreckliche Qualen und wartete auf den Tod.

Schukowski, der nicht von der Seite des Sterbenden wich, schrieb an seinen Vater: „Ich versichere dir, daß ich auf seinem Antlitz nie zuvor den Ausdruck eines solch tiefen, großartigen, feierlichen Gedankens gesehen hatte. Diesen hatte er natürlich bereits früher in sich geborgen, da er seiner edlen Natur eigen war, doch in dieser Reinheit offenbarte er sich erst, als alles Irdische bei der Berührung des Todes von ihm wich.“

„So starb Puschkin“, schloß Schukowski.


Russische Rassentheorie bis 1917 | 1. Auflage

Umschlag der 1. russischen Auflage
Moskau 2002


Deutsche Erstveröffentlichung
2007

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