Regierungschef


Karl Dönitz

Karl Dönitz


Die deutsche Reichsregierung war im Januar 1945 in den Besitz des englischen Operationsbefehls „Eclipse“ gelangt, der die „Planungen und die Vorbereitungen für die Maßnahmen bei einer Besetzung Deutschlands“ nach Vollzug seiner bedingungslosen Kapitulation enthielt. In einer Karte, die diesem Befehl beigegeben war, war die Aufteilung Deutschlands unter die Sowjetunion, die Vereinigten Staaten und Großbritannien eingezeichnet. Sie entsprach etwa der tatsächlichen späteren Zoneneinteilung, mit Ausnahme des französischen Besatzungsgebietes, das den Franzosen erst auf der Jalta-Konferenz im Februar 1945 von den Alliierten zugebilligt wurde.

Die beabsichtigte Teilung und die im Morgenthau-Plan niedergelegten Methoden, die für die Behandlung Deutschlands vorgesehen waren, ließen das Ende unseres Lebens als geschlossene Nation befürchten.

Die Schärfe dieser Bedingungen hatte zur Folge, daß die politischen Hemmungen, die auf unserer Seite gegenüber einer sofortigen Beendigung des Krieges durch eine bedingungslose Kapitulation bestanden, entsprechend stark waren.

Zu diesen politischen Bedenken traten noch schwerwiegende praktische Hindernisse dazu.

Am 12. Januar 1945 hatten die Russen ihre Offensive an unserer Ostfront begonnen. Sie waren in Schlesien eingebrochen und hatten die mittlere Oder bei Küstrin und Frankfurt erreicht. Die Deutsche Wehrmacht hatte an unserer Ostgrenze ihre natürliche militärische Aufgabe, den Schutz unserer deutschen Ostbevölkerung und ihres Heimatlandes, nicht erfüllen können. Die Menschen fluteten daher aus diesen Gebieten nach Westen, um sich vor dem russischen Einmarsch zu retten. Furcht und Grauen erfüllten sie. Sie wußten, was die sowjetische Armee ihnen bringen würde. Als Goldap an der ostpreußischen Grenze mit einigen Dörfern im Oktober 1944 verloren gegangen war, hatten die Russen die deutsche Bevölkerung dort unter entsetzlichen Grausamkeiten niedergemetzelt.

Auch ein Aufruf des sowjetischen Schriftstellers Ilja Ehrenburg an die russischen Soldaten zeigte der deutschen Bevölkerung, was ihr bevorstand. Dieser Aufruf lautete: „Tötet, tötet! Es gibt nichts, was an den Deutschen unschuldig ist, an den Lebenden nicht und nicht an den Ungeborenen! Folgt der Weisung des Genossen Stalin und zerstampft für immer das Faschistische Tier in seiner Höhle. Brecht mit Gewalt den Rassenhochmut der germanischen Frauen. Nehmt sie als rechtmäßige Beute. Tötet, ihr tapferen, vorwärtsstürmenden Rotarmisten!“

Die Rettung der deutschen Ostbevölkerung hielt ich unter diesen Umständen für die erste Pflicht, die der deutsche Soldat noch zu erfüllen hatte. Wenn wir zu unserem Schmerz den Ostdeutschen ihr Heimatland nicht erhalten konnten, so durften wir sie bei der Rettung ihres nackten Lebens keinesfalls im Stich lassen. Allein dafür bereits mußte der Soldat an der deutschen Ostfront weiterkämpfen.

Es kam aber noch ein zweites hinzu. Eine andere Beendigung des Krieges als durch bedingungslose Kapitulation kam nach dem Willen der Alliierten nicht in Frage. Für die deutschen Truppen bedeutete dies, daß jede Bewegung mit der Unterzeichnung der Kapitulation aufhören würde. Sie mußten dort, wo sie standen, ihre Waffen niederlegen und sich in Kriegsgefangenschaft begeben. Kapitulierten wir in den Wintermonaten 1944/45, so würden 3½ Millionen Soldaten der Ostfront, die noch weit von der angloamerikanischen Front entfernt stand, in russische Gefangenschaft kommen. Sie aufzunehmen, zu verpflegen und unterzubringen, wäre den Russen selbst bei bestem Willen organisatorisch nicht möglich gewesen. Sie hätten im kalten Winter auf freiem Felde kampieren müssen. Eine entsetzlich hohe Todesquote wäre die sichere Folge gewesen. Wie schwierig es ist, große Zahlen von Kriegsgefangenen plötzlich unterzubringen und zu verpflegen, zeigten die Ereignisse bei der Kapitulation im jahreszeitlich günstigeren Monat Mai selbst im Westen, wo es den Engländern und Amerikanern nicht gelang, die deutschen Kriegsgefangenen ausreichend zu versorgen, so daß eine große 7,ilil von ihnen starb.

Es war also klar, daß die Beendigung des Krieges im Winter 1944/45, angesichts der Forderung der Alliierten nach einer Kapitulation ohne Bedingungen, den Tod von Millionen von Menschen der deutschen Zivilbevölkerung und von Soldaten der Ostfront bedeutet hätte. Niemand, der damals an verantwortlicher Stelle in der Wehrmacht stand, konnte zu einem solchen Schritt raten. Keiner der bedauernswerten Flüchtlinge aus dem Osten wäre damit einverstanden gewesen, den Russen ausgeliefert zu werden, kein deutscher Soldat wollte in russische Gefangenschaft geraten. Die Soldaten hätten den Befehl, stehen zu bleiben und sich gefangennehmen zu lassen, nicht befolgt. Sie hätten wie, die Zivilbevölkerung versucht, sich nach dem Westen zu retten. So hätte auch keiner der führenden Männer zu diesem Zeitpunkt den Kapitulationsvertrag unterzeichnen können, ohne zu wissen, daß er gebrochen werden würde, aber auch ohne zu wissen, daß damit eine große Zahl von deutschen Menschen im Osten ihrem Schicksal überlassen werden müßte und vernichtet worden wäre, – eine Entscheidung, die niemand auf sein Gewissen nehmen konnte.

So schmerzlich es war, angesichts dieses Zwangs im Winter 1944/45 den Krieg fortsetzen zu müssen und an allen Fronten und auf allen Meeren noch Soldaten zu opfern und Verluste der Zivilbevölkerung durch Bombenangriffe in Kauf zu nehmen, so mußte das alles doch notgedrungen geschehen, weil die Verluste dann immer noch geringer waren, als wenn der deutsche Ostraum vorzeitig aufgegeben worden wäre. Jeder militärische Führer, der sich die Frage stellte, ob die Kapitulation zu dieser Zeit das kleinere Übel wäre, durfte nicht vom Standpunkt des deutschen Westens oder Ostens aus urteilen, sondern nur unter Beachtung des ganzen deutschen Schicksals. Er konnte zwar verstehen, daß die westdeutsche Bevölkerung nach der Beendigung des Krieges verlangte, weil jeder weitere Tag, an dem noch gekämpft wurde, für sie scheinbar nur Nachteile brachte. Dieser Forderung durfte er aber auf keinen Fall nachgeben. Sie war einseitig, oft unduldsam gegenüber den deutschen Mitmenschen aus dem Osten, ja sie übersah sogar, daß auch Soldaten aus westdeutschen Familien bei ihrer Erfüllung verloren gehen mußten. Er durfte auch nicht dem Fehler des einen oder anderen Gauleiters verfallen, der ohne Rücksicht auf andere Bevölkerungsteile aus dem zu erwartenden deutschen Zusammenbruch am Ende des Krieges allein nur seinen eigenen Gau retten wollte.

Ich habe im 17. Kapitel bereits dargestellt, warum ich die Annahme der Forderung des Gegners nach bedingungsloser Kapitulation von mir aus nicht vorschlagen konnte. Es wurde von der Staatsführung auch nie an mich als Oberbefehlshaber der Kriegsmarine die Frage gestellt, ob der Krieg beendet werden müsse.

So lange die deutschen Armeen im Osten noch weit vor den anglo-amerikanischen Linien standen, hätte ich diese Frage aus den dargelegten Gründen auch verneint, wenn sie an mich herangetreten wäre.

Voraussetzung für das militärische Ziel, deutsche Menschen aus dem Ostraum zu retten, war Ordnung an der Front und im Innern. Jedes Chaos hätte nur mehr Blut gekostet. Dieses militärische Ziel, dessen Offenbarung damals im Hinblick auf die Gegner natürlich nicht möglich war, erklärt viele meiner damaligen Befehle.

Eines glaubte ich im Winter 1944/45 nicht, nämlich, daß man weiterkämpfen müsse, weil ein Bruch zwischen den West-Alliierten und der Sowjetunion zu erwarten sei. Wenn mir auch die angloamerikanische Politik der vollständigen Ausschaltung der deutschen Kontinentalmacht im eigenen angloamerikanischen Interesse unverständlich war – denn das hierdurch entstehende Vacuum mußte zwangsläufig durch eine Machtvergrößerung des Ostens ausgefüllt werden –, so glaubte ich doch nicht, daß die West-Alliierten dies damals schon einsehen würden. Das war angesichts ihrer Kriegspropaganda und Kreuzzugsstimmung gegen das nationalsozialistische Deutschland einfach nicht denkbar.

Schon ab Sommer 1944 hatte sich mit dem Abfall Finnlands, dem Näherrücken der Ostfront an die deutsche Grenze und der Bedrohung Ostpreußens für die Kriegsmarine immer mehr die Hauptaufgabe ergeben, die Ostfront durch Seetransporte über die Ostsee mit Nachschub .tu Menschen, Waffen, Munition und Material zu versehen, und Verwundete, Flüchtlinge und Heeresteile auf den gleichen Schiffen bei ihrer Rückkehr nach Westen zu überführen. Als dann nach dem Durchbruch der Russen im Januar 1945 das Land und die Werften und Ausbildungsstützpunkte an der östlichen Ostsee bedroht wurden oder verloren gingen, war es endgültig klar, daß die U-Bootwaffe mit ihren neuen, der Abwehr wieder überlegenen Booten nicht mehr im großen Stil zum Einsatz kommen würde.

Der U-Bootkrieg war damit nicht mehr Hauptaufgabe der Kriegsmarine. Ich stellte große Teile von ihr auf die Unterstützung der Ostfront und die Rettung deutscher Menschen um. Marinepersonal, das für die Besetzung im Bau befindlicher U-Boote und Kriegsschiffe bereitgestellt gewesen war oder anderweitig entbehrlich wurde, gab ich an das Heer ab oder faßte es zu Marineeinheiten und -divisionen zusammen, die m Land gegen die Russen eingesetzt wurden. Im Lauf der letzten Kriegsmonate nahmen auf diese Weise ungefähr 50 000 Mann Marinepersonal an der Verteidigung -deutschen Raumes im Osten am Landkampf teil. Hierbei fiel der Kommandeur der II. Marinedivision, Vizeadmiral Scheurlen.

Aus der Nordsee und dem Norwegen-Raum wurden Seestreitkräfte für die Ostsee abgezogen, soweit es die Rücksicht auf die Aufrechterhaltung des dortigen Seeverkehrs erlaubte. Hier wurden sie dringend zur Sicherung der Seewege und der Handelsschiffe gebraucht, die für die Ostfront und den Flüchtlingstransport eingesetzt waren. Der deutsche Handelsschiffsraum war für die Ostseetransporte von entscheidender Bedeutung. Er wurde von dem Reichskommissar für die Seeschiffahrt, Gauleiter Kaufmann in Hamburg, bewirtschaftet. Kaufmann unterstand in seiner Aufgabe als Reichskommissar für die Seeschiffahrt unmittelbar Hitler. Die Gesamtlage im deutschen Ostraum und die Verhältnisse an der Ostfront machten jedoch jetzt die Zusammenfassung aller dort benötigten Kräfte in einer Hand notwendig. Daher wurde die noch vorhandene deutsche Handelsschiffstonnage mir unterstellt, und unter einheitlicher Führung zusammen mit den Seestreitkräften und möglichst hohem Wirkungsgrad für die Ostseetransporte verwandt. Ich beauftragte mit der Oberleitung den Konteradmiral Engelhardt. Er war ein Mann, der bereits durch seine bisherigen Dienststellungen in der Kriegsmarine Erfahrungen auf dem Gebiet der Handelsschiffahrt besaß. Er hat ein wesentliches Verdienst daran, daß es der Marine in den letzten Kriegsmonaten gelang, auf dem Wasserwege neben dem nach Osten gehenden Nachschub für die Front über zwei Millionen Menschen aus West- und Ostpreußen und Pommern über See nach Westen zu retten.

Die Leiter dieser Transportorganisation an der Front waren im Westen der Ostsee der Marineoberbefehlshaber Ost in Kiel, Generaladmiral Kummetz, und in der östlichen Ostsee für Ost- und Westpreußen der Admiral Burchardi. Beide waren für ihre vielseitige Tätigkeit mit entsprechenden Sonderstäben ausgerüstet. Das Hauptverdienst an der gelungenen Durchführung dieser Transporte gebührt jedoch den Besatzungen der Kriegs- und Handelsschiffe, die in unaufhörlichem Einsatz an der Front diese Aufgabe meisterten.

Ich hatte dafür gesorgt, daß keine örtlichen Stellen hindernd oder zerstörend in den Werft- und Hafenbetrieb der noch verfügbaren Seehäfen eingreifen durften. Überall auf den Werften mußte mit Hochdruck gearbeitet werden, um die Handels- und Kriegsschiffe fahrbereit zu halten. Sie waren in den Häfen und in See häufig Luftangriffen ausgesetzt. Außerdem traten Beschädigungen durch Minen und Torpedos russischer U-Boote ein, und die ständige Beanspruchung der Maschinenanlagen machte häufigere Reparaturen nötig. Diese mußten im Interesse der Transportaufgabe so schnell wie möglich ausgeführt werden.

Als Hitler am 19. 3. 1945 den bekannten Zerstörungsbefehl unter dem Stichwort „verbrannte Erde“ erließ, kam es mir darauf an, Maßnahmen, welche daraus für die Marine ausgelöst werden konnten, unter meine Kontrolle zu bekommen. In dem am 30. März 1945 vom Oberkommando der Wehrmacht hierzu erlassenen Ausführungsbestimmungen wurde angeordnet, daß Zerstörungen in den Seehäfen und Werften meiner Genehmigung bedurften. Ich beauftragte in den Seestädten die Kriegsmarinedienststellen als meine Organe mit diesem gesamten Fragenkomplex.

Die Steuerung der Seetransporte machte es auch erforderlich, daß ich mir von Hitler die Kohlen- und Treibstoffverteilung in Norddeutschland übertragen ließ. Ich mußte sicherstellen können, daß die Transportschiffe den notwendigen Brennstoff bekamen.

Als dann durch den Vorstoß der Russen an die mittlere Oder bei Küstrin und Frankfurt und das Vordringen der amerikanischen Offensive nach Mitteldeutschland eine Aufspaltung des Reiches in einen Nord- und Südteil drohte, ordnete Hitler am 10. April vorsorglich an, daß mir die Befehlsgewalt in Norddeutschland übertragen werden sollte, was aber nur besagte, daß ich, falls die Anordnung in Kraft träte, die notwendigen Entscheidungen auf dem zivilen Sektor zu treffen hätte. Der He fehl über die militärischen Operationen sollte nur an mich übergehen, falls Hitler und das Oberkommando der Wehrmacht sich nicht mehr im Nordraum befänden, sondern in den deutschen Südraum auswichen.

Für meine Aufgaben zu Lande wurden mir als Reichskommissar für den zivilen Sektor der Bremer Gauleiter Wegener und für die militärischen Landoperationen der General Kinzel zugeteilt.

Im Zuge dieser Anordnung Hitlers ging ich am 22. April 1945 unmittelbar vor der Einschließung Berlins durch die Russen nach Plön in Holstein.

Die Übertragung des Befehls über den Nordraum auf mich war ohne mein Zutun erfolgt. Ich hielt diese Maßnahme für grundsätzlich richtig. Daß die in der Anordnung Hitlers vorgesehene Verteidigung des Nordens praktisch nicht durchführbar war, erkannte ich bald in aller Klarheit auf Grund der in Plön sofort angestellten Untersuchungen. Aber meine Ernennung versetzte mich doch in die Lage, auch die zivilen Dienststellen und Staatsorgane, soweit erforderlich für die Weiterleitung der auf dem Lande aus Ostdeutschland kommenden Flüchtlingstrecks zu koordinieren. Jede Unordnung störte und behinderte den Transport über See oder auf dem Lande und mußte mit Menschenverlusten bezahlt werden. Eigenmächtigkeiten oder Mangel an Zusammenarbeit, die sich auf den Zustrom und die Unterbringung der Flüchtlinge nachteilig auswirkten, mußten daher verhindert oder abgestellt werden. Ich bat am 23. April die Gauleiter von Mecklenburg, Schleswig-Holstein und Hamburg zum Zwecke einer entsprechenden Zusammenarbeit zu mir nach Plön. Nur zwei von ihnen erschienen, der Gauleiter Hamburgs, Kaufmann, kam nicht. Er versagte sich einer Zusammenarbeit. Mir wurde dann bald klar, daß er schon seit Mitte April eine möglichst schnelle Sonderkapitulation für Hamburg erstrebte. Einer solchen eigenmächtigen Übergabe Hamburgs an die Alliierten, dem Kampfabschnitt entsprechend an die Engländer, konnte ich jedoch zu diesem Zeitpunkt keinesfalls zustimmen. Denn für die Aufnahme der Flüchtlinge aus Ost- und Westpreußen und aus Pommern, die über Land nach dem Westen treckten oder über See kamen, mußte ein ausreichend großes Gebiet zur Verfügung bleiben. Dafür kam nur noch Schleswig-Holstein in Frage, weil nicht zu erwarten war, daß Mecklenburg, welches nach der uns bekannten Besatzungskarte der Alliierten zur russischen Zone gehören sollte, auf die Dauer gehalten werden konnte. In Schleswig-Holstein lag zudem der Kriegsmarinehafen Kiel, der Stütz- und Ausgangspunkt für den gesamten Transporterdienst der Kriegsmarine in der Ostsee und zugleich der Sitz der dazugehörigen Befehlsorganisation. Kapitulierte Hamburg, so würde den Engländern auch sofort Schleswig-Holstein in den Schoß fallen und die Kriegsmarinehäfen sowie die für die Rückführung der Flüchtlinge noch offenen Häfen der Handelsschiffahrt hierdurch verloren gehen. Die militärische Organisation der Kriegsmarine für die Seetransportaufgaben würde von der englischen Besatzungsmacht aufgehoben, die Marinesoldaten zu Gefangenen gemacht und den Flüchtlingstransporten damit ein Ende gemacht werden. Anlandungen von Flüchtlingen aus dem Osten würden dann nicht mehr möglich sein. Ob für die über Land ankommenden Trecks der Aufnahmeraum Schleswig-Holstein auch nach seiner Besetzung durch die Engländer noch offen sein würde, war ganz unsicher. Die Aufnahme hing dann auf jeden Fall von der englischen Zustimmung ab. Die Einstellung der Engländer zu dieser Frage kannten wir jedoch nicht.

Weil die Engländer aller Wahrscheinlichkeit nach Rücksicht auf ihre russischen Verbündeten nehmen würden, war es auch nicht zu erwarten, daß sie die Angehörigen der deutschen Weichselarmee, die vom linken Oderufer her sich mit den Flüchtlingen auf dem Rückzug nach Westen befand, in Schleswig-Holstein in Gewahrsam nehmen würden. So haben wir später erfahren müssen, daß die amerikanische Armeefront die Aufnahme von Flüchtlingen und selbst einzelner unbewaffneter Soldaten der Armee Schörner verweigerte, sie mit Waffengewalt an der Flucht nach Westen hinderte, sie zusammentrieb und den Russen auslieferte.

Demnach konnte eine vorzeitige selbständige Kapitulation Hamburgs nur mit dem Verlust einer nicht abschätzbaren Zahl von Flüchtlingen und deutschen Soldaten aus dem Ostraum bezahlt werden. Am 30. April erhielt ich ein Fernschreiben von Kaufmann, aus dem seine Absichten hervorgingen. Ich sandte ihm daher am gleichen Tage nachmittags, also noch vor meiner Ernennung zum Regierungschef, folgende Antwort:

„1.) Hauptsorge der militärischen Führung in der augenblicklichen Situation ist die Rettung deutschen Landes und deutschen Volkstums vor dem Bolschewismus. Der Schwerpunkt der Kampfführung liegt daher eindeutig im deutschen Osten. Es wird militärisch alles nur Denkbare getan, den russischen Vormarsch im Mecklenburger Raum abzustoppen oder zumindest so lange als möglich aufzuhalten, um den Abfluß der deutschen Menschen zu ermöglichen.

2.) Dieser Abfluß ist nur durchführbar, solange ein Tor nach Westen über die in Jalta vereinbarte Grenzlinie der Besatzungszone offen bleibt. Wird der Elbe-Trave-Kanal jetzt durch die Engländer versperrt, geben wir 7 Millionen Deutsche der russischen Willkür preis.

3.) Es ist daher unumgänglich notwendig, die Elbestellung mit äußerster Zähigkeit gegen den Westen zu verteidigen. Wo durch diese Kampfaufgabe Sachwerte zerstört werden, wird dies durch die Rettung deutschen Blutes im deutschen Osten tausendfach gerechtfertigt. Eine darüber hinausgehende Zerstörung von Häfen oder Industrieanlagen ist nicht beabsichtigt und muß unter allen Umständen verhindert werden.

4.) Durch rückhaltlose Unterstützung vorstehender Kampf auf gaben können Sie und die Stadt Hamburg den besten Beitrag zum Schicksalskampf unseres Volkes leisten.“

In diesen Apriltagen wäre also die alleinige und vorzeitige Kapitulation Hamburgs falsch gewesen. Waren einmal die Aufnahme- und Seetransportaufgaben im Raum Schleswig-Holstein erfüllt, so entstand für Hamburg eine andere Lage. Ich dachte für diesen Fall in keiner Weise an eine nutzlose Verteidigung. Jetzt aber war es noch erforderlich, die Elbefront Schleswig-Holsteins nach Westen gegen die Engländer zu halten, damit der dahinter liegende Aufnahmeraum frei blieb. Vor allem durften die Hamburger Elbbrücken nicht in englische Hand fallen. Die Verteidigung mußte dabei möglichst weit nach Südwesten vorgeschoben sein, weil dadurch gleichzeitig erreicht wurde, daß Hamburg und seine Bevölkerung nicht in ihren Nahbereich gerieten. Die von Feldmarschall Busch, dem militärischen Oberbefehlshaber Nordwest, erlassenen Befehle lagen in dieser Richtung.

Es war deshalb wichtig, dem Hamburger Kampfkommandanten, Generalmajor Wolz, soviel Kräfte wie möglich für die Verteidigung Hamburgs zur Verfügung zu stellen. Im Hamburger Hafen befanden sich U-Bootbesatzungen, die auf ihren Booten wegen der veränderten Kriegslage nicht mehr eingesetzt werden konnten. Sie wurden feldgrau eingekleidet und dem Generalmajor Wolz zur Verfügung gestellt. Aus ihnen ließ dieser ein Panzervernichtungsbataillon bilden, das unter der Führung von Korvettenkapitän Cremer und der Kapitänleutnante Peschel und Thäter stand. Wenn ich den kämpferischen Geist der U-Bootmänner auch kannte, so war ich doch voller Sorge, ob sie dem ungewohnten Landkampf gewachsen sein würden. Generalmajor Wolz setzte das Marine-Panzervernichtungsbataillon zusammen mit Polizei- und Luftwaffeneinheiten in operativ geschickten Stoßtruppunternehmen an. Sie gingen in das bereits von Engländern besetzte Gebiet südwestlich Hamburgs hinein und vernichteten in der Zeit vom 18. bis 20. April etwa 40 englische Panzer und gepanzerte Fahrzeuge. An diesen Erfolgen hatte nach dem Gefechtsbericht des Generalmajors Wolz das Bataillon Cremer den größten Anteil. Wegen solchen unerwartet hohen Verlusten stellten die Engländer in diesem Raum ihren Angriff zunächst einmal ein; ihr Vormarsch nach Hamburg verzögerte sich. So blieb die Stadt von einem unmittelbaren Angriff verschont, bis die weitere Entwicklung der Lage ihre Kapitulation erlaubte.

Die Frage der Führung in Norddeutschland hatte sich für mich am 23. April geklärt. Hitler entschied sich, in Berlin zu bleiben. Das Oberkommando der Wehrmacht wurde aus Berlin heraus nach Rheinsberg verlegt. Damit verblieb die operative Führung in Norddeutschland nach der Anfang April gegebenen Befehlsregelung bei Hitler bzw. dem Oberkommando der Wehrmacht unter Generalfeldmarschall Keitel und Generaloberst Jodl. Meine Tätigkeit konzentrierte und beschränkte sich auf die Seetransporte in der Ostsee und auf die Erleichterung der Durchführung von Flüchtlingstrecks über Land.

Am 28. 4. fuhr ich von Plön nach Rheinsberg zum Oberkommando der Wehrmacht. Ich wollte mich über die militärische Lage an der Ostfront persönlich unterrichten. Die Straßen zwischen Plön und Rheinsberg waren von nach Westen fahrenden und marschierenden Flüchtlingskolonnen überfüllt. Mit Verwundeten, Wehrmachtsangehörigen und Zivilpersonen überladene Wehrmachtsfahrzeuge zogen mit ihnen. Anglo-amerikanische Jagdflieger schössen in die verkehrsgedrängten Straßen hinein. Kamen die Jabos, so verließen auch pflügende Bauern fluchtartig ihre Pferdegespanne auf dem Acker, um irgendwo in der Nähe Deckung zu suchen. Durch den Jägerbeschuß gab es Tote und Verwundete unter den Flüchtlingen.

Als ich in Rheinsberg beim Oberkommando der Wehrmacht ankam, sah ich auch Himmler dort. Nach der Lagebesprechung brachte er das Gespräch auf die Frage der Nachfolgeschaft Hitlers, falls dieser in Berlin ausfiele. Er fragte mich, ob ich mich zur Verfügung stellen würde, wenn Hitlers Nachfolger ihn mit einer Staatsfunktion betrauen würde. Ich antwortete, daß es jetzt vor allem darauf ankäme, Chaos zu vermeiden, das nur weiteres Blut kosten würde. Ich würde mich darum jeder legalen Regierung zur Verfügung stellen.

Auf militärischem Gebiet zeigte mir die Lagebesprechung, daß die „Weichselarmee“ dem Druck des russischen Vormarsches nicht mehr länger würde standhalten können. Mit dem baldigen Verlust auch Mecklenburgs war zu rechnen. Hieraus konnte ich nur eins folgern: Immer wieder alles zu tun, um über See und zu Lande die Menschentransporte zu beschleunigen.

Die Besprechung in Rheinsberg erwies klar, daß von einer Einheitlichkeit der deutschen Führung keine Rede mehr sein konnte. Aus der Abgeschlossenheit des Berliner Bunkers konnte nicht geführt werden. Es Instand zwar von dort noch Telefonverbindung nach außen, und außerdem hatte ich sicheren Funkverkehr durch einen Marinenachrichtentrupp, der mit neuen, keiner anderen Stelle bekannten, geheimen Schlüsselmitteln ausgerüstet war. Nachrichten, die ich auf diesem Wege erhielt, waren inner allen Umständen zuverlässig. Aber irgendeine eigene Urteilsbildung über die Lage draußen war in Berlin nicht mehr möglich.

Göring, der als Staatschef vorgesehene Nachfolger, befand sich in Süd-Deutschland.

Am 23.4. erhielt ich aus der Reichskanzlei in Berlin die Nachricht, daß Göring einen Putsch unternommen und Hitler ihn daraufhin aller seiner Posten enthoben habe. Generaloberst Ritter von Greim sei zum Oberbefehlshaber der Luftwaffe ernannt.

Später sollte sich herausstellen, daß die Annahme, Göring habe geputscht, auf einem Irrtum beruhte. Dieser Fall war jedoch charakteristisch für die mit Spannung geladene politische Atmosphäre und dafür, wie leicht die Abgeschlossenheit im Bunker, in die sich Hitler begeben hatte, zu Fehlentscheidungen führen mußte.

Am 23. April wurde mir durch die Nachricht von der Amtsenthebung Görings klar, daß dieser als Nachfolger Hitlers nicht mehr in Frage kam.

Ich glaubte von diesem Augenblick an nicht mehr daran, daß es noch gelingen könnte, eine einheitliche Führung zu bilden. Ich nahm mir vor, solange es irgend möglich war, mit der Kriegsmarine der letzten sinnvollen politischen und militärischen Aufgabe zu dienen, Menschen aus dem Osten zu retten. Sobald die Entwicklung der Lage dies nicht länger erlaubte, unser Einsatz also nicht mehr von Nutzen sein konnte, wollte ich mit der Kriegsmarine kapitulieren.

Am 30. April 1945 erhielt ich mit dem Marineschlüssel einen Funkspruch aus der Reichskanzlei: „Neuer Verrat im Gange. Laut Feindrundfunk hat Reichsführer (Himmler) über Schweden Kapitulationsangebot gemacht. Führer erwartet, daß Sie gegen alle Verräter blitzschnell und stahlhart vorgehen. Bormann.“

Dies schien mir wieder das zu sein, was wir in der Marine eine „wilde Sache“ nannten. Für mich war die Wahrung der Ordnung im Interesse meiner Hauptaufgabe zu dieser Zeit das Wichtigste. Was bedeutete zudem der Befehl, daß ich gegen den Reichsführer, der noch über seine Polizei- und SS-Kräfte verfügte, „blitzschnell und stahlhart“ vorgehen sollte? Ich besaß dazu keinerlei Machtmittel.

Die Kriegsmarine fuhr mit allen Schiffen für ihre Transportaufgabe zur See oder half mit ihren Marinedivisionen und -bataillonen die Heeresfronten zu stützen. Zu meinem Schutz oder dem meines Stabes in Plön war nicht ein Mann abgeteilt. Ich konnte also gegen Himmler gar nicht mit Gewalt vorgehen. Ich wollte es auch nicht, weil die Folge hiervon nur Chaos sein würde. Mein Entschluß war daher einfach und schnell gefaßt. Ich bat Himmler um ein Treffen. Ich wollte wissen, was er spielte. Wir verabredeten uns in einer Polizeikaserne in Lübeck.

Gegen Mittag, als ich abfahren wollte, erschienen der Chef der Seekriegsleitung, Admiral Meisel, und der Gauleiter Wegener bei mir und drückten ihre Sorge um die Sicherheit meiner Person aus, wenn ich zu Himmler führe. Ich suchte sie zu beruhigen.

Meisel erklärte mir bei dieser Gelegenheit, es ginge auch nicht mehr, daß ich lediglich von meinem Schäferhund bewacht würde. Er bat um Erlaubnis, wenigstens den Korvettenkapitän Cremer mit seinen U-Boot-Soldaten zu meinem Schutz nach Plön kommen zu lassen. Ich erklärte mich einverstanden.

In der Polizeikaserne in Lübeck waren anscheinend alle erreichbaren hohen SS-Führer versammelt. Himmler ließ mich warten. Er schien sich bereits als Staatsoberhaupt zu fühlen. Ich fragte ihn, ob die Nachricht zuträfe, daß er über den Grafen Bernadotte Verbindung zu den Alliierten gesucht habe. Er erklärte, diese Behauptung sei unwahr. Er sei im übrigen ebenfalls der Ansicht, daß jetzt am Ende des Krieges durch. Uneinigkeit keinesfalls zusätzliches Chaos entstehen dürfe. Wir schieden friedlich.

Ich erfuhr bald nach der Kapitulation, daß er mich belogen hatte, als. er seine Verhandlungen ableugnete.

Am 30. April gegen 18 Uhr war ich wieder in Plön. Dort fand ich den Marineoberbefehlshaber Ostsee, Generaladmiral Kummetz, vor, der mir über die Lage in der Ostsee und die laufenden Seetransporte berichten wollte. Außerdem war der Rüstungsminister Speer anwesend,, der sich schon seit längerer Zeit in Norddeutschland befand. In Gegenwart dieser beiden Herren legte mir mein Adjutant, Korvettenkapitän Lüdde-Neurath, ein Funktelegramm vor, das mit dem sicheren, geheimen Marineschlüssel aus dem Führerbunker in Berlin an mich gekommen war. Es hatte folgenden Inhalt:

„F R R Großadmiral Dönitz.

An Stelle des bisherigen Reichsmarschalls Göring setzt der Führer Sie, Herr Großadmiral, als seinen Nachfolger ein. Schriftliche Vollmacht unterwegs. Ab sofort sollen Sie sämtliche Maßnahmen verfügen, die sich aus der gegenwärtigen Lage ergeben. Bormann.“

Diese Ernennung überraschte mich völlig. Ich hatte seit dem 20. Juli 1944 Hitler nur noch in großem Kreis gesprochen. Niemals hatte er mir gegenüber die geringste Andeutung gemacht, daß er mich als seinen Nachfolger in Betracht gezogen hätte. Niemals hatte ich von irgend einer dinieren Seite einen Hinweis in dieser Richtung erhalten. Ich glaube auch nicht, daß irgend eine andere führende Persönlichkeit damit gerechnet hatte. In den letzten Tagen des April war mir zwar klar geworden, daß Göring als Nachfolger Hitlers ausgeschieden war. Offenbar baute Himmler darauf, an seine Stelle zu treten. Nie war ich selbst auf den Gedanken verfallen, daß mir eine solche Aufgabe gestellt werden könnte. Nach einem rein soldatischen Leben wäre mir dieser Gedanke ganz unwahrscheinlich vorgekommen. Ich wußte mir auch bei Empfang jenes Telegramms noch nicht zu erklären, wie es zu dieser Ernennung gekommen war. Erst später habe ich folgendes erfahren: Der Reichsminister Speer war am 23. 4. nochmals von Norddeutschland nach Berlin zur Reichskanzlei geflogen. Er wollte sich von Hitler verabschieden. Speer erzählte mit später im Winter 1945/46, er sei bei diesem Besuch zufällig dabei gewesen, als Hitler die Abfassung seines Testaments überlegt habe. Speer selbst habe angeregt, mich zum Nachfolger Hitlers zu ernennen. Hitler wäre daraufhin sichtlich sehr nachdenklich geworden, wie es bei ihm der Fall war, wenn ihn etwas besonderes beschäftigte. Nach dieser Erzählung Speers halte ich es für möglich, daß Hitler erst auf Grund der Speerschen Anregung den Gedanken gefaßt hat, mir das Amt seines Nachfolgers zu übertragen.

Am 30. April 1945 sagte mir Speer, der beim Eintreffen des Ernennungstelegramms bei mir war, jedoch nichts von diesem Gespräch.

Ich vermutete, daß Hitler mich für diese Aufgabe bestimmt hatte, weil er den Weg zur Beendigung des Krieges durch einen Soldaten frei machen wollte. Daß diese Annahme falsch war, erfuhr ich erst im Winter 1945/46, als mir in Nürnberg Hitlers Testament bekannt wurde, in dem er die Fortsetzung des Kampfes forderte.

Als ich den Funkspruch gelesen hatte, zweifelte ich keinen Augenblick daran, daß ich den Auftrag annehmen mußte. Ich hatte in den letzten Tagen befürchtet, daß das Fehlen einer verantwortlichen zentralen Befehlsinstanz ein Chaos herbeiführen würde, welches noch Hunderttausende von Menschen ohne Sinn und Zweck ins Verderben stürzen würde. Ich glaubte jetzt, diesem Zustand durch schnelles Handeln und durch Anordnungen, die für alle verbindlich waren, steuern zu können.

Es war mir klar, daß mir die dunkelste Stunde bevorstand, die ein „Soldat erleben konnte, die Stunde der bedingungslosen militärischen Kapitulation. Ich wußte auch, daß mein Name für alle Zeiten mit ihr verknüpft bleiben würde und daß man mit Haß und Tatsachenentstellung versuchen würde, meine Ehre anzugreifen. Das Gebot der Pflicht verlangte von mir, daß dies alles keine Rolle spielen durfte.

Mein Regierungsprogramm war einfach. Es galt, so viel Menschenleben zu retten wie möglich. Das Ziel war das gleiche wie in den letzten Kriegsmonaten. Alle Maßnahmen waren unter diesem Gesichtspunkt zu treffen. Lehnte ich ab, so würde es keine einheitliche Leitung bei der Durchführung dieser Aufgabe geben. Es würde an zahlreichen Stellen zu selbständigen Kapitulationen oder auch zur Verkündigung von Durchhalteparolen kommen, oft beides am gleichen Ort.

Auflösung der militärischen Disziplin, Auseinanderlaufen der Truppe, Bruderkrieg und Chaos würden die Folge sein. In diesen Zustand der Unordnung und des Handelns nach den verschiedensten egoistischen Gesichtspunkten würde der Feind weiter kriegführend hineinstoßen. Die deutschen Städte müßten fernerhin Bombenangriffe erleiden. Denn keinerlei verbindliche Kapitulation würde erfolgen können, die den Gegner zur Einstellung der Kampfhandlungen verpflichtete. Das Chaos, das dann in Deutschland entstand, würde auch seine Rückwirkungen auf die noch von uns besetzten fremden Gebiete haben, vor allem die Niederlande, Dänemark und Norwegen. Der Aufstand der Bevölkerung dieser Länder und seine Abwehr durch die dort befindlichen Deutschen würden auch hier zu Kampf und Blutvergießen führen und unser Verhältnis zu diesen Völkern in der Zukunft noch mehr belasten. Also mußte ich sofort tätig werden. Zuerst hatte ich Klarheit über Himmler zu schaffen. Sein Verhalten am Nachmittag des gleichen Tages, an dem das Ernennungstelegramm eintraf, hatte mir gezeigt, daß er mit dem Amt des Staatschefs rechnete. Das bedeutete für mich eine Gefahr. Er hatte noch überall Machtmittel zur Verfügung. Ich besaß keine. Wie würde er sich mit der neuen Lage abfinden? Ein Zusammenarbeiten mit ihm kam für mich jetzt, nachdem ich die Verantwortung für die Besetzung der Staatsämter hatte, nicht in Frage. Meine Absichten ließen es nicht zu, daß ich mich irgendwie politisch belastete. Wenn ich zu dieser Zeit über das, was Himmler verschuldet hatte, auch wenig Kenntnis hatte, so war mir doch bereits klar, daß er für mich nicht tragbar war. Das mußte ich ihm zur Kenntnis bringen und mich mit ihm auf Biegen oder Brechen auseinandersetzen. Ich beauftragte daher am 30. April abends bald nach Erhalt des Funkspruchs meinen Adjutanten, Himmler, den ich ja gerade in Lübeck verlassen hatte, zu bitten, sofort zu mir nach Plön zu kommen. Er lehnte dies am Telefon meinem Adjutanten gegenüber ab. Daraufhin sprach ich selbst mit ihm und sagte ihm, daß sein Kommen notwendig sei. Er willigte schließlich ein.

Gegen 12 Uhr nachts traf er mit sechs bewaffneten SS-Offizieren bei mir ein. Mein Adjutant Lüdde-Neurath nahm sich dieser Begleitung an. Ich bot Himmler einen Stuhl in meinem Zimmer und setzte mich hinter den Schreibtisch, auf dem ich griffbereit eine entsicherte Pistole unter Papieren verborgen hatte. Ich hatte so etwas in meinem ganzen Leben noch nicht getan. Aber ich wußte nicht, was diese Zusammenkunft noch bringen würde.

Ich reichte Himmler den Funkspruch mit meiner Ernennung. „Bitte lesen Sie!“ Ich beobachtete sein Gesicht. Es drückte beim Lesen großes Erstaunen, sogar Bestürzung aus. Eine Hoffnung schien in ihm zusammenzubrechen. Er wurde sehr blaß. Er stand auf, verbeugte sich und sagte: „Lassen Sie mich in Ihrem Staat der zweite Mann sein.“ Ich erklärte ihm, daß das nicht in Frage käme. Ich hätte keine Verwendung für ihn.

Mit dieser Unterrichtung schied er gegen 1 Uhr nachts von mir. Die Auseinandersetzung war ohne Gewalt vonstatten gegangen. Mir war leichter. Ich war zwar nicht ganz sicher, ob nicht Himmler noch etwas in den kommenden Tagen gegen meine Regierungsmaßnahmen veranlassen würde. Aber immerhin war bisher eine gewaltsame Auseinandersetzung mit allen Folgen, die ich für die innere Ordnung und die Rettung von Menschen fürchtete, verhindert.

Ich hatte nun Freiheit zu weiterem Handeln. In derselben Nacht noch bekamen Generalfeldmarschall Keitel und Generaloberst Jodl Befehl, zu mir nach Plön zu kommen. Für meine weiteren Maßnahmen wollte ich mir so schnell wie möglich ein persönliches Bild von der militärischen Lage machen.

Am 1. Mai morgens ging ein zweiter Funkspruch aus der Reichskanzlei in Berlin ein, der dort um 7,40 Uhr aufgegeben war. Er lautete:

„FRR Großadmiral Dönitz (Chefsache).

Testament in Kraft. Ich werde so schnell wie möglich zu Ihnen kommen. Bis dahin m. E. Veröffentlichung zurückstellen. Bormann.“

Aus diesem Funkspruch entnahm ich, daß Hitler tot war. Daß er bereits nicht mehr lebte, als der erste Funkspruch mit meiner Ernennung am 30. April um 18,15 Uhr in Berlin aufgegeben wurde, erfuhr ich erst später. Warum mir sein Tod darin verheimlicht wurde, weiß ich nicht. Im Gegensatz zu Bormanns Hinweis im zweiten Funkspruch „Veröffentlichung zurückstellen“ hielt ich es für notwendig, das deutsche Volk und die deutsche Wehrmacht so schnell wie möglich davon zu unterrichten, was sich ereignet hatte. Ich fürchtete, daß Hitlers Tod und die Tatsache, daß ich sein Nachfolger war, sonst aus anderer Quelle und vielleicht in schädlicher Form bekannt werden könnten. Die Folgen würden Verwirrung im Volk und Auflösung in der Truppe sein, bei letzterer vor allem deshalb, weil sie sich durch den Tod des Staatsoberhauptes ihres Eides entbunden fühlen konnte. Volk und Wehrmacht mußten gleichzeitig mit dieser Benachrichtigung auch davon unterrichtet werden, welche Absichten ich hatte. Aus diesen Überlegungen entstand die Fassung meiner Bekanntgabe an das deutsche Volk vom 1. Mai 1945 über den Norddeutschen Rundfunk.

Aus dem Satz des zweiten Funkspruchs „Testament in Kraft“ konnte ich nur entnehmen, daß Hitler nicht mehr am Leben sei. Von seinem Selbstmord wußte ich nichts. Ich hielt diesen nach der Kenntnis, die ich von seiner Persönlichkeit zu haben glaubte, nicht für möglich, sondern nahm an, daß er im Kampfe in Berlin den Tod gesucht und gefunden hatte. Eine ehrenvolle Fassung der Bekanntgabe seines Todes schien mir daher richtig. Ihn nach seinem Tode sofort herabzusetzen, wie es zum Teil auch in meiner Umgebung fühlbar in der Luft lag, hielt ich für billig.

Gerade diese Tendenz machte mich geneigt, die Bekanntgabe eher positiv für Hitler zu fassen. Die Geschichte würde ohnehin einmal über ihn ihr richtendes Urteil fällen. Meine Kenntnis der unmenschlichen Seiten des nationalsozialistischen Staates war damals sehr begrenzt. Ich erfuhr darüber zu meiner Erschütterung erst nach Kriegsende. Damals glaubte ich aus einem Gefühl des Anstandes heraus, daß ich die Bekanntgabe so fassen sollte, wie es geschah. Ich glaube auch, daß ich es heute nicht anders täte, wenn ich bei gleicher Begrenzung meines Wissens über diese Seiten des damaligen Systems in die gleiche Lage käme.

Im übrigen hat mich die Form der Bekanntgabe von Hitlers Tod damals gegenüber den zu lösenden Aufgaben nicht in erster Linie beschäftigt. Diese Ankündigung betraf die Vergangenheit. Dagegen kam es mir vor allem darauf an, dem deutschen Volk zu sagen, was ich in der Zukunft wollte.

Deshalb sagte ich am 1. Mai 1945 in meiner Rundfunkansprache:

„Der Führer hat mich zu seinem Nachfolger bestimmt. Im Bewußtsein der Verantwortung übernehme ich die Führung des deutschen Volkes in dieser schicksalsschweren Stunde. Meine erste Aufgabe ist es, deutsche Menschen vor der Vernichtung durch den vordrängenden bolschewistischen Feind zu retten. Nur für diesen Zweck geht der militärische Kampf weiter. Soweit und solange die Erreichung dieses Ziels durch die Briten und Amerikaner behindert wird, werden wir uns auch gegen sie weiter verteidigen und weiterkämpfen müssen. Die Angloamerikaner setzen dann den Krieg nicht mehr für ihre eigenen Völker, sondern allein für die Ausbreitung des Bolschewismus in Europa fort.“

Entsprechend erklärte ich am 1. Mai 1945 in meinem Tagesbefehl an die Wehrmacht:

„Der Führer hat mich zu seinem Nachfolger als Staatsoberhaupt und als Obersten Befehlshaber der Wehrmacht bestimmt. Ich übernehme den Oberbefehl über alle Teile der deutschen Wehrmacht mit dem Willen, den Kampf gegen die Bolschewisten so lange fortzusetzen, bis die kämpfende Truppe und die Hunderttausende von Familien des deutschen Ostraumes vor der Versklavung oder Vernichtung gerettet sind. Gegen Engländer und Amerikaner muß ich den Kampf so weit und so lange fortsetzen, wie sie mich in der Durchführung des Kampfes gegen die Bolschewisten hindern.“

Von besonderer Dringlichkeit schien es mir, für die zu erwartenden außenpolitischen Aufgaben einen erfahrenen Berater bei mir zu haben, einen Mann, der nicht mit der deutschen Außenpolitik der letzten Jahre belastet war. Ich wünschte, daß der frühere Außenminister Freiherr von Neurath, den ich auch persönlich seit 1915 kannte, das Amt des Außenministers und ersten Ministers in der von mir zu bildenden behelfsmäßigen Regierung übernähme. Mein Adjutant Lüdde-Neurath bekam den Auftrag, festzustellen, wo sich Freiherr von Neurath befand. Er fragte telefonisch Herrn von Ribbentrop danach, der sich in der Nähe Plöns aufhielt. Die Folge von Lüddes Anfrage war, daß Ribbentrop bei mir erschien und den Standpunkt vertrat, er selbst sei der rechtmäßige und auch der geeignete Außenminister; die Engländer hätten doch immer gern mit ihm verhandelt. Ich lehnte Ribbentrop ab. Es gelang nicht, Freiherrn von Neurath zu erreichen. Wie ich später erfuhr, befand er sich zu dieser Zeit in Vorarlberg. Ich hatte also eine andere Wahl zu treffen.

In den letzten Tagen vor meiner Ernennung hatte mich der Finanzminister Graf Schwerin-Krosigk in meinem Quartier in Plön besucht. Wir hatten bisher, bis auf ein einmaliges Kennenlernen, noch nie etwas miteinander zu tun gehabt. Bei seinem Besuch hatten wir die Gesamtlage besprochen. Seine klare, kluge Beurteilung der Situation hatte mir Eindruck gemacht. Ich war überzeugt, daß seine außenpolitische Auffassung, daß Deutschland zum Westen Europas gehöre, sich mit meinen Ansichten deckte.

Ich bat ihn daher am 1. Mai zu mir und drückte ihm meine Bitte aus, daß er sich als politischer Berater und Vorsitzender eines zu bildenden Kabinetts zur Verfügung stellen möge, soweit dieses für die zu lösenden Aufgaben noch gebraucht würde. Ich sagte ihm, es sei klar, daß keinerlei Lorbeeren zu ernten wären, daß aber das Gebot der Pflicht sowohl ihm wie mir auferlege, diese undankbare Aufgabe im Interesse des deutschen Volkes auf sich zu nehmen. Er bat sich Bedenkzeit aus. Dies war verständlich. Am 2. Mai kam er zu mir und sagte, daß er bereit sei. Die Art meiner Trennung von Himmler hatte bei seinem Entschluß eine Rolle gespielt.

Es zeigte sich, daß ich keine bessere Wahl hätte treffen können. Der Rat dieses charaktervollen, klugen und jedes Problem gründlich durchdenkenden Mannes war mir in den kommenden Wochen von großem Wert. Es sollte sich ergeben, daß wir in allen grundsätzlichen Fragen übereinstimmten. Obwohl er amtlich nur die Leitung des zivilen Sektors der Geschäfte übernommen hatte, bat ich ihn in der Folgezeit, auch an den militärischen Besprechungen teilzunehmen. Hierbei erwies es sieh, daß sein Urteil mit meinen Ansichten auch über die militärischen Notwendigkeiten sich stets deckte.

Entsprechend meinem Befehl trafen in der Nacht vom 30. April zum 1. Mai der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Generalfeldmarschall Keitel, und sein Chef des Wehrmachtführungsstabes, Generaloberst Jodl, bei mir ein.

Meine Meinung über das Oberkommando der Wehrmacht war, daß es infolge seines langen, isolierten Stabslebens im Umkreis von Hitler nicht frontnahe genug sei, um jetzt die zweckmäßigsten Entschlüsse zu fassen. Dabei schätzte ich die sachliche kluge Denkungsart und das anständige, gerade Soldatentum des Generalobersten Jodl.

In den letzten Apriltagen vor meiner Ernennung waren die Generalfeldmarschälle von Bock und von Manstein bei mir gewesen. Wir hatten Über die militärische Lage gesprochen. Manstein hatte dabei besonders die Notwendigkeit betont, die Armeen der Ostfront allmählich zurückzunehmen, um sie in die Nähe der amerikanischen und englischen Fronleu zu bringen. Dies deckte sich durchaus mit meiner Ansicht. Ich ordnete daher am 1. Mai an, Verbindung mit Manstein herzustellen. Ich wollte ihn bitten, statt Keitels nunmehr die Leitung des Oberkommandos der Wehrmacht zu übernehmen. Es gelang jedoch nicht, Manstein zu erreichen. Also blieb die Besetzung des Oberkommandos der Wehrmacht bei Keitel und Jodl.

Beide hielten mir nach ihrem Eintreffen am 1. Mai und von da an täglich Vortrag über die militärische Gesamtlage.

Ich möchte im folgenden kurz wiedergeben, wie sich mir die Lage in diesen Tagen darstellte und wie ich sie später in den ersten Wochen der Gefangenschaft aus frischer Erinnerung meinem Adjutanten diktiert habe:

„1.) Durch die Bombenangriffe der letzten Monate war jegliche Kriegsproduktion auf ein Mindestmaß herabgesunken. Irgendwelche Reserven an Munition, Waffen oder Treibstoff waren nicht mehr vorhanden. Das Verkehrswesen lag vollkommen danieder, so daß ein Ausgleich oder eine Verlagerung irgendwelcher Rohstoffe, Fertigwaren oder Nahrungsmittel außerordentlich schwierig, wenn nicht unmöglich war.

2.) Die Heeresgruppe in Italien hatte kapituliert. Das Westheer unter Feldmarschall Kesselring befand sich in Auflösung.

3.) Im Osten war die Südost-Armee in geordnetem Rückzug auf Jugoslawien. Die Heeresgruppe Rendulic hielt ihre Stellung in der Ostmark, gleicherweise war die Heeresgruppe Schörner in ihrer Front gegen Rußland völlig intakt. Die beiden letzten Heeresgruppen hatten jedoch nur noch für kurze Zeit Munition und Betriebsstoff.

4.) Die Entsetzung Berlins war nicht geglückt. Die Armee Busse suchte sich durch Rückzug nach Westen der Umklammerung zu entziehen. Der Angriff der Armee Wenck hatte nicht durchgeschlagen, sie befand sich ebenfalls im Absetzen nach Westen.

5.) Die Heeresgruppe im nördlichen Teil der Ostfront befand sich in Auflösung auf dem Rückzug in den Mecklenburger Raum hinein.

6.) Die Truppen in Ost- und Westpreußen wurden von der russischen Übermacht erdrückt. Die Front in Kurland hielt. Irgendein Nachschub an Munition und Treibstoff konnte ihr jedoch wegen Mangel an Nachschubgütern, nicht mehr gebracht werden. Das Erliegen dieser Fronten war daher ebenfalls, wie auch im Falle Schörner und Rendulic, nur eine Frage der Zeit. Aus Kurland, Ost- und Westpreußen versuchte die Kriegsmarine soviel Truppen wie möglich über See zu retten.

7.) In Nordwestdeutschland waren Ostfriesland und Schleswig-Holstein vom Gegner noch nicht besetzt. Ausreichende Kräfte, um den zu erwartenden Angriff des Gegners abzuhalten, standen nicht zur Verfügung. Die Divisionen aus Ostfriesland und westlich der Elbe wurden daher nach Schleswig-Holstein transportiert, um wenigstens das Halten dieses Raumes zu versuchen. Daß auch hierfür die Kräfte nicht ausreichten, zeigte der 2. Mai, an dem der Gegner bei seinem bei Lauenburg über die Elbe vorgetragenen Angriff sofort bis an die Ostseeküste nach Lübeck bzw. Schwerin durchstieß.

8.) Holland, Dänemark und Norwegen waren ebenso wie die Biskayahäfen, die Kanalinseln und Dünkirchen noch in deutschem Besitz. In diesen Räumen war zur Zeit noch Ruhe.

9.) Vor der vordringenden russischen Front fluteten Millionen von Flüchtlingen der zivilen Bevölkerung, besonders in Norddeutschland, nach Westen zurück.

10.) Die Kriegsmarine hatte durch Luftangriffe auf die Häfen und ihren unentwegten Einsatz für Norwegen- und Ostraumtransporte sehr starke Verluste an Überwasserschiffen (Torpedo-, Minensuch-, Schnellboote und Sicherungsstreitkräfte) gehabt. Von großen Schiffen waren nur noch „Prinz Eugen“ und „Nürnberg“ intakt. Die U-Bootwaffe stand vor einem neuen Aufleben des U-Bootkrieges, da mit dem Monat Mai beginnend die U-Boote der neuen Bauart mit wachsenden Zahlen an den Feind kommen sollten.

11.) Die Luftwaffe besaß nur geringe Kräfte. Der Einsatz war wegen Betriebsstoffmangel außerordentlich eingeschränkt und nahm laufend weiter ab. Dies militärische Gesamtbild zeigte deutlich, daß der Krieg militärisch verloren war. Da es auch keine politische Möglichkeit für die Änderung der Gesamtlage Deutschlands gab, konnte hieraus von mir als Staatsoberhaupt nur die Folgerung gezogen werden, den Krieg so schnell wie möglich zu beenden, um weiteres Blutvergießen zu ersparen.“

Diese Betrachtung der Lage war die Grundlage meiner nun folgenden Maßnahmen. Für die Beendigung des Krieges mit Deutschland hatten sich die Alliierten, wie bereits gesagt, auf die Forderung der bedingungslosen Gesamtkapitulation festgelegt. Eine Gesamtkapitulation, die an der Ostfront die deutschen Armeen der russischen Kriegsgefangenschaft Ausgeliefert hätte, mußte ich jedoch so lange wie möglich hinausschieben.

Ich wollte daher unsere Ostfront bis zu der uns bekannten Demarkationslinie des angelsächsischen Besetzungsgebietes zurückführen und in noch möglichst viele Flüchtlinge in den Westraum bringen. Zu dem reichen Zweck sollten auch die Transporte über See mit höchster Beschleunigung und mit allen nur verfügbaren Schiffen jeder Größe und Art fortgesetzt werden. Bei der Zurückführung der deutschen Ostarmeen machten mir die Heeresgruppe Mitte unter Generalfeldmarschall Schörner besondere Sorge. Während für die Kurlandarmee und die Truppen in Ost- und Westpreußen das, was möglich war, geschah, um sie über See abzutransportieren, und während die „Weichselarmee“ und die 9. und die 12. Armee verhältnismäßig nahe an der rettenden Demarkationslinie standen, war die Heeresgruppe Mitte, die ihre Stellung am Ostrand der Tschechoslowakei hatte, noch durch die ganze Tiefe dieses Landes von der amerikanischen Front getrennt. Wir wußten nicht, ob die Amerikaner die Tschechoslowakei besetzen würden oder ob sie den Russen zugeteilt wai. Ich hielt es daher bei der Lagebesprechung am 1. Mai für richtig, die Armee Schörner sofort aus ihrer noch fest behaupteten Sudetenstellung in Richtung auf die amerikanische Demarkationslinie zurückzunehmen. Sie mußte meiner Ansicht nach möglichst bald nach Südwesten Raum gewinnen, um bei der kommenden Kapitulation so nahe an der amerikanischen Front zu stehen, daß die Soldaten sich von dieser aufnehmen lassen konnten. Die Generale des Oberkommandos der Wehrmacht, Keitel und Jodl, widerrieten jedoch einen sofortigen Absetzungsbefehl Die Heeresgruppe Mitte würde bei Aufgeben ihrer Stellung zusammenbrechen und von den Russen überrannt werden.

Entgegen meiner Ansicht gab ich in diesem einen Falle ihren Vorstellungen nach und stellte den Absetzbefehl zurück, bis ich Schörner oder seinen Chef des Stabes, Generalleutnant von Natzmer, persönlich gehört hätte. Sie wurden zu mir nach Plön bestellt.

Der andere Fragenkomplex, der mir besondere Sorge machte, war der der von uns noch besetzten Gebiete, also in der Hauptsache, außer der Tschechoslowakei, Norwegens, Dänemarks und der Niederlande. In Übereinstimmung mit Graf Schwerin-Krosigk lehnte ich alle Vorschläge ab, sie noch als „Faustpfänder“ zu behalten, um vom Gegner Konzessionen zu erreichen. Angesichts unserer völligen Niederlage hatte der Gegner gar keine Veranlassung zu irgendwelchen Gegengaben, wenn er dafür die von uns besetzten Fremdgebiete erhielt. Er würde sie in Kürze ohnehin bekommen. Mir aber kam es darauf an, in diesen Ländern Kriegshandlungen und Blutvergießen durch Aufstände der Bevölkerung und Widerstand der deutschen Besatzungstruppe zu verhindern, was soviel hieß, wie den besten Weg zu finden, um sie bei der Kapitulation in Ruhe und Ordnung abzugeben. Ich bestellte mir daher am 1. Mai außer dem Generalfeldmarschall Schörner den Reichsprotektor Frank für die Tschechoslowakei, den Reichskommissar Seyß-Inquart für die Niederlande, den Reichsbevollmächtigten Dr. Best und Generaloberst Lindemann für Dänemark und den Reichskommissar Terboven und General der Artillerie Boehme für Norwegen zu mir.

Um die Fronten und die Bevölkerung nach Westen zurückzunehmen, brauchten wir noch etwa 8 bis 10 Tage Zeit. So lange mußte ich also versuchen, die Kapitulation gegenüber der Sowjetunion hinauszuzögern.

Obwohl ich meine Generalabsicht, nach Westen nur noch zu kämpfen, soweit ich zur Verwirklichung meiner Absichten im Osten dazu gezwungen sei, am 1. Mai bereits offen im Rundfunk verkündet hatte, war es klar, daß ich zu einer wirklichen Beendigung des Krieges gegen die Engländer und Amerikaner nur durch tatsächliche Kapitulation ihnen gegenüber gelangen konnte. Ob aber Teilkapitulationen angesichts der Parole „Gesamtkapitulation“ überhaupt gelingen würden, wußte ich nicht. Wenigstens der Versuch mußte gemacht werden, und zwar keinesfalls öffentlich, weil er dann mit Sicherheit durch Eingreifen der Russen verhindert werden würde.

Die erste Teilkapitulation sollte zunächst den Krieg in Norddeutschland gegen die Engländer unter Feldmarschall Montgomery beenden. Ich legte mit dem Oberkommando der Wehrmacht das Verfahren zur Ankündigung unseres Parlamentärs fest. Als Führer der Delegation hatte ich den Generaladmiral von Friedeburg vorgesehen, der sich in Kiel befand. Er schien mir wegen seiner Klugheit und seines Verhandlungsgeschicks für diese schwierige Aufgabe geeignet zu sein. Friedeburg bekam am 1. Mai Nachricht, sich für ein Treffen mit mir und eine anschließende besondere Verwendung bereit zu halten.

Ich wollte also im Westen zu Kapitulationsverträgen kommen und muß deshalb hier erwähnen, wie das Gehorsamsverhältnis der deutschen Wehrmacht zu mir war, die diese Verträge befolgen sollte.

Die Soldaten: der Wehrmacht hatten einen Eid auf die Person Adolf Hitlers als Führers des Deutschen Reiches und Obersten Befehlshabers der Deutschen Wehrmacht geschworen. Durch den Tod Hitlers war dieser Eid formell erloschen, was jedoch nicht bedeuten konnte, daß nun jeder Soldat seiner Pflichten ledig wäre und etwa nach Hause gehen könnte. Die Wehrmacht mußte weiter ihre Aufgabe erfüllen. Nur so konnten Chaos und größere Verluste vermieden werden. Bei der verzweifelten Lage Deutschlands und den getrennten und zerrissenen Heeresfronten in jenen Tagen schied der Gedanke einer Vereidigung der Wehrmacht auf meine Person aus praktischen Gründen aus. Andererseits war es notwendig, die Soldaten zur Gehorsamspflicht an mich zu binden, und zwar nicht nur zur Durchführung aller weiteren von mir angeordneten Maßnahmen, z. B. der Rückführungsbefehle für die Armeen, sondern auch als unerläßliche Voraussetzung für die Unterzeichnung von Kapitulationsverträgen, die ich für die deutsche Wehrmacht schließen würde und die sie erfüllen sollte. Die Notverhältnisse der Lage verlangten daher, daß ich in der Eidfrage zu einer Lösung greifen mußte, die der Rechtsgrundlage des freiwillig und persönlich geleisteten Eides entbehrte. Ich sagte am 1. Mai in meinem Tagesbefehl den deutschen Soldaten:

„Ich verlange Disziplin und Gehorsam. Nur durch vorbehaltlose Ausführung meiner Befehle werden Chaos und Untergang vermieden. Ein Feigling und Verräter ist, wer sich gerade jetzt seiner Pflicht entzieht und damit deutschen Frauen und Kindern Tod oder Versklavung bringt. Der dem Führer geleistete Treueid gilt nunmehr für jeden einzelnen von Euch ohne weiteres mir als dem vom Führer eingesetzten Nachfolger.“

Die nächsten Tage zeigten, daß die deutsche Wehrmacht in ihren Spitzen meinen Befehlen folgte. Darauf kam es an.

Bevor ich schildere, wie die Teilkapitulation gegenüber dem englischen Frontabschnitt eingeleitet wurde, ist noch ein anderer Vorgang zu erwähnen, der sich am 1. Mai ereignete. Um 15,18 Uhr erhielt ich in Plön noch einen dritten und letzten Funkspruch aus der Reichskanzlei, der dort um 14,46 Uhr aufgegeben war:

„F R R Großadmiral Dönitz (Chefsache) nur durch Offizier.

Führer gestern 15.30 Uhr verschieden. Testament vom 29.4. überträgt Ihnen das Amt des Reichspräsidenten, Reichsminister Goebbels das Amt des Reichskanzlers, Reichsleiter Bormann das Amt des Parteiministers, Reichsminister Seyß-Inquart das Amt des Außenministers. Das Testament wurde auf Anordnung des Führers an Sie, an Feldmarschall Schörner und zur Sicherstellung für die Öffentlichkeit aus Berlin herausgebracht. Reichsleiter Bormann versucht, noch heute zu Ihnen zu kommen, um Sie über die Lage aufzuklären. Form und Zeitpunkt der Bekanntgabe an Truppe und Öffentlichkeit bleibt Ihnen überlassen.

Eingang bestätigen. Goebbels, Bormann.“

Dem Inhalt des Funkspruchs lag also das Testament Hitlers zugrunde. Die darin erteilten Weisungen standen aber in vollem Gegensatz zu der Wahl der Berater und Regierungsmitglieder, die ich zur Beendigung des Krieges zu brauchen glaubte und im Widerspruch zu den Maßnahmen, die ich bereits getroffen hatte. Er stand auch formell nicht im Einklang mit dem ersten Funkspruch, der mir das Recht gab, „ab sofort sämtliche Maßnahmen zu verfügen, die sich aus der gegenwärtigen Lage ergeben.“ Daher war ich nicht gewillt, diesen neuen Funkspruch in irgendeiner Richtung zu befolgen. Ich wollte und mußte meinen eigenen Weg gehen. Mein Adjutant bekam deshalb Befehl, das Dokument unter sicheren Verschluß zu nehmen und jede Bekanntgabe seines Inhalts zu verhüten. Nur so konnte ich die Unruhe und Verwirrung im Innern vermeiden, die entstehen mußte, wenn dieser Funkspruch zur Kenntnis der Allgemeinheit gelangen würde. Ordnung war in der augenblicklichen Lage die Hauptsache.

Aus dem gleichen Grunde befahl ich, daß Goebbels und Bormann zu verhaften seien, falls sie tatsächlich bei uns in Plön eintreffen würden. Ich konnte in der schweren Lage, in der wir uns befanden, keinerlei Belastungen und Störungen in Kauf nehmen.

So ging dieser reichlich mit Entscheidungen angefüllte 1. Mai zu Ende, während draußen in See Transporte mit Verwundeten, Flüchtlingen und Truppen nach Westen liefen, und die Flüchtlingstrecks an Land auf ihrem Vormarsch Raum gewannen, die Armeen in Pommern, Brandenburg und Schlesien sich in Richtung auf die angelsächsischen Demarkationslinien absetzten. Der 2. Mai sollte eine rasche Entwicklung der Dinge bringen.

Die Engländer besaßen seit dem 26. April einen Brückenkopf bei Lauenburg auf dem Ostufer der Elbe, aus dem sie am 2. Mai angriffen und die schwache deutsche Verteidigung überrannten. Sehr bald waren englische Truppen und Panzer bis Lübeck vorgedrungen. Gleichzeitig fingen die Amerikaner etwas südlicher über die Elbe und erreichten, ohne Widerstand zu finden, Wismar. Quer zu den von Mecklenburg nach Holstein führenden Straßen voller Flüchtlingskolonnen und zurücksenden Truppen der „Weichselarmee“ standen damit jetzt die Englinder und Amerikaner von der Ostsee bis zur Elbe. Das Tor nach Testen war nicht mehr offen, von englischer Zustimmung hing es ab, ob Soldaten oder Flüchtlinge sich vor den nachdrängenden Russen in die englische Besatzungszone Schleswig-Holsteins retten durften. Nur, um dem Strom der Flüchtlinge den Weg nach Schleswig-Holstein offen zu lullen, war an der Elbe noch gegen Westen gekämpft worden. Jetzt, nachdem die Engländer Schleswig-Holstein in ihrer Hand hatten, war das sinnlos geworden. Ich gab daher Befehl, die Kapitulationsverhandlungen nach dem vorbereiteten Plan sofort aufzunehmen. Friedeburg sollte zunächst zu Montgomery gehen, die Kapitulation für den nord-westdeutschen Raum anbieten und, sobald diese abgeschlossen war, zu Eisenhower fahren, um die Übergabe für den ganzen Westen zu erklären.

Ich ließ ihn sogleich zu mir kommen, um ihn genau über die Lage zu unterrichten und ihn zu instruieren. Konteradmiral Wagner und General Kinzel sollten ihn begleiten. Wagner hatte seit 1943 alle Entscheidungen dieser Jahre, insbesondere auch der letzten Wochen, miterlebt; er konnte daher bei den Verhandlungen eine wertvolle Unterstützung sein. General Kinzel sollte Friedeburg in heerestechnischen Fragen zur Seite stehen.

Der Kampfkommandant Hamburg bekam vom Oberkommando der Wehrmacht Anweisung, am 3. Mai 8 Uhr einen Parlamentär zu den Engländern zu entsenden, der die Übergabe Hamburgs vereinbaren und gleichzeitig die Friedeburgsche Delegation anmelden sollte.

Mein Treffen mit Friedeburg am 2. Mai verzögerte sich. Tagsüber lagen die Straßen in Holstein unter Beschuß englischer Jagdflieger. Die Wege waren unpassierbar. Sobald ich vom Durchbruch der Engländer erfahren hatte, ordnete ich die sofortige Verlegung meiner Befehlsstelle nach Mürwik bei Flensburg an. Ich mußte versuchen, mir die Freiheit des Handelns so lange wie möglich zu erhalten. In meiner Baracke in Plön konnte ich jetzt in kürzester Zeit von englischen Truppen ausgehoben werden. Die Gegend um mein Plöner Quartier lag während des ganzen Tages fortwährend unter Angriffen aus der Luft. Der Tag verlief daher in erzwungenem Warten darauf, daß die Luftangriffe auf die Straßen abflauten, so daß ich Friedeburg treffen und mein Stabsquartier nach Mürwik verlegen könnte.

In diesen Stunden kamen der Generalfeldmarschall Ritter von Greim und Frau Hanna Reitsch zu mir. Greim war von der tapferen Frau nach Plön geflogen worden, um sich von mir zu verabschieden. Er hatte einen verbundenen Fuß und ging an Krücken. Bei seinem letzten Einflug nach Berlin war er verwundet worden.

Mit großer Anteilnahme sah und sprach ich diesen ausgezeichneten Mann und Offizier. Mit Bitterkeit sprach er davon, daß der Idealismus und die Hingabe der Soldaten, die geglaubt hätten, einem reinen Ziel zu dienen, nun in dieser Katastrophe enden müßten. Er wolle sein Leben nicht weiterführen. Bewegt schieden wir voreinander.

Gegen Abend hörten die Jabo-Angriffe auf. Ich bestellte Friedeburg für 21 Uhr zur Levensauer Hochbrücke über den Kaiser-Wilhelm-Kanal in der Nähe Kiels. Unbehindert trafen Graf Schwerin-Krosigk und ich dort ein. Ich forderte Friedeburg auf, Montgomery die rein militärische Teilkapitulation für den gesamten norddeutschen Raum anzubieten. Hierbei habe er besonders auf das Flüchtlings- und Rückführungsproblem an den Ostgrenzen des englischen Besetzungsgebietes hinzuweisen. Vor allem solle er zu erreichen suchen, daß durch die Kapitulation die Transport- und Absetzbewegungen an Land und auf See nicht beeinträchtigt würden, sondern weitergehen könnten. Er trennte sich von uns bei Dunkelheit, begleitet von all unseren Wünschen, daß sein Auftrag gelingen möge.

Schwerin-Krosigk, Lüdde-Neurath und ich fuhren nach Mürwik weiter. Angloamerikanische Luftangriffe setzten wieder ein. Jabos leuchteten aus der Luft mit Schweinwerfern die Straßen ab und schössen auf den Verkehr. Wiederholt mußten wir die Fahrt unterbrechen. Gegen 2 Uhr nachts waren wir endlich in Mürwik. Der Rest der Nacht verging mit kurzem Schlaf und Entscheidungen auf Anfragen militärischer Befehlshaber, die sich in diesem Zwischenzustand zwischen Krieg und Frieden mit Recht im Unklaren waren, wie sie sich verhalten sollten.

Am Morgen des 3. Mai war ich besonders von Sorgen erfüllt. Hatte Friedeburg in der von Luftangriffen erfüllten Nacht Hamburg und das Hauptquartier Montgomerys erreichen können? Wie würde sein Auftrag aufgenommen werden, der mit der alliierten Forderung einer Gesamtkapitulation nicht im Einklang stand?

Als in den Vormittagsstunden des 3. Mai die Jagdflieger- und Bombenangriffe der letzten Tage nicht wieder einsetzten, begann ich zu hoffen, daß dies bereits eine Auswirkung der Ankunft Friedeburgs bei Montgomery sei. Wie ich später erfuhr, hatte Montgomery die schon startbereiten Flugzeuge zurückhalten lassen, sobald er von Friedeburgs Eintreffen und seinem Auftrag Kenntnis erhielt.

Im Laufe des Tages erschienen die zivilen und militärischen Befehlshaber der von uns noch besetzten Gebiete bei mir. An Stelle von Schörner war der General von Natzmer für die Heeresgruppe Mitte gekommen. Er übermittelte mir Schörners Ansicht, daß seine Heeresgruppe zusammenbrechen würde, wenn sie ihre gut ausgebaute Sudetenstellung aufgäbe. Er war also der gleichen Ansicht wie das Oberkommando der Wehrmacht. Ich teilte ihm mit, warum ich ein möglichst baldiges Absetzen in Richtung auf die amerikanische Front für nötig hielt. Es wären sofort alle Vorbereitungen für das Zurücknehmen der Heeresgruppe zu treffen.

Der Reichsprotektor von Böhmen und Mähren, Frank, erklärte, daß tu bürgerlichen tschechischen Kreisen Sorgen um die innerpolitische Zukunft des Landes für den Fall seiner Befreiung durch die Russen bestünden. Er schlug vor, die Kapitulation des Landes durch diese bürgerlichen Politiker den Amerikanern anzubieten und diese zur Besetzung des Landes aufzufordern. Ich glaubte nicht, daß dieses Angebot einen Einfluß auf die hinsichtlich der Tschechoslowakei sicherlich schon längst festliegenden Pläne der Alliierten haben würde. Ich stimmte jedoch einem entsprechenden Versuch zu. Frank kehrte nach der Tschechoslowakei zurück. Wir hörten nichts mehr von ihm. Am 6. Mai brach der Aufstand in Prag aus. Daß Frank in dieses Land, welches nach seiner eigenen Meinung am Vorabend der Revolution stand, wieder zurückkehren wollte, um ohne Rücksicht auf seine Person die geringste Möglichkeit einer besseren Lösung auszunutzen, spricht für ihn.

Anders waren die Verhältnisse in den Niederlanden, in Dänemark und Norwegen. Überall hatten wir das Heft noch in der Hand. Um so mehr war ich darum besorgt, auch in diesen Ländern die Übergabe reibungslos zu vollziehen. Für die Niederlande vereinbarte ich mit Seyß-Inquart, daß eine Teilkapitulation versucht werden sollte. Keinesfalls dürften noch irgendwelche Zerstörungen oder Überschwemmungen erfolgen. Diese besondere Teilübergabe Hollands erübrigte sich jedoch, da am nächsten Tage Holland in unsere Kapitulation gegenüber den englischen Streitkräften einbezogen wurde.

Aus Dänemark waren der Reichsbevollmächtigte Dr. Best und Generaloberst Lindemann erschienen. Lindemann garantierte mir für seine Truppe in Dänemark. Sie sei in ihrer Kampfkraft ungeschmälert; Dr. Best dagegen warnte vor einer Fortsetzung des Kampfes auf dänischem Gebiet.

Ich gab in voller Übereinstimmung mit Graf Schwerin-Krosigk dem Generalobersten Lindemann und Dr. Best die Anweisung, jede Friktion mit der dänischen Bevölkerung bis zur bevorstehenden Kapitulation dieses Gebietes zu vermeiden.

Auch die Übergabe Dänemarks klärte sich dann noch am nächsten Tage im Zuge der Kapitulationsverhandlungen mit Montgomery.

Zu einer Besprechung über Norwegen mit dem Reichskommissar Terboven und General Böhme erschien überraschenderweise Himmler mit seinem Gruppenführer Schellenberg, dem Chef des Auslands-Sicherheitsdienstes. Die norwegischen Befehlshaber meldeten, daß die Lage in Norwegen ruhig sei. Das Ende der deutschen Besatzung würde auf jeden Fall in Kürze erwartet. Die norwegische Bevölkerung wolle daher nicht noch unnötiges Blutvergießen durch einen Aufstand riskieren.

Schellenberg machte den Vorschlag, Schweden die Kapitulation Norwegens anzubieten und darum zu bitten, daß die deutsche Besatzungsarmee in Norwegen sich zur Internierung auf schwedisches Gebiet begeben könne. Dadurch würde sie einer englischen oder amerikanischen Kriegsgefangenschaft entgehen. Es kam dabei heraus, daß Himmler bereits früher durch den Abwehrchef Schellenberg Fäden nach Schweden wegen dieser Frage geknüpft hatte. Schweden hätte sogar bereits vertraulich seine Zustimmung zu dem Vorschlag; der Internierung der deutschen Truppen gegeben.

Die Beweggründe und Erfolge dieser schon zurückliegenden inoffiziellen Verhandlungen betrachtete ich mit Mißtrauen. Abgesehen von der Fragwürdigkeit der Motive hielt ich diese Schritte auch sachlich für falsch: Wie konnten wir in unserer völlig ohnmächtigen Lage noch versuchen, den Alliierten ein „Schnippchen zu schlagen“, indem wir nicht ihnen, sondern einem neutralen Lande die Kapitulation Norwegens anboten! Auch der Vorteil der Internierung der deutschen Truppen auf schwedischem Gebiet schien mir höchst unsicher. Wer garantierte, daß diese Truppen nicht einmal auf russischen Druck von Schweden an Rußland ausgeliefert werden müßten!

Ich erklärte mich daher auf den Rat Schwerin-Krosigks hin lediglich damit einverstanden, daß Schellenberg feststellen sollte, ob die schwedische Zustimmung mit stillschweigendem oder ausdrücklichem englischen Einverständnis erfolgt sei. Keinesfalls gäbe ich Schellenberg das Recht, irgendwelche vertraglichen Abmachungen zu treffen.

Ich hörte nichts mehr von ihm. Auch diese vage Geschäftemacherei fand zu meiner Genugtuung ihr Ende durch die in den nächsten Tagen von mir ausgesprochene Kapitulation.

Am 3. Mai erhielt ich aus dem Südraum Deutschlands von General-Feldmarschall Kesselring die Mitteilung, daß er die von der Heeresgruppe Südwest (General Vietinghoff) am 2. Mai erklärte Kapitulation mit seinem Namen decke. Er bat in seinem Funkspruch um meine Zustimmung, für seinen Frontabschnitt im Südosten selbständig mit dem Westgegner verhandeln zu können. Ich erteilte sofort die Genehmigung, weil wir uns über jeden Raum „freuen könnten“, in den die Amerikaner und nicht die Russen einmarschierten.

Kurz vor Mitternacht kehrte Friedeburg von der Besprechung mit Montgomery zurück. Er berichtete mir sofort das Wesentliche: Montgomery hätte das Angebot der Teilkapitulation nicht abgelehnt, also nicht die Gesamtkapitulation für alle Fronten, einschließlich auch der russischen, gefordert.

Am Morgen des 4. Mai hielt Friedeburg in Gegenwart von Graf Schwerin-Krosigk, Keitel und Jodl eingehend Vortrag. Montgomery nähme unsere Teilkapitulation im norddeutschen Raum an. Er fordere jedoch zusätzlich, daß auch Dänemark und Holland in den Kapitulationsbereich einbezogen würden. Er, Friedeburg, habe hierauf geantwortet, er sei zu dieser Erweiterung nicht bevollmächtigt. Er sei aber sicher, daß sie in meinem Sinne läge. Weiter hätte Montgomery die gleichzeitige Übergabe aller im Kapitulationsbereich befindlichen Kriegsund Handelsschiffe verlangt. Dieser Punkt berührte die für uns wesentliche Frage der Flüchtlingstransporte. Friedeburg hätte daher das Flüchtlingsproblem dargelegt, unsere Sorge, so viel Menschen wie möglich vom Osten nach dem Westen retten zu können. Montgomery habe geantwortet, daß er den Übertritt einzelner Soldaten nicht verhindern, jedoch keinesfalls geschlossene Truppenteile aufnehmen werde. Hinsichtlich der zivilen Flüchtlinge lehne er jede Garantie ab, denn es handele sich um eine rein militärische Kapitulation, in welche zivile Fragen nicht hineingehörten. Er hätte aber hinzugefügt, daß er „kein Unmensch“ sei. Eine weitere Forderung Montgomerys sei, daß keine Zerstörungen, auch keine Vernichtungen oder Versenkungen von Kriegsschiffen im Kapitulationsraum erfolgen dürften. Friedeburg habe darauf gebeten, mir Bericht erstatten zu können, weil eine Antwort auf die gestellten Forderungen seine Vollmacht überschritte.

Soweit Friedeburgs Bericht. Was die Erweiterung der Kapitulation auf die Niederlande und Dänemark betraf, so war die Situation für Schwerin-Krosigk und mich klar. Wir waren froh, daß wir diese Länder „los wurden“ und auf diese Weise ihre geregelte Übergabe baldmöglichst geschehen konnte.

Die Forderung, die Schiffe auszuliefern, beunruhigte mich. Sie mußte das Ende der Seetransporte von Flüchtlingen und Truppen nach Westen bedeuten. Ich bekam jedoch aus Friedeburgs Bericht über die Haltung Montgomerys in dieser Frage den Eindruck, daß es wenigstens möglich sein würde, die bereits in See befindlichen Schiffe nach Westen weiterlaufen zu lassen. Die auf ihnen untergebrachten Verwundeten, Truppen und Flüchtlinge würden jedoch in dänischen Häfen gelandet werden müssen. Die Ankunft von etwa 300 000 deutschen Menschen mußte selbstverständlich nicht nur eine politische, sondern vor allem eine große organisatorische Belastung für Dänemark mit seinen geringen Hilfsmitteln zur Folge haben. Unterbringung, Verpflegung und ärztliche Versorgung einer so hohen Zahl von Ausländern, noch dazu feindlichen Volkes, mußten sehr schwierig sein. Aber diese Nachteile würden notgedrungen in Kauf genommen werden müssen. Wegen der englischen Forderung, keine Zerstörungen, auch keine Kriegsschiff-Versenkungen vorzunehmen, ergaben sich bei Friedeburgs Vortrag gegensätzliche Meinungen. Graf Schwerin-Krosigk und ich vertraten die Ansicht, daß man diese Bedingungen annehmen müsse. Sie abzulehnen, gefährdete unser Ansehen als zuverlässiger Vertragspartner und unsere grundsätzliche Absicht, zu Teilkapitulationen im Interesse der Menschenrettung zu kommen. Das Oberkommando der Wehrmacht meinte dagegen, die 0 hergäbe der Waffen, vor allem auch der Kriegsschiffe als ihrer sichtbarsten Träger, verstoße gegen die soldatische Ehre.

Ich war mir klar, daß ich bei Auslieferung der Kriegsschiffe gegen jede Tradition unserer und der Kriegsmarine aller Nationen handeln würde. So hatte die deutsche nach dem ersten Weltkrieg durch die Versenkung der Flotte in Scapa Flow versucht, diesem nationalen und soldatischen Ehrengesetz aller Nationen gerecht zu werden. Ich zweifelte aber nicht, daß ich die Übergabe auch der Kriegsschiffe jetzt anordnen mußte. Die Lage war eine andere als je nach früheren Kriegen. Es handelte sich diesmal darum, ungezählte Menschen unseres Volkes, auch Frauen und Kinder, noch am Ende des Krieges vor dem Tode zu bewahren. Verweigerte ich der Ehre der Flagge wegen die Übergabe der Schiffe, so würde es nicht zur Teilkapitulation kommen. Die Luftangriffe auf den norddeutschen Raum würden wieder einsetzen und zu neuen Menschenverlusten führen. Das durfte keinesfalls geschehen. Also stand mein Entschluß fest, auch die Forderung nach der Übergabe der Kriegsschiffe zu erfüllen. Der Einwurf, der mir gemacht wurde, wir hätten zu Waffenvernichtungen und Schiffsversenkungen ja noch Zeit bis zum Inkrafttreten der Kapitulation, lehnte ich mit der Antwort ab, daß dies nicht dem Sinn unserer Kapitulation entspräche. Auch Montgomery habe, sobald er am 3. Mai von unserer Übergabe-Absicht gehört hätte, die Luftangriffe eingestellt, obwohl die Kapitulation noch nicht vollzogen war.

Ich gab also in dieser Morgenbesprechung des 4. Mai Befehl an das Oberkommando der Wehrmacht, ein Verbot der Waffen Vernichtung zu erlassen. Gleichzeitig bekam der Chef der Seekriegsleitung unter Angabe der Gründe Anweisung, das für Schiffs Versenkungen vorgesehene Stichwort „Regenbogen“ nicht in Kraft treten zu lassen. Versenkungen unterblieben daher, außer bei einem Teil der U-Boote, die von ihren Kommandanten noch vor Inkrafttreten des Waffenstillstandes in der Nacht vom 4. zum 5. Mai versenkt oder gesprengt wurden. Auf diesen U-Booten war die Vernichtung schon vorbereitet gewesen, als der Gegenbefehl der Seekriegsleitung eintraf. Die Kommandanten glaubten mit der Versenkung doch in meinem Sinne zu handeln. Sie waren überzeugt, daß ich einen solchen „Übergabe-Befehl“ nur unter Zwang gegeben haben könnte. –

Ich gab Friedeburg am 4. Mai vormittags Vollmacht, die Forderungen Montgomerys anzunehmen. Er flog in das englische Hauptquartier zurück, ausgestattet mit der Anweisung, nach Vollzug der Teilkapitulation mit Montgomery zu General Eisenhower nach Reims weiterzufliegen, um ihm aus den gleichen Gründen eine Teilkapitulation gleicher Art gegenüber den amerikanischen Streitkräften anzubieten.

Wir fühlten uns nach Friedeburgs Bericht am 4. Mai von einer Last befreit. Es war der erste Schritt einer Teilkapitulation im Westen gelungen, ohne daß hierbei die Übergabe deutscher Soldaten und Bevölkerungsteile in russische Hand hatte zugestanden werden müssen.

Ich zog aus dieser beginnenden Beendigung des Kampfes gegen den Westen weitere Konsequenzen. In Montgomerys Kapitulationsforderungen war die Einstellung aller Kampfhandlungen auf See sowie die Übergabe der deutschen Kriegsschiffe gefordert, soweit sich diese im Kapitulationsgebiet befanden, also in den Seeräumen Hollands, Nordwestdeutschlands, Schleswig-Holsteins und Dänemarks. Über diese Abmachung hinausgehend, ordnete ich am 4. Mai mittags die sofortige Einstellung des U-Bootkrieges auf allen Meeren an. Dies lag, nachdem England auf mein Kapitulationsangebot eingegangen war, im Sinne meiner Absicht, den Krieg gegen den Westen in allen Gebieten so schnell wie möglich zu beenden.

Am Abend des 4. Mai erhielt ich von Friedeburg aus dem Hauptquartier Montgomerys die Nachricht, daß er die Teilkapitulation unterschrieben habe, und daß er weiter zu Eisenhower flöge. Die Kapitulation träte mit dem 5. Mai 8 Uhr in Kraft.

Mit diesem Zeitpunkt waren alle Kampfhandlungen in den festgelegten Räumen beendet.

Am 6. Mai morgens traf General Kinzel bei mir in Mürwik ein. Er gehörte zu der Friedeburgschen Delegation. Friedeburg hatte ihn von Reims zu mir geschickt, um über den Stand der Kapitulationsverhandlungen mit Eisenhower zu berichten. Kinzel meldete mir, daß die Haltung Eisenhowers im Gegensatz zu der Montgomerys völlig ablehnend sei. Eisenhower werde einer Teilkapitulation keinesfalls zustimmen. Wir hätten die sofortige bedingungslose Übergabe für alle Fronten, also auch die russische, zu erklären. Die Truppen hätten stehen zu bleiben, ihre Waffen unbeschädigt niederzulegen und sich an Ort und Stelle in Gefangenschaft zu begeben. Das deutsche Oberkommando der Wehrmacht sei dafür verantwortlich, daß eine solche bedingungslose Übergabe befolgt würde, die auch für die Schiffe der Kriegs- und Handelsmarine gelte.

Wir hatten eine solche Einstellung Eisenhowers befürchtet. In meiner Rundfunkansprache an das deutsche Volk hatte ich, wie schon angeführt, am 1.5. 1945 erklärt, daß ich gegen den Westen nur noch kämpfen wollte, wenn er mich in meinem Kampf gegen den Osten behinderte. „Die Angloamerikaner setzen dann den Krieg nicht mehr für ihre eigenen Völker, sondern allein für die Ausbreitung des Bolschewismus in Kuropa fort“. Auf diese Bekanntmachung hatte ich im amerikanischen Sender aus dem Eisenhowerschen Hauptquartier die Antwort bekommen, „es sei einer der bekannten Nazi-Tricks, zwischen Eisenhower und seine russischen Verbündeten einen Keil zu treiben.“

Auch die letzten operativen Maßnahmen Eisenhowers zeigten, daß er der weltpolitischen Wende, die sich jetzt vollzogen hatte, nicht Rechnung trug. Nach dem Übergang der amerikanischen Truppen über den Rhein bei Remagen war das strategische Ziel der Besiegung Deutschlands für Amerika erreicht. An die Stelle dieses militärischen hätte jetzt das politische Ziel treten sollen, vom deutschen Raum vor dem Eindringen des russischen Verbündeten noch so viel wie möglich für den angloamerikanischen Westen zu besetzen. Es wäre also für die amerikanische Armeeführung politisch richtig gewesen, so schnell wie möglich nach Osten vorzustoßen, um noch vor den Russen Berlin zu gewinnen. Eisenhower handelte nicht so. Er folgte immer noch dem rein militärischen Ziel der Vernichtung und Besetzung Deutschlands in Zusammenarbeit mit der Roten Armee. Er blieb an der Elbe stehen. Er ließ es zu, daß die Russen Berlin und möglichst viel vom ostdeutschen Gebiet eroberten. Er handelte möglicherweise entsprechend den politischen Bindungen, die er von Washington erhalten hatte. Anscheinend fehlte ihm aber auch die Erkenntnis, daß die Weltlage sich in diesem Augenblick auf lange Zeit hinaus verschob. Die amerikanische Haltung am Ende des Krieges erschien mir damals und erscheint mir heute noch falsch.

Noch nach der Potsdamer Konferenz erklärte ein amerikanischer Oberst dem Grafen Schwerin-Krosigk, ihm wäre es gleichgültig, ob die Russen ganz Deutschland besetzten. Das war wohl auch die Einstellung der amerikanischen Öffentlichkeit.

Wäre ich auf die Kapitulationsbedingung Eisenhowers, die mir General Kinzel am 6. Mai morgens mitteilte, eingegangen, so hätte ich mit sofortiger Wirkung die deutschen Armeen im Osten den, Russen ausgeliefert. Ich konnte aber eine solche Forderung auch deshalb nicht unterschreiben, weil sie von der Truppe im Osten nicht befolgt worden wäre.

Es hätte eine wilde Flucht nach dem Westen eingesetzt.

Da die Forderung Eisenhowers aus diesen beiden Gründen unerfüllbar war, konnte ich nur noch einmal versuchen, ihn davon zu überzeugen, daß ich die deutschen Soldaten und die deutsche Ostbevölkerung nicht in russische Hand fallen lassen konnte. Nur die Zwangslage, in der ich mich befand, war der Grund, warum ich um eine Teilkapitulation bitten mußte.

Nach dem Vortrag Kinzels bat ich Generaloberst Jodl zu mir. Er sollte zu Friedeburgs Unterstützung mit neuen Instruktionen zu Eisenhower nach Reims fliegen. Graf Schwerin-Krosigk und ich waren uns über folgende Weisung, die Jodl erhielt, einig:

„Versuchen Sie nochmals, die Gründe zu erklären, warum wir eine Teilkapitulation den amerikanischen Streitkräften gegenüber anstreben. Scheitern Sie hierbei bei Eisenhower, wie es Friedeburg erging, so erbitten Sie für eine Gesamtkapitulation folgendes Verfahren: In ihr werden zwei Termine festgelegt. Zu dem ersten Zeitpunkt hören die Kampfhandlungen auf, aber die deutschen Truppen dürfen sich noch bewegen. Im zweiten ist auch dieses Bewegungsrecht beendet. Versuchen Sie zu erreichen, daß die Zeitspanne zwischen beiden Terminen möglichst groß ist, und daß der Übertritt einzelner Soldaten in die amerikanischen Frontlinien auf jeden Fall erlaubt wird. Um so mehr deutschen Soldaten und zivilen Flüchtlingen wird es dann gelingen, sich nach Westen zu retten.“

Entsprechend dieser Weisung gab ich Jodl eine schriftliche Vollmacht mit, wonach er die Gesamtkapitulation an allen Fronten unterzeichnen durfte. Er sollte aber von dieser Vollmacht nur dann Gebrauch machen, wenn sein erstes Ziel, doch noch eine Teilkapitulation zu erhalten, unerreichbar war. Er durfte diese Gesamtkapitulation auch nur vollziehen, wenn er mich vorher über ihren Inhalt unterrichtet und ich meine ausdrückliche telegrafische Zustimmung gegeben hätte. Jodl flog nach dieser Besprechung am 6. Mai nach Reims zu Eisenhower.

In der Nacht vom 6. zum 7. Mai gegen 1 Uhr erhielt ich aus Reims folgenden Funkspruch von Jodl:

„General Eisenhower besteht darauf, daß wir heute noch unterschreiben. Andernfalls werden die alliierten Fronten auch gegenüber denjenigen Personen geschlossen werden, die sich einzeln zu ergeben versuchen und alle Verhandlungen werden abgebrochen. Ich sehe keinen Ausweg als Chaos oder Unterzeichnung. Erbitte sofortige drahtlose Bestätigung, ob ich die Vollmacht habe, die Kapitulation zu unterzeichnen. Die Kapitulation kann dann wirksam werden. Feindseligkeiten werden dann am 9. Mai 0 Uhr deutscher Sommerzeit aufhören. Jodl.“

Wir erfuhren später, daß Eisenhower die Teilkapitulation wieder völlig abgelehnt und auch die vorgeschlagenen Zeitstufen für die Gesamtkapitulation rundweg abgeschlagen hatte. Er hatte Jodl erklärt, er werde auf jeden deutschen Soldaten schießen lassen, auch wenn er ohne Waffen auf die amerikanische Front zukäme, um sich zu ergeben. Dank anscheinend des befürwortenden Einflusses seines Chefs des Stabes, General Bedell Smith, und auf Jodls Erklärung hin, daß wir bei dem zerschlagenen Nachrichtensystem mindestens zwei Tage brauchten, um den Kapitulationsbefehl an die Truppen durchzugeben, ließ er sich schließlich auf eine zweitägige Frist ein. Voraussetzung hierfür sei jedoch, daß die Deutschen die Kapitulation sofort unterschreiben. Ich hatte mich also auf Jodls Funkspruch unverzüglich zu entscheiden. Nach dem Wortlaut des Telegramms standen bei Unterzeichnung der Gesamtkapitulation am 7. Mai für den Rückzug der Truppen bis zum endgültigen Aufhören jeder Bewegung am 9. Mai 0 Uhr noch 48 Stunden zur Verfügung.

Ich fürchtete, daß diese Zeit für die Rettung aller Soldaten und Flüchtlinge nicht ausreichen würde. Auf der anderen Seite war es Jodl gelungen, überhaupt eine Frist zu gewinnen, die es einer großen Zahl deutscher Menschen möglich machen würde, sich nach Westen zu retten.

Nahm ich die Forderungen Eisenhowers nicht an, weil die zwei Tage für die Fluchtbewegungen aus dem Osten tatsächlich nicht ausreichten, so würde ich dabei keinen Vorteil gewinnen.

Chaos und Vernichtung wehrlosen Lebens würden in noch größerem Maße die Folge sein. Ich telegrafierte daher gegen 1 Uhr nachts an Jodl, daß er berechtigt sei, auf dieser Basis die Gesamtkapitulation zu erklären. Sie wurde am 7. Mai nachts 2,41 Uhr von Jodl in Reims vollzogen.

Am 8. Mai wurde dieser Akt der Unterzeichnung der Gesamtkapitulation, anscheinend auf Wunsch der Russen, im Hauptquartier des sowjetischen Befehlshabers, Marschall Schukow, in Berlin-Karlshorst wiederholt. Die Unterschrift unter die Kapitulationsurkunde hatten für die drei deutschen Wehrmachtteile der Generalfeldmarschall Keitel, der Generaloberst Stumpff und der Generaladmiral von Friedeburg zu leisten. Daß sie hierzu als legitimierte Vertreter der deutschen Wehrmacht berechtigt seien, hatten sie durch eine von mir als Obersten Befehlshaber der Wehrmacht vollzogene Vollmacht nachzuweisen, die sowohl von den West-Alliierten und der Sowjetunion ausdrücklich verlangt worden war und vor der Unterschriftsleistung von ihnen geprüft und als in Ordnung befindlich angenommen wurde.

Nun mußte sich das Schicksal der Soldaten der deutschen Ostarmeen und der noch nach Westen strömenden Flüchtlinge entscheiden. Der Masse der Soldaten der Heeresgruppe Süd (Generaloberst Rendulic) gelang es, sich hinter die amerikanische Demarkationslinie zu retten. Ungünstiger war die Lage bei der Heeresgruppe Südost (Generaloberst Löhr). Am 9. Mai standen noch große Teile davon zwei bis drei Tagesmärsche von der amerikanisch-englischen Demarkationslinie entfernt. Löhr versuchte, in persönlichen Verhandlungen mit den Jugoslawen noch das Beste für seine Soldaten zu erreichen. Zehntausende von ihnen starben trotzdem in jugoslawischer Gefangenschaft.

Im Norden erlaubte der amerikanische General Garvin, der mit seiner Luftlandedivision am 2. Mai gleichzeitig mit dem englischen Vorstoß nach Lübeck den mecklenburgischen Raum besetzt hatte und operativ zur englischen Heeresgruppe gehörte, daß die Reste der „Weichselarmee“ sich hinter die amerikanisch-englischen Linien zurückzögen. Es ließ sich jedoch nicht verhindern, daß durch Verzögerungen an der Demarkationslinie viele Flüchtlingskolonnen noch in die Hände der nachdrängenden Russen fielen.

An der Mittelfront hatte die 12. Armee unter ihrem Oberbefehlshaber, dem in gleicher Weise als Truppenführer wie als Generalstabsoffizier bewährten General Wenck, in den letzten Apriltagen den Befehl erhalten, durch einen Angriff nach Osten Berlin zu entsetzen. Es war ihr gelungen, den Potsdamer Raum zu erreichen und dadurch für die Verteidiger Potsdams und die 9. Armee (General Busse) den Weg nach Westen freizumachen. Mit ihnen zogen zahlreiche Flüchtlingskolonnen. Während aber den Soldaten der 9. und 12. Armee und der Verteidigungsgruppe Potsdam das Oberschreiten der amerikanischen Frontlinie an der Elbe gestattet wurde, verwehrten die Amerikaner den zivilen Flüchtlingen den Elbübergang. Die Armee Wenck tat alles, um möglichst viele – von den Amerikanern unbemerkt – mit den übertretenden Soldaten noch in den Westraum zu retten. Aber ein großer Teil der Unglücklichen, die oft schon wochenlang auf der Flucht vor den Russen unterwegs waren, kamen durch dieses unmenschliche Verbot noch im letzten Augenblick in russische Hand.

Schlimmer als der 9. und 12. Armee erging es den zurückflutenden Soldaten der Heeresgruppe Schörner. Sie erreichten in der Masse die amerikanische Linie. Der Übertritt wurde ihnen jedoch zum großen Teil nicht erlaubt. Sie wurden vielmehr mit Waffengewalt zusammengetrieben und den nachdrängenden Russen ausgeliefert. Sie gingen nun am Ende des Krieges, in dem sie tapfer ihre Pflicht getan hatten, noch in langjährige russische Gefangenschaft oder in den Tod durch Hunger und Kälte.

Ich hatte am 1. Mai dem Einspruch gegen das sofortige Absetzen der Armee Schörner nachgegeben. Das war falsch von mir gewesen. Die befürchtete Auflösung der Heeresgruppe bei ihrem sofortigen freiwilligen Zurückgehen hatte sich auch bei der späteren Absetzbewegung nicht vermeiden lassen. Aber andererseits bleibt die Frage doch offen, ob den Soldaten der Schörner-Armee bei einem früheren Eintreffen an der amerikanischen Front der Übertritt gestattet oder auch schon verwehrt worden wäre.

Im Ostseeraum hing der Rückzug der Soldaten und Flüchtlinge ganz von den Seetransporten der Kriegsmarine ab. Der Landweg war ihnen durch die Russen bereits versperrt. In der Zeit vom 23. Januar bis 8. Mai 1945 waren es 2 022 602 Menschen, die aus Kurland, Ost- und Westpreußen, später auch aus Pommern und teilweise aus Mecklenburg über See in den rettenden Westen gebracht wurden. Diese Fahrten wurden unter fortwährenden Kämpfen gegen angloamerikanische und russische Flugzeuge, gegen russische U-Boote und Schnellboote, vielfach auf verminten Seewegen durchgeführt. Schrecklich waren dabei die Untergänge der Transportschiffe „Wilhelm Gustloff“ mit 4000 und „Goya“ mit 7000, sowie des Lazarettschiffs „Steuben“ mit 3000 Menschen. Aber so schmerzlich solche Verluste auch waren, – sie machten doch nur 1 % der verschifften Menschen aus, 99 % von ihnen glückte es, sicher in die Seehäfen der westlichen Ostsee zu gelangen. Dagegen war der Prozentsatz der Verluste der Flüchtlingszüge auf dem Landwege erheblich höher.

Von der Armee Kurland konnte aus Mangel an Schiffsraum und wegen unzureichender Quaianlagen im Libauer Hafen nur ein Bruchteil abgeholt werden.

Mit dem 9. Mai 0 Uhr hörten alle Kampfhandlungen an allen Fronten auf. Im letzten Wehrmachtsbericht vom 9. Mai hieß es:

„Seit Mitternacht schweigen nun an allen Fronten die Waffen ... Auf Befehl des Großadmirals hat die Wehrmacht den aussichtslos gewordenen Kampf eingestellt. Damit ist das fast sechsjährige heldenhafte Ringen zu Ende. Es hat uns große Siege, aber auch schwere Niederlagen gebracht. Die deutsche Wehrmacht ist am Ende einer gewaltigen Übermacht unterlegen.

Der deutsche Soldat hat, getreu seinem Eid, im höchsten Einsatz für sein Volk für immer Unvergeßliches geleistet. Die Heimat hat ihn bis zuletzt mit allen Kräften unter schwersten Opfern unterstützt. Die einmalige Leistung von Front und Heimat wird in einem späteren gerechten Urteil der Geschichte ihre endgültige Würdigung finden. Den Leistungen und Opfern der deutschen Soldaten zu Lande, zu Wasser und zur Luft wird auch der Gegner die Achtung nicht versagen. Jeder Soldat kann deshalb die Waffe aufrecht und stolz aus der Hand legen und in den schwersten Stunden unserer Geschichte tapfer und zuversichtlich an die Arbeit gehen für das ewige Leben unseres Volkes.

Die Wehrmacht gedenkt in dieser Stunde ihrer vor dem Feinde gebliebenen Kameraden. Die Toten verpflichten zu bedingungsloser Treue, zu Gehorsam und Disziplin gegenüber dem aus zahllosen Wunden blutenden Vaterland.“

Ich halte diese Worte in ihrem wesentlichen Inhalt auch heute noch für richtig.

Am 7. Mai kamen Friedeburg und Jodl aus dem Hauptquartier Eisenhowers zu mir nach Mürwik zurück. Friedeburg brachte eine Nummer der amerikanischen Soldatenzeitung „Stars and Stripes“ mit. Sie enthielt Bilder aus dem deutschen Konzentrationslager Buchenwald. Sie waren entsetzlich. Wenn wir auch annahmen, daß die Unordnung der Verkehrs- und Versorgungsverhältnisse in den letzten Kriegswochen zur Verschärfung der Zustände in den Lagern beigetragen haben mochten, so bestand doch kein Zweifel, daß das, was diese Bilder offenbarten, in keiner Weise und durch nichts zu rechtfertigen war. Friedeburg und ich waren tief betroffen. Derartiges hätten wir nie für möglich gehalten! Daß aber solche Abscheulichkeiten Wirklichkeit waren – und nicht nur in Buchenwald –, sahen wir in diesen Tagen auch selbst, als in Flensburg ein Dampfer mit KZ-Häftlingen einlief, deren Verfassung erschütternd war. Der Marinestandort-Älteste in Flensburg tat sofort alles Mögliche für die Versorgung und ärztliche Betreuung dieser Unglücklichen. Wir fragten uns, wie derartige Dinge, die mitten in Deutschland geschehen waren, uns entgangen sein konnten?

In den Jahren des Aufbaus der Kriegsmarine bis 1939 war ich als Auslandskommandant des Kreuzers „Emden“ und mit der neuentstehenden deutschen U-Bootwaffe meistens zur See gefahren. Ab Kriegsbeginn saß ich in meiner militärischen Befehlsstelle, zunächst auf dem ostfriesischen Lande in Sengwarden, dann im Ausland in Paris und bei Lorient an der Biskayaküste. Diese Befehlsstellen waren militärische Oasen. Fühlung und Verkehr mit der deutschen Bevölkerung waren gering oder gar nicht vorhanden. Die Führung des U-Bootkrieges und die technische Fortentwicklung der U-Bootwaffe füllten mich völlig aus. An feindlichen Nachrichten erhielt ich nur diejenigen, welchen den U-Bootkrieg betrafen. Daß der feindliche Rundfunk genau so wie der eigene von kriegsbedingter Propaganda gesteuert wurde und, gesteuert werden mußte, unterlag für mich keinem Zweifel. Ich hörte daher beide nicht.

Auch als Oberbefehlshaber der Kriegsmarine, nach 1943, saß ich die längste Zeit in der abgelegenen Befehlsstelle „Koralle“ zwischen Bernau und Eberswalde, nördlich Berlins. Bei meinen Besuchen im Führerhauptquartier nahm ich nur an militärischen Besprechungen teil und wurde von Hitler nur zu Fragen meines Marine-Ressorts herangezogen. Ich kümmerte mich auch nur um diese. Sie erforderten während des Krieges meine ganze Arbeitskraft.

Was ich in den Monaten des Jahres 1945, die der Kapitulation folgten, und im Jahre 1946 von den unmenschlichen Seiten des nationalsozialistischen Systems erfuhr, hatte eine tiefe Wirkung auf mich.

Meine Einstellung zum Nationalsozialismus und mein Verhältnis zu Hitler habe ich in einem früheren Kapitel dargestellt. Ich sagte, daß mich die Idee der Volksgemeinschaft in einem sauberen nationalen und sozialen Sinne des Wortes und die auf dieser Grundlage erreichte innere Einigkeit des deutschen Volkes begeistert hatten. Die durch Hitler herbeigeführte Vereinigung aller deutschen Stämme in einem gemeinsamen Reich schien mir die Verwirklichung eines uralten deutschen Traumes zu sein. Unsere Zerrissenheit ging in ihren Wurzeln auf den Machtspruch der Sieger im Westfälischen Frieden zurück, mit dem der Dreißigjährige Krieg geendet hatte. Unsere Gegner in Europa, die selbst schon zu Beginn der Neuzeit ihre Nationen zu einheitlichen Staatsgebilden zusammengefaßt hatten, wollten unsere Schwäche und verhinderten jahrhundertelang unsere Einigung. Erst dem nationalsozialistischen Staat war es gelungen, sie gegen alle Widerstände durchzusetzen. Das war ein historisches Verdienst gewesen.

Jetzt aber erkannte ich in aller Deutlichkeit die finsteren Seiten des Nationalsozialismus. Damit änderte sich auch meine Einstellung zu der von ihm geschaffenen Staatsform.

Es ist töricht und unmännlich, sich nicht durch Tatsachen belehren zu lassen. In meinem Schlußwort im Nürnberger Prozeß vor der Urteilsverkündung habe ich daraus die Folgerung gezogen und gesagt:

„Man hat hier viel von einer Verschwörung geredet, die unter den Angeklagten bestanden haben soll. Ich halte diese Behauptung für ein politisches Dogma. Als solches kann man es nicht beweisen, sondern nur glauben oder ablehnen. Große Teile des deutschen Volkes werden aber niemals daran glauben, daß eine solche Verschwörung die Ursache ihres Unglücks ist. Mögen Politiker und Juristen darüber streiten, sie werden es dem deutschen Volk nur erschweren, aus diesem Verfahren eine Lehre zu ziehen, die entscheidend wichtig ist für seine Stellungnahme gegenüber der Vergangenheit und für seine Gestaltung der Zukunft: Die Erkenntnis, daß das Führerprinzip als politisches Prinzip falsch ist.

Das Führerprinzip hat sich in der militärischen Führung aller Armeen der Welt aufs beste bewährt. Auf Grund dieser Erfahrungen hielt ich es auch in der politischen Führung für richtig. Besonders bei einem Volk in der trostlosen Lage des deutschen Volkes im Jahre 1932. Die großen Erfolge der neuen Regierung, ein nie gekanntes Gefühl des Glücks in der ganzen Nation schienen dem Recht zu geben. Wenn aber trotz allem Idealismus, aller Anständigkeit und aller Hingabe der großen Masse des deutschen Volkes letzten Endes mit dem Führerprinzip kein anderes Ergebnis erreicht worden ist, als das Unglück dieses Volkes, dann muß das Prinzip als solches falsch sein. Falsch, weil die menschliche Natur offenbar nicht in der Lage ist, die Macht dieses Prinzips zum Guten zu nutzen, ohne den Versuchungen dieser Macht zu erliegen.“

Als ich in den Maitagen 1945 von den KZ-Zuständen erfuhr, legte ich mir die Frage vor, was von mir aus in dieser Sache getan werden konnte.

Mit Himmler hatte ich mich, wie geschildert, am 30. April 1945 auseinandergesetzt. Eine weitergehende Trennung von ihm war damals nicht möglich gewesen, weil er noch die Machtmittel der Polizei in seiner Hand hatte, während ich keine besaß.

Mit der völligen Besetzung des deutschen Gebietes änderte sich das. Am 6. Mai enthob ich Himmler aller seiner Ämter. Daß ich ihn gehen ließ, bereute ich, als ich in der folgenden Zeit von den KZ-Greueln erfuhr. Denn ich war der Ansicht, daß diese Dinge eine deutsche Angelegenheit seien, daß wir selbst alles, was an Unmenschlichem geschehen war, zu klären hatten und die Schuldigen zur Verantwortung ziehen sollten. Graf Schwerin-Krosigk und ich waren uns in der Betrachtung dieses Problems einig. Er legte mir alsbald eine Anordnung vor, wonach das Reichsgericht die Untersuchung und Aburteilung all dieser Greueltaten durchzuführen habe. Ich sandte den Text mit einem eingehenden Bericht an Eisenhower und bat darin, das Reichsgericht für diese Aufgabe arbeitsfähig zu machen. Bei einem Gespräch, das ich mit dem amerikanischen Botschafter Murphy, dem politischen Berater Eisenhowers, hatte, wies ich nochmals ausdrücklich auf diesen Antrag hin und bat ihn um Hilfe. Er sagte mir auch seine Unterstützung zu. Ich hörte aber nichts mehr von der Angelegenheit.

Gleichzeitig mit meinen Überlegungen und Maßnahmen für eine möglichst günstige Kapitulation durch Teilübergaben liefen ab 1. Mai die Erwägungen über die Bildung einer geschäftsführenden Regierung. Es war von vornherein klar gewesen, daß ich einen außenpolitischen Berater brauchte. Auf innerpolitischem Gebiet schien mir die Zukunft des deutschen Volkes in schwärzestem Dunkel zu liegen. Wie konnte man eine Ernährungskatastrophe verhindern, nachdem die Ostgebiete verloren gegangen waren und das restliche Deutschland unter den Siegern aufgeteilt war? Würde es gelingen, einen Ausgleich der Lebensmittel innerhalb der einzelnen Zonen sicherzustellen? Wie konnten das Verkehrswesen und die Wirtschaft wieder in Gang gebracht werden? Was mußte geschehen, um anzufangen, die Wohnungsnot zu beseitigen? Wie würden sich das Geldwesen und unsere Währung gestalten? Und vor allen Dingen, was war zu tun, um den Flüchtlingen zu helfen? Wie konnten wir diese zusätzlichen Millionen aus dem deutschen Osten im bereits eng bevölkerten Westdeutschland in den Volkskörper und in die Wirtschaft eingliedern?

Es stand für mich fest, daß diese das ganze deutsche Volk angehenden Fragen eine für alle vier Zonen geltende Regelung erforderlich machten. Es mußten schon aus diesem Grunde entsprechende Organe einer einheitlichen Reichsregierung geschaffen werden. Es war deshalb aber auch notwendig, die Fachleute, die die besten Kenntnisse auf all diesen Gebieten hatten, zusammenzufassen, um sie den Besatzungsmächten zur Mitarbeit anbieten zu können. Zunächst galt es, dem deutschen, Volk das nackte Leben zu retten. Also mußten wir von unserer Seite bereit und in der Lage sein, hierfür alles zu tun, was uns möglich war.

Diese Überlegungen, die für die Bildung einer behelfsmäßigen Reichsregierung sprachen, gewannen weitere Gestalt und Form, als Schwerin-Krosigk zu mir trat. Er erhielt neben seinen Aufgaben als Außen- und Finanzminister die Gesamtleitung des Kabinetts und stellte die erforderliche vorläufige Regierung zusammen. Wenn für ihre personelle Besetzung auch nur die Männer zur Verfügung standen, die sich im Nordraum Deutschlands aufhielten, so gelang es doch, ein arbeitsfähiges Fachkabinett zu bilden. Es war folgendermaßen zusammengesetzt:

Gesamtleitung und Führung der Geschäfte des Reichsaußenministers und des Reichsfinanzministers Graf Schwerin-Krosigk, des Reichsinnen- und Reichskulturministers Dr. Stuckart, des Reichswirtschafts- und Produktionsministers Speer, des Reichsministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Backe, des Reichsarbeits- und Sozialministers Dr. Seldte, des Reichsverkehrs- und Reichspostministers Dr. Dorpmüller.

Wir waren uns darüber klar, daß irgendeine aktive Regierungstätigkeit zunächst zweifellos nicht möglich sein würde. Aber jedes Mitglied der behelfsmäßigen Reichsregierung arbeitete auf seinem Gebiet Pläne und Memoranden darüber aus, wie der Not unter zentraler Leitung gesteuert werden konnte. Diese Denkschriften und entsprechende mündliche Berichte überraschten mich zum Teil durch ihre verhältnismäßig günstigen und kurzfristigen Prognosen. So legte mir Dr. Dorpmüller trotz seines Alters in schwungvollem Vortrag dar, daß er sich anheischig mache, das gesamte Verkehrs- und Transportwesen Deutschlands in 6 „Wochen wieder in Ordnung zu bringen. Voraussetzung sei natürlich, daß man ihm in jeder, vor allem in personeller, Beziehung freie Hand ließe.

Diese Pläne und Denkschriften für eine tatkräftige, zentrale Steuerung der für das Leben des Volkes wichtigen Gebiete stellten wir den Vertretern der West-Alliierten und der Sowjetregierung zu, die in Mürwik erschienen waren. In einzelnen Fällen wurden unsere Vorschläge durch mündliche Besprechungen erläutert. Es schien zunächst so, als ob unsere Mithilfe angenommen würde.

Es schien aber nur so. Mitte Mai bekamen der Verkehrsminister Dr. Dorpmüller und der Ernährungsminister Backe von den Alliierten Anweisung, ins amerikanische Hauptquartier zu fliegen. Da sie in den Problemen ihrer Ressorts besonders häufig mit den alliierten Kontrollbehörden in Mürwik verkehrt hatten, glaubten sie, der Flug nach Reims solle ihrer zukünftigen praktischen Mitarbeit auf ihren Tätigkeitsgebieten dienen. Wir hörten jedoch nichts mehr von ihnen. Sehr viel später erfuhr ich, daß zum mindesten Backe nicht zur Mitarbeit, sondern in die Gefangenschaft weggeflogen war.

Angesichts dieser sehr geringen Wirkungsmöglichkeit trat die Frage auf, ob ich nicht doch mit dem behelfsmäßigen Kabinett abdanken sollte. Meine Aufgabe, die Kapitulation ordnungsgemäß durchzuführen, war erfüllt. Wenn ich auch in Mürwik noch in der von den Alliierten nicht besetzten Enklave eines eigenen Hoheitsgebietes lebte, so war ich doch natürlich völlig in der Hand des Gegners. Ganz Deutschland war vom Feinde besetzt. Er regierte dort. Selbständiges Handeln, wie es bei der Durchführung der Kapitulation noch möglich war, gab es für mich nicht mehr.

War es unter solchen Umständen nicht würdiger, diesem Scheindasein ein Ende zu machen, also aus eigener Initiative abzudanken, anstatt abwartend völlig Ungewissen Maßnahmen der Sieger entgegenzusehen? Daß es mir nach Durchführung der Kapitulation nicht behagte, ohne Wirkungsmöglichkeit dazusitzen, war selbstverständlich.

Minister Speer in erster Linie war der Ansicht, daß wir zurücktreten sollten. Er glaubte für seine Person, daß die Amerikaner mit ihm weiterhin zusammenarbeiten würden.

Graf Schwerin-Krosigk hingegen war der Meinung, wir hätten trotz aller Gefahr, daß die Gegner uns bewußt der öffentlichen Lächerlichkeit preisgeben wollten, zu bleiben. Der Reichspräsident und seine behelfsmäßige Regierung stellten die Reichseinheit dar. In der bedingungslosen Kapitulation hatte ausdrücklich nur die deutsche Wehrmacht kapituliert. Der deutsche Staat hatte nicht aufgehört zu bestehen. Wenn ich auch behindert sei, tatsächlich Regierungshandlungen zu vollziehen, so ändere das doch nichts daran, daß ich das Staatsoberhaupt des Deutschen Reiches sei. Auch die Feindmächte hätten dies durch die Forderung einer Vollmacht von mir für die drei Chefs der deutschen Wehrmacht, welche die Kapitulationsurkunde am 8. Mai unterzeichnen sollten, anerkannt. Mein Rücktritt sei daher nur möglich, wenn gleichzeitig für einen Nachfolger gesorgt würde.

Ich hielt den Standpunkt Graf Schwerin-Krosigks für richtig. Meine Ernennung hatte ich zunächst nur dahingehend aufgefaßt, daß ich nur den Krieg zu beenden hätte. Ich durfte aber jetzt keinesfalls, was auch geschehen möge, freiwillig mit der behelfsmäßigen Reichsregierung zurücktreten. Dann konnten die Sieger mit Recht erklären: Da die für alle Zonen Deutschlands zuständige Reichsregierung davongelaufen ist, blieb uns nichts anderes übrig, als in den einzelnen Besatzungsgebieten besondere deutsche Regierungen aufzustellen und die Souveränität in den Zonen durch eigene Militärregierungen ausüben zu lassen.

Ich durfte also schon aus diesem Grunde nur der Gewalt weichen; anderenfalls hätte ich zu der Spaltung Deutschlands, wie sie heute besteht, in politischer Beziehung zumindest formell die Handhabe gegeben. Mein Rücktritt also, der freiwillige Verzicht auf meine von den Alliierten anerkannte Stellung, wäre der politische Fehler gewesen, den ich nach der Kapitulation hätte machen können.

Diese Überzeugung schließt nicht aus, daß ich der Ansicht war und auch heute noch bin, daß der Wille des deutschen Volkes allein maßgebend für die Besetzung des höchsten Amtes im Staate sein darf.

Es mußte also im Mai 1945 mein Bestreben sein, das mir nun einmal zugefallene Amt bis zur Durchführung von Wahlen oder bis zu einer gewaltsamen Entfernung durch die Alliierten zu behalten.

Ab Mitte Mai 1945 schien bei den Feindmächten die Frage des Verbleibens meiner Regierung einer Entscheidung zuzugehen.

Nach der Gesamtkapitulation war in Mürwik eine Alliierte Kontrollkommission unter Führung des amerikanischen Generalmajors Rooks und des englischen Brigadiers Foord erschienen. Sie wurde wenig später durch einen russischen Vertreter ergänzt. Ich hatte den beiden angelsächsischen Chefs der Kontrollkommission in einer einstündigen Unterredung die innerdeutsche Situation dargestellt. Ich hatte ihnen gesagt, welche Maßnahmen ich für erforderlich hielte. Das gleiche versuchte ich dem britischen Berichterstatter Mr. Ward auseinanderzusetzen. Ich wollte mit diesen Unterredungen die von der behelfsmäßigen deutschen Reichsregierung übergebenen Denkschriften unterstützen. Es lag mir daran, jede Wirkungsmöglichkeit auszunutzen, um der deutschen Bevölkerung zu helfen. Dem gleichen Ziel dienten meine Warnungen und Vorschläge, die sich auf die weitere außenpolitische Entwicklung in Osteuropa bezogen. Sie fanden wenig Verständnis.

Der Verkehr mit den alliierten Vertretern bei diesen Zusammenkünften war von ihrer Seite zurückhaltend, aber korrekt. Die international gebräuchlichen Ehrenbezeigungen wurden erwiesen. Daß die Mitglieder meiner Reichsregierung und ich selbst mit der gleichen Zurückhaltung auftraten und uns nichts vergaben, war selbstverständlich.

Ab Mitte Mai hörten meine persönlichen Zusammenkünfte mit den Vertretern der Kontrollkommission auf. Die feindliche Presse und besonders der sowjetrussische Rundfunk begannen, sich mit der „Regierung Dönitz“ zu beschäftigen. Die Russen griffen mich stark an. Es war offensichtlich, daß sie eine gemeinsame, für alle Zonen zuständige deutsche Regierung nicht wünschten. Die bisherige Zusammenarbeit der behelfsmäßigen Reichsregierung mit den angelsächsischen Vertretern in Mürwik hatte ihren Argwohn erregt.

Es scheint, daß Churchill meiner Beseitigung zunächst Widerstand entgegengesetzt hat. Er wollte mich als „nützliches Werkzeug“ verwenden und durch mich Anordnungen an das deutsche Volk weitergeben lassen, damit die Engländer nicht selbst „die Hände in einen aufgeregten Ameisenhaufen“ zu stecken hätten. Churchill war auch der Ansicht, daß man Kriegsverbrechen, die ich etwa als Befehlshaber der U-Boote begangen hätte, abschreiben sollte, falls ich den Engländern von Nutzen sein würde. Diese Einstellung Churchills war genau das, was ich damals; von der ganz kalt rechnenden englischen Politik erwartete. Sie würden mich so lange gebrauchen, wie es ihren Zwecken entsprach.

Anscheinend stellte dann am 15. Mai 1945 Eisenhower die Forderung, daß ich im Interesse der Freundschaft mit Rußland beseitigt werde sollte.

Am 22. Mai 1945 teilte mir mein Adjutant und Freund Lüdde-Neurath mit, der Leiter der Alliierten Kontrollkommission habe mich aufgefordert, mit Friedeburg und Jodl am nächsten Morgen auf dem Wohnschiff „Patria“ zu erscheinen, auf dem die Kommission untergebracht war. Ich antwortete lediglich: „Kofferpacken!“ Ich hatte keinen Zweifel, daß der Zeitpunkt unserer Beseitigung durch Gefangennahme gekommen war.

Als wir an das Fallreep der „Patria“ kamen, bot sich ein anderes Bild dar als bei meinen früheren Besuchen bei der Kontrollkommission: kein englischer Oberstleutnant, der mich unten empfing, kein präsentierender Posten. Dagegen war eine Fülle von Pressephotographen erschienen.

Oben auf der „Patria“ nahmen Jodl, Friedeburg und ich an der einen Seite eines Tisches Platz; auf der anderen saßen die Chefs der Kontrollkommission, in der Mitte der amerikanische Generalmajor Rooks, neben ihm der englische General Foord und der russische General Truskow. Im Gefühl der Unausweichlichkeit unseres Schicksals waren meine beiden Kameraden und ich völlig ruhig. General Rooks gab uns eine Erklärung bekannt, wonach er auf Befehl Eisenhowers mich, die deutsche Regierung und das Oberkommando der Wehrmacht zu verhaften habe. Wir hätten uns von jetzt ab als Kriegsgefangene zu betrachten.

Er fragte mich, etwas unsicher, ob ich irgend etwas erwidern wollte. Ich entgegnete: „Es erübrigt sich jedes Wort!“

Wenn ich heute auf meine Tätigkeit am Ende des Krieges zurückblicke, bin ich mir der Unzulänglichkeit allen menschlichen Tuns bewußt. Die besten Vorsätze erweisen sich oft als falsch, oder ihre Verwirklichung als fehlerhaft. Ich bin daher weit entfernt davon, zu glauben, daß alle Erwägungen und alle Handlungen, die ich hier dargestellt habe, bei nachträglicher Betrachtung als richtig zu werten sind.

Ich bin aber auch heute noch der Auffassung, daß ich meinem Volke gegenüber verpflichtet war, die Verantwortung für die Beendigung des Krieges zu übernehmen und das Chaos nach meinen Kräften zu vermindern. Das Gelingen der stufenweisen Kapitulation hat sehr vielen Menschen das Leben gerettet. Dafür, daß mein Wirken bei der Erfüllung dieser letzten Aufgabe von Nutzen war, bin ich dem Schicksal dankbar.

Die Entschiedenheit, mit der ich mich damals dem Ansturm aus dem Osten entgegenstemmte, soweit das überhaupt noch in meiner Macht stand, war von der Sorge um die Erhaltung von Menschenleben diktiert. Obwohl ich den Bolschewismus als eine Lebensform ablehne, die für das deutsche Volk unerträglich ist, kann und soll meine Handlungsweise im Jahre 1945 nicht verstanden werden als eine Stellungnahme zu der Frage, wie sich Deutschland endgültig zwischen den Nachbarn in Ost und West politisch einrichten soll. –

SCHLUSSWORT

Kapitän z. S. Wolfgang Lüth, einer der erfolgreichsten U-Bootkommandanten und einer der beiden einzigen Soldaten der Kriegsmarine, denen die höchste Tapferkeitsauszeichnung, das „Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes mit Eichenlaub, Schwertern und Brillanten“, verliehen worden war, kam am 14. Mai 1945, wenige Tage, nachdem unsere Kapitulation den Krieg beendet hatte, in Mürwik bei Flensburg durch einen tragischen Unglücksfall ums Leben. In der Aula der Marineschule nahmen wir, die in Flensburg versammelten Offiziere der Kriegsmarine, an seinem Sarge von ihm Abschied. Es war wie ein Symbol.

In dem an Überlieferungen so reichen Raum, in welchem sich seit 1909 die Fähnriche der Kaiserlichen Marine, der Reichsmarine und der Kriegsmarine, die in Mürwik ausgebildet wurden, unter Führung ihrer Vorgesetzten zu allen feierlichen Anlässen versammelt hatten, erwiesen wir in dieser Totenfeier am Ende des Krieges und vor einer Ungewissen, dunklen Zukunft nicht nur Lüth, sondern auch der uns so teuren Marine die letzte Ehre.

Die Marine hatte bis zur letzten Stunde ihre Pflicht erfüllt. Gegen ihren inneren Wunsch, der auf Verständigung und einen dauerhaften frieden zielte, ungefragt und ungerüstet, hatte sie 1939 den Kampf gegen die große britische Seemacht antreten müssen.

Mit den geringen Streitkräften, die sie besaß, hat sie nach bestem Können und Wissen gegen Großbritannien und die Vereinigten Staaten gefochten und unverhältnismäßig viel geleistet. Daß diese Leistung vollbracht werden konnte, lag nicht zum wenigsten an der seelischen Geschlossenheit der Marine, ohne die sie niemals in so hohem Maße der materiellen Überlegenheit der beiden großen Seemächte hätte standhalten können.

Der Geist der Kampf- und Opferbereitschaft, der die Marine erfüllte, war ihr nicht nur durch Erziehung und Schulung eingepflanzt worden. Er wurde von der Kraft gespeist, die das deutsche Volk als Ganzes während des letzten Krieges offenbarte.

Trotz all dieser Hingabe aber und trotz aller gebrachten Opfer war es doch zur totalen Niederlage gekommen.

Wie waren wir dahin gelangt, wo wir nun standen?

Über diese Frage werden Historiker, die unbeeinflußt sind und denen die gesamten, jetzt noch nicht freigegebenen Archive zur Verfügung stehen, einmal ein einigermaßen abschließendes Urteil abgeben können.

Ich kann mich hier nur zu einigen Teilproblemen äußern, so wie ich sie heute sehe. Als Folge des verlorenen ersten Weltkrieges und der Unvernunft des Friedensvertrages von Versailles kam Deutschland in den zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre wirtschaftlich und innenpolitisch in immer größere Schwierigkeiten. Das deutsche Volk hatte sich in Weimar eine Verfassung gegeben, die seinem politischen Reifegrad nicht entsprach. Die Organe des Weimarer Staates konnten mit der Zerrissenheit im Innern, dem wirtschaftlichen Niedergang und der Arbeitslosigkeit nicht fertig werden. So ging Deutschland einer Diktatur entgegen. Schon Brüning war nicht imstande gewesen, anders als mit dem Notverordnungsparagraphen zu regieren. Anfang der dreißiger Jahre bestand nur noch die Wahl, ob die Diktatur bolschewistisch oder antibolschewistisch sein würde.

Bei dieser Alternative erschien Hitler den meisten Deutschen als ein Retter, manchen anderen zum mindesten als das kleinere Übel. Das Auftreten Hitlers ist also aus den Verhältnissen jener Zeit heraus zu verstehen.

Sein Ziel, den Kommunismus aus Europa herauszuhalten, fand damals die Zustimmung nicht nur der Masse des deutschen Volkes, sondern auch der westlichen Regierungen. Das Ergebnis seiner Politik vor dem Kriege war, daß Deutschland und damit mindestens auch Osteuropa nicht der bolschewistischen Ideologie verfielen, sondern daß Deutschland durch seinen Zusammenschluß zur einheitlichen Nation, den andere Völker schon Jahrhunderte vorher vollzogen hatten, im Gegenteil zum stärksten Bollwerk Europas gegen den Bolschewismus wurde.

Einige der Grundsätze, die Hitler aufgestellt und propagiert hatte – die Gemeinsamkeit des Schicksals aller Glieder eines Volkes, die Ethik der Arbeit, wonach ein jeder, der an seiner Stelle seine Pflicht für das Gemeinwohl erfüllte, in der allgemeinen Achtung gleichstehen sollte –, waren der breiten Masse des deutschen Volkes verständlich, sie begegneten der in der Tiefe wirkenden Sehnsucht nach sozialem Frieden und gewannen viele Arbeiter, die bisher gegen den Staat gestanden hatten, für ihn, weil er nun auch der ihrige, der Staat aller Deutschen, sein sollte.

Zu seinem Aufstieg verhalf Hitler die suggestive Kraft seiner zweifellos faszinierend wirkenden Persönlichkeit, die immer wieder sogar Menschen für ihn gewann, welche ihm kritisch gegenüber standen – jedenfalls dann, wenn sie sich in seiner Nähe befanden und solange dies der Fall war.

Ich selbst habe diesen Einfluß oft empfunden, wobei ich nach zwei Tagen des Aufenthalts im Hauptquartier meistens das Gefühl hatte, mich von der Suggestion durch Hitler wieder absetzen zu müssen, um mich von ihr freizumachen. Er war für mich ferner nicht nur das rechtmäßige, legitim zur Macht gekommene Staatsoberhaupt, dem ich zu gehorchen hatte, der Mann der Politik gegenüber dem Soldaten, ich sah in ihm auch einen Mann von großer Intelligenz und Tatkraft. Das Dämonische seiner Natur durchschaute ich zu spät.

Hitlers Verkennung der englischen Mentalität, die einen weiteren Machtzuwachs Deutschlands keinesfalls hinnehmen würde, führte zum Weltkrieg. Damit war der Konflikt da, den er hatte vermeiden wollen, weil er nach seiner eigenen Aussage das „finis Germaniae“ zur Folge haben mußte.

Wer die ersten Septembertage 1939 in Deutschland erlebte, weiß, daß das Volk damals keine Kriegsfreude zeigte. Es hat sich trotzdem in die Tatsachen gefügt und Opfer über Opfer gebracht; der deutsche Soldat kämpfte mit einer einmaligen selbstlosen Hingabe an seine Pflicht. Volk und Wehrmacht gingen bei Siegen und Niederlagen den gleichen Weg bis zum Ende.

Jeder anständige Deutsche schämt sich heute der im Dritten Reich geschehenen Verbrechen, die hinter dem Rücken der Nation begangen wurden.

Dem Volk als Ganzem für die Taten einer kleinen Minderheit die Kollektivschuld zuzusprechen, steht jeder Rechtsauffassung entgegen. Menschen können nicht für schuldig erklärt werden an Dingen, von denen sie noch nicht einmal gewußt haben.

Die Vorstellung, daß ein Volk insgesamt moralisch schlechter sei als andere Völker, ist unwahr in sich und besonders ungerecht dann, wenn sie von Nationen ausgeht, die während des Krieges wie nach 1945 Dinge getan haben, die ebenfalls gegen Recht und Moral verstießen und deren Opfer Millionen deutscher Menschen geworden sind.

Ich halte es daher für falsch, daß einzelne Deutsche für das ganze deutsche Volk immer wieder Selbstbezichtigungen und summarische Schuldbekenntnisse öffentlich ablegen. Ein solches Verhalten gewinnt uns keine Achtung bei anderen Nationen. Keine von ihnen tut das hinsichtlich derjenigen unmenschlichen Dinge, die uns angetan wurden.

Das Führerprinzip, das eine Kontrolle der Macht ausschließt, hat sich bei Hitler als verhängnisvoll erwiesen. Da kein Volk bei der Wahl eines Führers im Voraus wissen kann, welche Eigenschaften bei ihm einmal die Oberhand gewinnen werden, kann die Lehre daraus nur die sein, daß die Verfassungen den Mißbrauch der Macht durch einzelne ausschließen und Freiheit und Recht zur Grundlage des Gemeinschaftslebens machen müssen.

Es steht deshalb fest, daß die demokratische Staatsform mit ihrer Garantie der Unverletzlichkeit der persönlichen Freiheit und Rechtssicherheit für ein hochstehendes Volk die richtige ist. Diese Grundsätze für alle Staatsbürger gleichmäßig zu verwirklichen, ist die Hauptaufgabe demokratischer Gesetzgebung und Innenpolitik.

Wenn wir aus der Vergangenheit gelernt haben, welche Folgen Überheblichkeit und Machtmißbrauch haben können, so sollten wir andererseits an der Erkenntnis festhalten, daß die Grundlage der Gesundung unseres Volkes ein natürliches und selbstverständliches Nationalgefühl sein muß, das seine Wurzeln in der Liebe zur Heimat, zur Muttersprache, zum deutschen Volke, seiner Kultur und seiner Geschichte hat. Ein solches Nationalgefühl bildet die Voraussetzung gerade auch für unsere internationalen Beziehungen; denn auch bei den Relationen zwischen den Völkern ist, wie der Ausdruck selbst es sagt, die Nation die Vorbedingung. Das Nationalgefühl steht also der Freundschaft mit anderen Nationen nicht im Wege.

Es ist falsch und liegt auch nicht im Interesse der Beziehungen zwischen den Staaten, in den Begriff „international“ eine antinationale Einstellung gegenüber dem eigenen Lande hineinzudeuten. Keine Nation außer zeitweise der deutschen tut das.

Ich wiederhole: wir müssen zu einem natürlichen, gesunden und damit maßvollen Nationalgefühl zurückfinden. In diesem Sinne muß auch die kommende Generation erzogen werden. Dazu ist es notwendig, ihr die geschichtliche Wahrheit über die deutsche Vergangenheit zu sagen und ihr nicht eine einseitige Darstellung zu geben, die noch der Nachklang der „reeducation“ durch die Besatzungsmächte ist.

In meinem Leben habe ich so viel Selbstlosigkeit und Treue mir unterstellter Soldaten erlebt, daß ich von Dankbarkeit diesen Männern gegenüber erfüllt bin. Niemand sollte das Soldatentum des letzten Krieges herabsetzen; man verletzt sonst die Ehrfurcht vor denjenigen, die in Erfüllung ihrer Pflicht gefallen sind.

Selbstlosigkeit und Treue, das ist meine Überzeugung, sind auch für Gesundung, Zusammenführung und Wiederaufstieg unseres Volkes notwendig.

(Aus dem Buch: Karl Dönitz. Zehn Jahre und zwanzig Tage)


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