Weltenumsturz


Ein Zukunftsroman

Pjotr Chomjakow

Liebesdrama vor dem Hintergrund politischer Schlachten. Die von den gegenwärtigen Machthabern ausgeheckten ungeheuerliche Verbrechen gegen die gesamte Menschheit sowie das Volk Rußlands werden von einer Gruppe energischer russischer Nationalisten – Helden und Intellektuellen, Technokraten und Romantikern – durchkreuzt. In ihrem harten Kampf erhalten die Helden Hilfe von den besten Vertretern der Weltgemeinschaft – Aristokraten und Intellektuellen, welche die überragende Persönlichkeit ihrer russischen Freunde in ihren Bann zieht. Die Helden sind lichte, facettenreiche Gestalten, deren Charakter realistisch und scharf gezeichnet ist, im Stil der Traditionen der großen russischen Literatur und nicht in jenem der Hollywood-Knüller. Erwarten Sie kein süßliches, verlogenes Happy-End. Doch die Tragödie bricht die Beteiligten nicht, sondern adelt sie. Und den unsterblichen Seelen der Helden wird in einem neuen Erdenleben Glück zuteil.


INHALTSVERZEICHNIS:


Einleitende Bemerkung

Dieses Buch hat im Grunde genommen zwei Verfasser. Beim zweiten handelt es sich um Alexander Schneider, dem ich eine ganze Reihe von Ideen verdanke und der maßgeblich am Aufbau der Handlung mitgewirkt hat. Auch der Titel stammt von ihm.

Doch ist Alexander in erster Linie ein Streiter für die russische Sache, und der Krieg hat seine eigenen Gesetze. Seit geraumer Zeit sieht er sich dem Druck der Gralshüter des Regimes ausgesetzt, und da ist es durchaus begreiflich, daß sein schriftstellerisches Schaffen für ihn gegenwärtig im Hintergrund steht. Nichtsdestoweniger waren wir beide der Ansicht, daß gerade unter den gegenwärtigen Umständen alles für die Veröffentlichung des vorliegenden Buchs sprach, und dies ist der Grund dafür, daß ich mich verpflichtet fühlte, es ohne Alexanders Hilfe fertig zu schreiben. Selbstverständlich hat es dadurch viel verloren. Es fiel mir außerordentlich schwer, mir die einzigartige Lebenserfahrung und Menschenkenntnis meines Freundes und Mitkämpfers zunutze zu machen, ohne mich bei der Niederschrift des Romans mit ihm zu beraten.

Ich bin jedoch überzeugt, daß der Tag kommen wird, wo wir gemeinsam eine neue Version von Weltenumsturz herausbringen werden. Und dieses Buch wird nicht die einzige Frucht unserer Arbeit sein. Wir glauben zutiefst daran, daß ein weltweiter Umsturz in Übereinstimmung mit dem Willen unserer Götter unvermeidlich ist.

In der Stunde deiner Prüfungen wünschen wir dir, Kamerad, unserem lieben „Deutschen“, dem Ritter der russischen Idee, unserem Freund, Gesinnungsgenossen und Kämpfer, Standhaftigkeit, Härte und Glück!

Wir werden siegen. Gott ist mit uns!

Vorwort

Lieber Leser! Wir verstehen deine Verblüffung. Wozu bedarf es in einem literarischen Werk eigentlich eines Vorworts? Was soll ein Vorwort in einem Abenteuerroman, einem Werk der Phantasie, einem Thriller? In den letzten Jahren ist dies tatsächlich aus der Mode gekommen, auch wenn die meisten Kriminalromane in früheren Zeiten durchaus mit einem Vorwort ausgestattet waren.

Aber wir wollen deine Geduld nicht auf die Probe stellen: Im vorliegenden Fall ist ein Vorwort tatsächlich vonnöten. Machen wir uns doch nichts vor: Auch die literarischen Werke, die im Verlag Weiße Alwen erscheinen, sind im allgemeinen für einen bestimmten Leserkreis bestimmt; sie richten sich an denkende Leser, denen das Schicksal ihres Vaterlandes und ihres Volkes nicht gleichgültig ist.

Doch was hat „unser“ auf die Bedürfnisse eines solchen Lesers ausgerichteter Büchermark diesem im Grunde zu bieten? Leider nicht allzu viel, und unter den vorhandenen Titeln finden sich vor allem solche weltanschaulicher und publizistischer Art. Die literarischen Werke „unserer“ Denkschule kann man an den Fingern einer Hand abzählen.

Wie wir in Die Eigenen und die Fremden dargelegt haben, können eine Ideologie und eine Weltanschauung jedoch nur dann triumphieren, wenn sie  über eine eigene Ethik, Ästhetik, Symbolik etc. verfügen und eigene Bücher eines jeden Genres, vom Kriminalroman bis zum Liebesroman, hervorbringen. Jawohl, lieber Leser, auch Liebesromane!

All dies brauchen „wir“, und es muß ganz und gar „uns“ gehören. Du verstehst doch hoffentlich, wovon wir sprechen? Wenn nein, so überspringe diese Zeilen. Wenn ja, so denke darüber nach, ob der wahre Grund dafür, daß „unsere“ Ideen es so schwer haben, in die Masse unseres russischen Volkes einzudringen, letzten Endes nicht darin liegt, daß wir nur wenige, sehr wenige eigene zeitgenössische Romane, Gedichte und Lieder haben. Am meisten fehlt es uns aber an guter Belletristik.

Mit unseren bescheidenen Kräften bemühen wir uns hiermit, einen Beitrag zur Füllung dieser Lücke zu leisten.

Man könnte vorliegenden Roman kurz und bündig als „Thriller“ bezeichnen. Doch gibt es Thriller der unterschiedlichsten Art, und unser Buch fällt seinem Charakter nach in die Kategorie der Science Fiction. Somit hältst du, lieber Leser, einen Abenteuerroman im Stil der Science-Fiction-Literatur in den Händen, einen Abenteuerroman, der sich grundlegend von den amerikanischen Schmökern unterscheidet, in denen unentwegt geschossen wird. Nach unserer Überzeugung ist dies freilich kein Mangel. Versuche dir in Erinnerung zu rufen, wie oft in der hinreißenden Fernsehserie Siebzehn Augenblicke im Frühling geschossen wurde. Genau zweimal! Doch war die Serie deshalb nicht weniger fesselnd.

Das Urteil darüber, ob unser Buch spannend ist oder nicht, haben übrigens nicht wir zu fällen. Zu seiner Charakterisierung möchten wir nur noch einen Punkt hinzufügen: Unsere Helden sollen Menschen von Fleisch und Blut sind und keine Marionetten. Deshalb haben wir in die Handlung auch Elemente eines Familiendramas sowie solches eines Liebesromans, ja eines erotischen Romans, mit einfließen lassen.

In anderen Worten: Bei unseren Helden finden sich alle Elemente des wirklichen Lebens wieder: Liebe, Kampf, Siegesfreude und Trauer über die erlittenen Verluste.

Doch das Leben unseres Landes und unseres Volkes beschleunigt seinen Lauf. Was uns heute noch phantastisch erscheint, wird vielleicht schon morgen in bedeutend schärferer, ausgeprägterer und härterer Form Wirklichkeit werden.

Wenn dem so ist, wünschen wir unseren Freunden und Gesinnungsgenossen viel Glück. Glück und Sieg.

Mit uns ist Gott!

Prolog

Die Wände des Krankenzimmers waren hellgrün gestrichen, halb im Stil eines Krankenhauses, halb im Stil der Armee. Hingegen entsprachen die Fensterrahmen dem in Krankenhäusern üblichen Typ und waren von weißer Farbe, ohne exotisches Zubehör. Auch die Gitter hinter dem Fenster waren anscheinend weiß oder auch hellgrau; hinter den trüben Scheiben war ihre Farbe nur schwer zu bestimmen.

Das Bett war hart wie bei der Armee, die Matratze ziemlich weich, und die ganze Ausstattung des Krankenzimmers auffallend dürftig. Freilich ist alles relativ: Im Krankenzimmer des Gefängnislazaretts war es immer noch viel besser als in der Strafanstalt selber. Außerdem war Siegfried hier allein. Ein unschätzbarer Luxus für einen Zuchthäusler. Ein Luxus freilich, für den er mit dem unvermeidlichen, immer näher rückenden Tod bezahlte.

Ein langer Hustenanfall zwang ihn, sich nach hinten zu krümmen. In seinem Kopf summte und rauschte es. Dies ist stets der Fall, wen man lange und viel hustet, und Siegfried hustete bereits länger als einen Monat. Die offene Tuberkulose trat bei ihm ins entscheidende Stadium. Bald wird der Husten schwächer, leiser, und die Anfälle sind nicht mehr so mörderisch.

Dafür fällt das Atmen schwer. Immer schwerer. Und dies ist das Anzeichen des baldigen Todes. Ja, das russische Gefängnis hat schon viele seiner Insassen auf diese Weise dahingerafft. Verdammt seien all jene, die es geschaffen haben!

Der Arzt, ein kleinwüchsiger, rundlicher Mann mit einer mächtigen Nase, schwarzen, stechenden Augen und einem kleinen Schnurrbart, dem Aussehen nach ein typischer Armenier (auch wenn vielleicht nur einige Tropfen kaukasischen Bluts in seinen Adern flossen), drängte sich forsch ins Krankenzimmer.

„Wie fühlen wir uns denn, alter Racker?“ Bisweilen gefiel sich der

 Arzt in der Rolle des „Doktor Tschechow“.

„Schlecht, Doktor“, antwortete Siegfried mit heiserer Stimme. „Der Husten macht mir furchtbar zu schaffen. Vielleicht verschreiben Sie mir noch einmal Koterpin.“

„Ich glaube nicht, daß dir das weiterhilft, alter Racker. Aber es gibt ein paar moderne Mittelchen, die dir sehr wohl helfen könnten.“

Es bestand kein Zweifel daran, daß der Arzt log und Siegfried innerlich bereits abgeschrieben hatte. „Ich kann dir sagen, wie sie heißen, und dann kannst du sie dir von deinen Angehörigen oder Freunden da draußen besorgen lassen.“

„Ich habe da draußen keine Angehörigen oder Freunde, die mir dieses vermutlich sündhaft teure Zeug kaufen könnten. Ich bin schon heilfroh, daß mir jemand wenigstens Butter und Honig schickt.“

„Schade, alter Racker. Aber laß den Mut nicht sinken. Es wird sich schon alles einrenken.“

Der Arzt wälzte sich aus dem Krankenzimmer.

War dies wirklich das Ende? Waren Begriffe wie „Wille“ und „eiserne Kraft“ wirklich nicht mehr als leere Worte? Wer konnte wissen, was ihm noch helfen konnte?

Nur Gott.

Aber welcher Gott? Siegfried war ein russischer Deutscher und von einem alten Weib nach dem katholischen Ritual getauft. Dies, sowie gewisse Schlüsselerlebnisse in seinem ganz und gar nicht einfachen Leben, hatten dazu geführt, daß er sich nie mit der Orthodoxie anzufreunden vermochte. Er durchschaute ihre Dürftigkeit und Heuchelei auch zu einer Zeit, wo seine Kumpane aus der Unterwelt geradezu wild auf Ikonen und Kreuze waren.

Doch auch Katholik war er nur auf dem Papier. Er wäre auch dann nie zum feurigen Anhänger des Glaubens seiner Ahnen geworden, wenn dieser von den Medien so massiv propagandiert worden wäre wie die Orthodoxie nach 1991.

Siegfrieds Spitzname lautete „der Faschist“. Aber die Theorie und Ideologie des Nationalsozialismus kannte er nicht nur darum, weil er sich bemühte, seinem Spitznamen gerecht zu werden. Freilich läßt sich nicht verschweigen, daß er diesen auf den ersten Blick irrationalen Wunsch sehr wohl verspürte.

Jedenfalls war Siegfried ein überzeugter Nationalist. Ein „russisch-deutscher“, wie er sich im Gespräch mit seinen engsten Vertrauten oft ausdrückte. Daß er auch ein weißer Rassist war, versteht sich von selbst. Wie hätte ein solcher Mensch den „durchaus nicht arischen“ Jesus als seinen Gott anerkennen können? Dies ging einfach nicht. Aber an irgend etwas glauben mußte er.

In seinem Inneren flackerte unversehens die Erkenntnis auf, daß er entweder eine sofortige Antwort auf die Frage nach dem Glauben finden oder demnächst sterben mußte.

Abermals zwang ihn ein Hustenanfall, sich in Fieberkrämpfen zu krümmen. Ihm schien, sein Körper sei drauf und dran, auseinanderzubrechen, in zwei Hälften zu zerfallen wie ein Schiff auf einer ungeheuren, steilen Welle.

Nach dem Anfall warf er sich auf das flache Kissen.

„Himmel, ich weiß nicht, wie ich Dich ansprechen soll, doch hilf mir. Ich bin doch Dein. Und Du weißt das.“ Dann begriff er jäh, daß er sich in diesem Zustand – er lag nach dem Anfall hingestreckt wie ein zertretener Wurm – nicht an den Himmel wenden durfte.

Mit unerwarteter Heftigkeit richtete er sich auf, legte das Kissen weg und setzte sich hin, wobei er sich nur leicht gegen die Rückenlehne des Betts stützte. Er hob beide Hände in die Höhe und warf den Kopf in den Nacken. Unvermittelt kam es ihm so vor, als falle ihm das Atmen bedeutend leichter.

Er schloß die Augen und wandte sich abermals an den Himmel, wobei er in derselben Position verharrte. Plötzlich war es ihm fast gleichgültig, womit dieser Dialog mit Gott für ihn, den Menschen Siegfried in seiner jetzigen Gestalt, enden würde. Doch wurde ihm klar bewußt, daß seine Seele unsterblich war – klarer, als er sich seines eigenen Körpers und seiner gegenwärtigen Lage bewußt war.

Er erinnerte sich nicht, was er dann zu Gott sprach. Er wußte lediglich, daß Gott ihn hörte. Der nächste Hustenanfall setzte ein.

„Nein, du kriegst mich nicht klein“, dachte Siegfried. Wie konnte es ein ordinärer Husten überhaupt wagen, sein Gespräch mit Gott zu unterbrechen? Seine Brust hob sich fieberhaft und senkte sich dann, als habe sie den bevorstehenden Anfall vergessen.

„Verzeih, Vater, daß ich mich ablenken lassen mußte“, dachte Siegfried beinahe automatisch, und nachdem er den drohenden Hustenanfall abgewiesen hatte, setzte er sein Gespräch mit Gott fort. Ihm schien, als lächele ihm Gott ebenso unmittelbar zu, und plötzlich wurde ihm fröhlich zumute.

So fröhlich, wie er schon lange nicht mehr gewesen war. Halb auf dem Bett sitzend, die Hände gen Himmel gereckt, sagte er dem Vater irgend etwas. Und dann versank er in eine Art Halbschlaf.

Nun kam es Siegfried so vor, als sei der Vater verschwunden, und als setzten zwei stämmige, starke alte Männer mit blondem Haar das Gespräch mit ihm fort. Jäh wurde ihm klar, daß dies sein geliebter Thor und der Beschützer Rußlands, Swarog[1], waren. Sie sprachen mit ihm wie mit einem Gleichen, wie gutmütige alte Verwandte. Das Gespräch war dermaßen fesselnd, daß er völlig vergaß, wo und in welcher Lage er sich befand.

Anschließend schlief er fast vierundzwanzig Stunden lang, immer noch in der gleichen, halb liegenden, halb sitzenden Stellung. Kein einziges Mal unterbrach der Husten seinen Schlaf. Und am nächsten Tag hustete er nur zweimal.

„Nun hör mal zu, mein Lieber!“ Von der intelligenten Güte des „Dr. Tschechow“ war nichts mehr übriggeblieben. „Entweder rückst du sofort mit der Sprache raus und sagst mir, welches Medikament du genommen hast und wie sie es dir übergeben haben, oder du kehrst auf der Stelle in die Abteilung zurück.“

„Ich habe Honig und Butter zu mir genommen. Sie wissen doch selbst, daß man mir das geschickt hat, Doktor.“

„Honig und Butter sind kein Heilmittel gegen eine solche... einen solchen Zustand wie der, in dem du dich befunden hast.“

„Nun dann, Autotraining und... der Wille zum Leben.“

„Willst du mich an der Nase herumführen? Hältst du mich für einen Dummkopf?“

„Ich habe nichts zu verbergen, Doktor. Schließlich konnten Sie mich die ganze Zeit über beobachten. Ich kann Ihnen zeigen, in welcher Pose ich jeden Tag meditiert habe. Woran ich während dieser Meditationen gedacht habe, verrate ich Ihnen nicht, sonst bringt man mich womöglich aus diesem Krankenzimmer gleich in eine spezielle psychiatrische Klinik, und darauf habe ich offen gesagt keine Lust. Außerdem habe ich sowieso nur noch anderthalb Monate abzusitzen. Sie können mich also ruhig in die Abteilung zurückschicken.“

„Na gut.“ In der Seele des Doktors gewann der Arzt die Oberhand über den Gefängnisbeamten. „Du bleibst noch eine Woche hier. Wir führen sämtliche Analysen durch. Wenn wir ganz sicher sind, daß du wieder gesund bist, kehrst du in die Strafanstalt zurück.“

„Kann ich nicht bis zum Ende meiner Frist hier bei Ihnen bleiben?“

„Nur wenn du mir frisch von der Leber weg erzählst, wie du gesund geworden bist.“

„Sie glauben mir ja doch nicht.“ Siegfried empfand für den Doktor plötzlich eine Mischung von Mitleid und Verachtung. Er war wirklich nur einer von vielen. Einer von denen, die nicht verstehen...

Siegfried sah den Doktor unverwandt und ein wenig herablassend an. Dieser lachte und wälzte sich aus dem Krankenzimmer. Aber Siegfried war es bereits gleichgültig, was der Arzt über ihn dachte.

Er hatte überlebt und den Glauben gefunden. Den Glauben gefunden und überlebt. Und das war das Wichtigste.

Kapitel 1. Siegfried

Siegfried Messerschmidt war durch seine Familientradition gewissermaßen zum Häftling prädestiniert. Gewiß, seine vor langer Zeit nach Rußland gekommenen Vorfahren waren gesetzestreue und loyale Untertanen des Imperiums gewesen. Sie alle hatten im Wolgagebiet und im Uralvorland in der Landwirtschaft gearbeitet, dem Zaren pünktlich ihre Abgaben errichtet und, wenn es nötig war, in seinem Heer gedient.

Die Messerschmidts hatten den Bürgerkrieg und die anschließenden Jahre so glimpflich überstanden, wie dies überhaupt möglich war, doch länger war ihnen das Glück nicht hold. Während des Grossen Vaterländischen Krieges hätte man sie allein schon wegen ihres Familiennamens vor ein Erschießungskommando stellen können.

Vor ein Erschießungskommando kam Siegfrieds Großvater nicht, ins Lager jedoch sehr wohl, und zwar für lange Zeit. Ein hartes Schicksal war auch seinem Vater beschieden, der ebenfalls hinter Gefängnismauern landete. Immerhin war er intelligent und kräftig genug, um sein Leben anschließend wieder einigermaßen ins Lot zu bringen, auch wenn es nicht ohne Verluste abging. Einer davon (seiner Meinung nach allerdings bei weitem nicht der schwerste) war sein Familienname; er kam nicht umhin, das klangvolle „Messerschmidt“ gegen ein einfacheres „Schmidt“ einzutauschen. Gewissermaßen als Rache für den erzwungenen Verzicht auf das wichtigste Element der Familientradition gab er seinem Sohn den Namen Siegfried.

Mit einem solchen Vornamen und Namen hatte es der Bub aus dem Städtchen im Ural unter den Gleichaltrigen nicht gerade leicht. Schon als Kind bekam er den Spitznamen „Faschist“. Anfangs kränkte ihn dies sehr, aber dann begann er Stolz auf seinen Familiennamen und seinen Spitznamen zu empfinden. Die ganze Erbärmlichkeit der proletarischen Existenz in einer der finstersten Regionen Rußlands ertrug Siegfried gelassen. Er fand Abstand zu der deprimierenden Armut, die ihn umgab, und fühlte sich darüber erhaben. Jawohl, er war ein Faschist, der zwar im Lager der Verlierer stehen mochte, jedoch niemals klein beigab.

Großgewachsen und von der Natur mit außergewöhnlichen körperlichen Kräften gesegnet, vermochte Siegfried sein Recht, zu denken und sich unter den anderen Knaben so zu verhalten, wie es ihm richtig schien, sehr wohl zu verteidigen. Er war ständig in Händel und Raufereien verwickelt und entwickelte sich schon frühzeitig zum echten und beharrlichen, von Jahr zu Jahr schlagkräftigeren Kämpfer.

Wer ständig Zweikämpfe austrägt, erwirbt dadurch zwangsläufig eine „Kampfpraxis“, und jeder erfahrene Trainer weiß, wie wertvoll und unersetzlich diese ist. Doch gab sich Siegfried nicht mit dieser „Praxis“ zufrieden, sondern trieb zugleich mit deutscher Disziplin Sport – jede Art von Sport, die man in seinem Städtchen ausüben konnte. Die unaufhörlichen Raufereien waren der einzige asoziale Zug in seinem Verhalten. Im übrigen war er, soweit dies in diesem seinem Wesen nach kriminellen Städtchen überhaupt möglich war, ein angenehmer und disziplinierter junger Mann, und seine Leistungen in der Schule durften sich sehen lassen.

Mit den Jahren erkämpfte sich Siegfried die Achtung und Anerkennung nicht seiner Altersgenossen, sondern auch seiner Lehrer, was für einem solchen „pathologischen Raufbold“ fürwahr ungewöhnlich war. Allerdings waren Entrücktheit und der Hang zur Träumerei bereits feste Bestandteile seiner Natur. Daß er unter den Jugendlichen des Städtchens mittlerweile zur anerkannten Autorität geworden war, stieg ihm durchaus nicht zu Kopf und hielt ihn nicht davon ab, sich Träumen hinzugeben, die ganz und gar nichts Knabenhaftes an sich hatten.

Siegfried beobachtete sorgfältig, was um ihn herum vor sich ging. Er las viel und dachte viel, und von einem gewissen Zeitpunkt an versuchte er, in seinem Denken seine kühnsten Phantasien mit der Realität in Übereinklang zu bringen. In der virtuellen Welt (das Wort „virtuell“ kannte Siegfried damals freilich noch nicht) lief vorderhand alles wie am Schnürchen.

So setzte sich Siegfried kein geringeres Ziel, als der Herrscher Rußlands zu werden. Wie das Amt, das er anstrebte, heißen sollte, darüber zerbrach er sich nicht den Kopf. Präsident oder Premierminister – was machte das schon für einen Unterschied! Doch Herrscher wollte er werden, und zwar Herrscher Rußlands, keinesfalls aber Generalsekretär, beispielsweise des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Die Kommunistische Partei gedachte der „Faschist“ Siegfried ohnehin zu verbieten. Die Sowjetunion wollte er auflösen, und die Asiaten und Kaukasier plante er zu Menschen zweiter Klasse zu degradieren, indem er ihre Republiken in klassische Kolonien Rußlands umwandelte.

So merkwürdig dies auch anmuten mag: Dieser Plan, den der Halbwüchsige aus der Kleinstadt im Ural in seinem Kopf erarbeitete, enthielt keinerlei inneren Widersprüche. Wie viele Genies auf den Gebieten der Wissenschaft, der Technik und der Politik verbergen sich übrigens bis zum heutigen Tage in den russischen Weiten! Und wie wenigen unter ihnen wird es dereinst beschieden sein, sich in diesem Land Geltung zu verschaffen, das immer mehr seiner alteingesessenen Bewohner, selbst die schlichtesten, nur noch mit Widerwillen als das ihre bezeichnen.

Als Weg zur Verwirklichung seiner Träume betrachtete Siegfried einen Militärputsch. Der damals immer noch schwelende Krieg in Afghanistan, dessen Ende nicht abzusehen war, schien einem Menschen, der über keinerlei Beziehungen, wohl aber über Kühnheit und Willenskraft verfügte, realistische Aussichten auf eine stürmische Karriere bei den bewaffneten Streitkräften zu bieten. Es versteht sich von selbst, daß Siegfried mit dieser Einschätzung „ein wenig fehllag“, um es zurückhaltend auszudrücken.

In dem bis ins Mark verfaulten und verrotteten Imperium winkten einem Mensch ohne Beziehungen selbst am Vorabend seines Zusammenbruchs keinerlei Karrierechancen. Doch bei all seinem Skeptizismus vermochte Siegfried das ganze Ausmaß der Niedertracht in dem Land, in dem er durch eine finstere Laune des Schicksals geboren war, nicht realistisch einzuschätzen.

Siegfried dachte lange darüber nach, in welcher Waffengattung er dienen wollte, und entschied sich für die Artillerie. Den ihm vorliegenden Informationen zufolge gab es nämlich nur noch bei der Artillerie Militärschulen, wo man innerhalb von nur zwei Jahren einen Offiziersrang erwerben konnte. Anschließend winkte dann der Aktivdienst in Afghanistan.

Der unter so rauhen Bedingungen aufgewachsene junge Mann aus der Kleinstadt im Ural war inzwischen derart kampferfahren und körperlich dermaßen gestählt, daß er sich vor keinem Krieg mehr fürchtete. Sein Lebensweg schien also vorgezeichnet: Afghanistan, Heldentaten, Orden, eine Beförderung nach der anderen. Dann die Kriegsakademie. Mit 34 wollte er General sein, mit 35 oder 36 einen Militärputsch anführen.

Er zeichnete sich durch erstklassige Leistungen in Mathematik und Physik aus, zwei Fächern, die Artilleristen beherrschen müssen. Mit Gleichaltrigen verkehrte er nun kaum mehr; dafür trieb er mit vermehrtem Eifer Sport.

Seine einzige seelische Erholung, die ihm dabei half, nicht um einen Millimeter vom vorgeplanten Pfad abzuweichen, war sein Tagebuch, in dem er mit deutscher Träumerei über seine Aussichten nachdachte und nicht mit beißenden Kommentaren über die erbärmliche Wirklichkeit geizte, die ihn umgab. Dieses Tagebuch wurde ihm zum Verhängnis. In jener Zeit starb nämlich seine Mutter, und sein Vater ging eine zweite Ehe ein. Die Stiefmutter mochte Siegfried begreiflicherweise ganz und gar nicht, und er unternahm seinerseits keinen Versuch, sich bei ihr anzubiedern.

Wie nichtswürdig dieses Provinzweib war, ging unter anderem daraus hervor, daß sie völlig unfähig war zu warten. Die Kenner der menschlichen Natur sind übrigens der Ansicht, die Fähigkeit zu warten sei eines der untrüglichsten Zeichen innerlicher Aristokratie und einer edlen Seele. Wer nicht warten kann, gleicht dem Tiere. Aber halt – kann ein Tiger etwa nicht warten? Gewiß kann er das! Sagen wir deshalb lieber: Wer nicht warten kann, gleicht dem Vieh.

Zu dieser Menschenkategorie gehörte auch Siegfrieds Stiefmutter, die nicht gewillt war, sich noch anderthalb Jahre lang zu gedulden, bis er seine Zehnklassenschule abschloß und dann abreiste, um das Studium in seiner Militärschule anzutreten. Nein, sie wollte sich den jungen Mann so rasch wie nur möglich vom Hals schaffen, und zu seinem Pech fand sie sein Tagebuch, worauf sie gleich den KGB sowie die nächste psychiatrische Klinik ins Bild setzte. Die Vertreter dieser beiden ehrwürdigen sowjetischen Institutionen berieten sich gebührend über den Fall Siegfried, mit dem Ergebnis, daß dieser tatsächlich in eine Klapsmühle und nicht in ein Lager eingewiesen wurde. Doch zu jenem Zeitpunkt war die Perestroika bereits in vollem Gange, und schon nach einem halben Jahr wurde Siegfried freigelassen.

Die Zehnklassenschule beendete er natürlich trotzdem, aber von einer Karriere konnte fortan nicht mehr die Rede sein, schon gar nicht bei der Armee.

Im Prinzip war Siegfried alles andere als kriminell veranlagt, doch die Logik des Lebens in einer abgelegenen Provinzstadt im Ural, wo die Hälfte aller Männer wenigstens einmal im Leben ein Gefängnis von innen sehen, führte dazu, daß er schließlich doch hinter Gittern landete. Vorderhand für zwei Jahre.

Und dann... Dann nochmals für fünf Jahre. Während seiner zweiten Haftzeit erkrankte er an Tuberkulose, überlebte jedoch durch ein Wunder, und als sich die Gefängnistore für ihn öffneten, war er gewissermaßen ein neuer Mensch, der etwas wußte, was den meisten Menschen verschlossen bleibt.

Im Gefängnis hatte Siegfried so gut wie möglich verfolgt, was im Lande vor sich ging, und begriffen, daß ihm lediglich zwei Wege offenstanden: Entweder reiste er, wie viele deutschstämmige Russen, nach Deutschland aus, oder aber er weihte sein Leben dem politischen Kampf. Entschied er sich für letzteres, so kam für ihn einzig und allein eine Tätigkeit auf dem äußersten rechten Flügel des russischen politischen Spektrums in Frage.

Aus der Ausreise nach Deutschland wurde nichts, denn daß Siegfried zweimal hinter schwedischen Gardinen gesessen hatte, rief bei den Einwanderungsbehörden seiner historischen Heimat keinerlei Begeisterungsstürme hervor. Somit blieb nur noch die Politik. Und zum damaligen Zeitpunkt fehlte es in der russischen nationalen Bewegung, die – sagen wir es offen – genau so verrottete wie das ganze Land (böse Zungen behaupteten sogar, sie verrotte in noch zügigerem Tempo) an allen Ecken und Enden an willensstarken Menschen. An Menschen, die bereit waren, zu handeln und Risiken einzugehen. An Menschen wie Siegfried, der damals wieder den Familiennamen seiner Ahnen annahm und jetzt abermals Messerschmidt hieß.

Kapitel 2. Die Farce

Wir sind Russen, wir sind Russen, wir sind Russen
Und wir beugen uns nicht unters Joch

Aus den an der Außenseite des Minibus montierten Lautsprechern hatte eben noch die Stimme Schanna Bitschewskajas ertönt, doch nun war das Lied zu Ende, und es folgte eine kurze Pause. Dann dröhnten die Lautsprecher aufs neue:

„Liebe Landsleute! Was ist Ihrer Meinung nach im heutigen Rußland das heißeste gesellschaftspolitische Problem? Das soziale? Jawohl, wir leben bescheiden, um nicht zu sagen miserabel, während anderen Geldes wie Heu haben. Doch ein kleines Sümmchen haben wir immerhin verdient, und – was noch wichtiger ist – wir haben unseren Lohn auch ausbezahlt bekommen. Nun gehen wir, sagen wir einmal, auf den Markt, wo unsere in der Gegend um Moskau gewachsenen Kartoffeln von Leuten verkauft werden, die ganz und gar nicht so aussehen, als kämen sie von dort. Und wir können uns des Eindrucks nicht erwehren, daß sie die Preise kräftig nach oben treiben!

Genau so ist es auch, liebe Landsleute! Die kaukasische Lebensmittelmafia kauft die ganze Produktion auf und setzt sie dann zu zwei- oder dreimal höheren Preisen ab als unsere russischen Händler. Mit dem Überschuß haben die Kaukasier schon rund die Hälfte der neuen Wohnungen in Moskau aufgekauft, mit dem Ergebnis, daß die Nachfrage ständig steigt und sich die Wohnungspreise verdoppelt haben. Zu solchen Preisen sind sie für uns unerschwinglich.

Andere Politiker, die sich ‚Patrioten’ nennen, machen geltend, der Westen plündere uns aus. Das stimmt, ich bestreite es nicht. Doch die GUS-Staaten plündern uns doppelt so ungeniert aus wie der Westen! Zählt hierzu noch unsere autonomen Regionen hinzu, vor allem aber die Parasiten aus dem angeblich ‚zu uns’ gehörenden Nordkaukasus. Dann werdet ihr begreifen, daß sich der Westen zu den kaukasischen Parasiten so verhält wie ein kleiner Gauner zu einem Großkriminellen.

Sind Ihnen, liebe Landsleute, diese schmutzigen Typen noch nie über den Weg gelaufen, die unsere Städte in Brutstätten der Kriminalität verwandeln? Jawohl, auch das Verbrechen hat bei uns ein kaukasisches Gesicht. Zwei Drittel aller schweren Delikte gehen auf das Konto von Kaukasiern.

Somit haben unsere sozialen und wirtschaftlichen Übel ihren Ursprung im Kaukasus und in Asien. Schaffen wir uns diese Leute vom Hals, umgeben wir uns mit einer undurchdringlichen Mauer, schicken wir die Kaukasier in ihre schmutzigen Bergdörfer zurück, und dann wird es uns mit einem Schlag besser gehen. Dann werden wir über die nötigen Kräfte und die nötige Zeit verfügen, um alle anderen Probleme Schritt für Schritt zu lösen.

Aber das bedeutet ja den Zerfall Rußlands, wird der eine oder andere von ihnen da bestürzt einwenden.

Was mich betrifft, so fürchte ich mich nicht vor einer Operation, bei der das kaukasische Geschwür aus dem gesunden russischen Volkskörper herausgeschnitten wird. Im Gegenteil, diese Operation wird den Russen zum Segen gereichen.

Das Ziel ist also klar: Ein Rußland ohne Kaukasus, ein Rußland ohne Kaukasier, ein Rußland ohne die GUS. Rußland ist kein Imperium, sondern ein Staat der Russen. Rußland für die Russen!

So lauten meine Losungen! Das sind die Ziele, für die ich mich in der Duma einsetzen werde.

Stimmt für mich, wenn eurer väterliches Haus euch lieb ist.“

Damit war die Ansprache beendet, und aus den Lautsprechern erklangen die Worte Chartschikows:

An einem Maientag im Bahnhofrestaurant
Machten wir uns beim Wodka und beim Wein
>Mit einem Oberst, einem General bekannt...

Die Lautsprecher waren vorsichtshalber an der Außenseite des Wagens auf der Höhe der Fenster montiert. Im Falle eines Konflikts mit den Vertretern der Staatsmacht konnte man also zumindest formal behaupten, der Wagen haben außen keinerlei Apparatur zur Verbreitung verbaler Propaganda aufgewiesen. Man hörte in seinem Autobus Musik und betrieb keinerlei Agitation. Und was draußen hörbar war... Na ja, die Musik ist eben so laut, haben Sie also Nachsicht, Herr Kommandant...

Die „Kommandanten“ hatten die Straßenwerbung Pjotr Petrowitsch Tschugunows, der in einem Einmandatskreis bei einer Nachwahl um einen freigewordenen Sitz in der Duma kämpfte, bisher nicht behindert. Immerhin beobachtete man seine Agitatoren mit Argusaugen.

„Wohin mögen sich die Bullen wohl verdrückt haben?“ fragte Jura Bulajew, der Leiter des Agitatorentrupps, mit jenem ironischen Lächeln, das nie von seinen Lippen wich. Er war ein stämmiger, beleibter Mann mit einem runden Gesicht, das auf Anhieb Sympathie erweckte.

Juras Spitzname lautete Winny Pooh. Sein Äußeres ließ nicht erahnen, daß er ein fähiger, kaltblütiger und – dies sei nicht verhehlt – brutaler Kämpfer war, der an mehreren Kriegen teilgenommen hatte. Er trug den Titel „Held der Serbischen Republik“, und das Internationale Tribunal zur Ahndung von Kriegsverbrechen hätte ihm nur allzu gerne ein paar Fragen gestellt. Er war viermal verwundet worden und hatte die Russische Idee niemals verraten. Nun, zu Beginn des neuen Jahrtausends, war Jura faktisch der einzige hochrangige russische Nationalistenführer, der sich niemals durch Zusammenarbeit mit dem Gegner befleckt hatte. Er war nicht käuflich und wartete kühl auf seine Stunde, wobei er die noch kampffähigen Überreste des Russischen Widerstandes in Reserve hielt.

Wie ihm dies glückte, weiß Gott allein. Dies ist keine Übertreibung. Als erstklassiger Polizist, der seinerzeit einer der fähigsten Ermittler bei der Verkehrspolizei von St. Petersburg (damals noch Leningrad) gewesen war und dazu noch als Abgeordneter im Leningrader Stadtrat saß, gehörte Jura in den späten achtziger Jahren zu den Begründern der radikal-nationalistischen Bewegung und ging stets bis an die äußerste Grenze dessen, was noch möglich war; vor dem Überschreiten dieser Grenze bewahrten ihn sein Realismus und seine Intelligenz. Die Geheimnisse Juri Alexejewitsch Bulajews kannte nur Gott allein, während sie seinen Kollegen aus verschiedenen Ämtern zu ihrem Pech unbekannt waren.

Auch diesmal erahnte Jura dank seiner unvergleichlichen Intuition, daß Stunk bevorstand.

Die Männer, die sich im Minibus wärmten, blickten aus dem Fenster. Um ihre Stände hatten sich vorderhand keine großen Menschenmengen versammelt. Draußen herrschte klirrende Kälte, doch eine gewisse Anzahl von Interessenten hatte sich immerhin eingefunden, und unter ihnen gab es auffallend viele Kaukasier.

Einer von diesen ging zum Stand, wo das Propagandamaterial Tschugunows auflag, und trat heftig gegen das wackelige Gerüst, um es zum Einsturz zu bringen. Mit dem ersten Tritt glückte ihm dies nicht, und er hob den Fuß zum zweiten Versuch. Doch in diesem Moment schoß Siegfried hinter dem Stand hervor, und jedermann hatte den Eindruck, er bewege sich wie der Blitz. Er gehörte zum Kommando Bulajews und befand sich momentan als einziger seiner Angehörigen beim Stand.

Ohne weit auszuholen, versetzte Siegfried dem Angreifer einen lässig und elegant anmutenden, aber nichtsdestoweniger mörderischen Schlag genau auf den Kiefer. Der Kaukasier flog anderthalb Meter vom Stand weg und rutschte dann noch ein wenig auf dem Rücken über den Moskauer Asphalt, der im Winter niemals ordentlich von Eis und Schnee gereinigt wird.

Die Kaukasier, die den Stand umgaben, stürzten sich auf Siegfried, aber dieser ließ zwei ebenfalls lässig und elegant wirkende Fausthiebe auf die beiden ersten „Bergadler“ niedersausen, worauf sie wie ihr unglücksseliger Spießgeselle zu Boden fielen. Nun rannten die restlichen vier herbei und versuchten Siegfried einzukreisen. Doch seine Kameraden waren bereits aus dem Minibus gesprungen und eilten ihm zur Hilfe. Durch eine rasche Bewegung nach links wich der stämmige Tschugunow einem Schlag in den Kiefer aus und versetzte seinem Widersacher dann von der Seite einen wuchtigen Hieb mit der Linken. Der Kopf des Kaukasiers wackelte und prallte auf die rechte Faust Tschugunows, worauf der Mann in eine Schneewehe am Straßenrand flog.

Hinten bewegte sich etwas. Tschugunow blickte sich um und sah, daß man mit einem Gegenstand auf ihn einschlagen wollte. Diese Attacke hätte er kaum parieren können, aber plötzlich fiel der Angreifer in den Schnee. Hinter Tschugunows Rücken waren einige russische Burschen aufgetaucht, die dem Kaukasier Fußtritte versetzten. Von allen Seiten rannten jetzt immer neuer Ruße herbei, darunter einige Skinheads, aber auch ganz gewöhnlich aussehende junge Männer. Mit Feuereifer stürzten sie sich in die Schlacht.

Man merkte, daß diese schneidigen Kerle schon lange ungeduldig auf eine Gelegenheit zur Abrechnung mit den Fremden gewartet hatten und daß einzig und allein das Fehlen eines „Koordinationszentrums“ sowie die mangelnde „Unterstützung seitens der Öffentlichkeit“ sie daran gehindert hatten, zu tun, wonach sie förmlich gierten.

Nun waren ihnen ihr „Koordinationszentrum“ und ihre „Unterstützung seitens der Öffentlichkeit“ unversehens in den Schoß gefallen, indem sie den Stand eines offiziell registrierten Kandidaten für einen Sitz in der Duma verteidigten.

Man muß neidlos anerkennen, daß die Kaukasier nicht schwer von Begriff waren und im Nu kapierten, was die Stunde geschlagen hatte: Wie auf ein Signal hin lösten sich flugs in der Menge auf. Dies war äußerst klug von ihnen, denn sonst hätten ihnen die jungen Russen, die mit den radikalen Nationalisten sympathisierten, die unrasierten Gesichter blutig geschlagen.

Tschugunow empfand echtes Erstaunen darüber, daß die „freiwilligen Helfer“ so zahlreich waren. Jawohl, unter den Massen gab es jede Menge potentieller nationalrevolutionärer Aktivisten! Ein wahres Pulverfaß; es fehlte nur noch ein Streichholz, um es zur Explosion zu bringen.

Tschugunow lachte innerlich über sich selbst. Er und seine Mitstreiter waren von erregten jungen Russen umringt, die ganz den Anschein erweckten, als warteten sie nur auf „weitere Anweisungen“. Doch weder er noch Bulajew waren in der Lage, diesen Burschen irgendwelche Befehle zu erteilen. Langer Erklärungen bedurfte es nicht, denn die jungen russischen Nationalisten hatten ohnehin alles bestens begriffen. Sie unterschieden sich grundlegend von den begriffsstutzigen „Patrioten“ der neunziger Jahre, die der verblichenen Sowjetunion nachtrauerten.

Für diese Burschen waren Parolen wie „Rußland den Russen“ und „Rußland ohne Kaukasus“ völlig natürlich. Sie brauchten keine Erklärungen, sondern Instruktionen: Wohin sie gehen sollten, wo sie Waffen erhalten konnten etc. Tschugunow machte sich in seinem Inneren abermals über sich selbst lustig. Was war er bloß für ein Revolutionär! Ein alter Narr war er und weiter nichts.

Völlig ungenutzt verstreichen lassen durfte man eine solche Gelegenheit allerdings nicht. Tschugunow und seine Leute unterhielten sich lange angeregt mit den jungen Leuten und verteilten ihr Agitationsmaterial. Doch damit gab sich niemand zufrieden; kein Mensch schickte sich an zu gehen. In diesem Augenblick erscholl aus den Lautsprechern ein Lied der bei jungen Radikalen ungemein beliebten Band „Koloworot“. Diese Musiker waren offene Nationalsozialisten und verstanden es, die die Herzen der Jugendlichen anzusprechen. Und dieses Lied der vom Staat verfolgten Band war für Tschugunows Gesinnungsgenossen und potentielle Mitstreiter wie ein Geschenk.

Helden von Ro, schlaft ruhig...

Die dröhnenden Klänge sorgten dafür, daß sich die Herzen zusammenkrampften. Die jungen Burschen lächelten dankbar. Doch nun erschien beim Stand die Miliz, die während des Überfalls der Kaukasier durch Abwesenheit geglänzt hatte.

Ein Zufall? Wohl kaum.

Die örtliche Miliz wußte allerdings kaum, daß die Musik der Band „Koloworot“ verboten war, und konnte allenfalls die Menschenansammlung als Anlaß zum Einschreiten nehmen. Die jungen Burschen dezentralisierten sich taktisch und hörten sich die Lieder aus der Entfernung an. Jura und ein paar jugendliche Aktivisten entfernten sich und hielten sich gemeinsam mit ihren neuen Freunden auf Abstand. Unter sie mischten sich Gaffer, welche die Rauferei mit Interesse beobachtet hatten. Winnie Pooh wandte seine Aufmerksamkeit ihnen zu. Er verstand es virtuos, mit jedermann eine gemeinsame Sprache zu finden. Siegfried war als einziger beim Stand zurückgeblieben. Während Tschugunow ihn ansah und an die Keilerei dachte, die sich eben erst hier abgespielt hatte, gingen ihm unwillkürlich folgende Worte Walter Scotts durch den Kopf:

Wie durch das Dickicht prescht mein Ross durch ihre Reihen

Gebirgeshorden schrecken kein Normannenherz

In diesem Moment piepste das Mobiltelefon und signalisierte den Eingang eines SMS.

„Vergiß nicht, daß ich bei dir bin, mein Lieber. Mein Kuß fliegt durch den Dezemberschnee zu dir. Halte die Ohren steif. Ich werde für dich beten“, las Tschugunow.

Er lächelte dankbar. Genau solche Worte hatte er jetzt, wo sich die Hitze des Gefechts verzogen hatte und ihn die Müdigkeit zu übermannen drohte, dringend nötig. Doch blieb ihm keine Zeit, an die Frau zu denken, die ihm diese Botschaft gesandt hatte, denn abermals läutete das Telefon. Diesmal war es kein SMS.

„Pjotr Petrowitsch?“

„Am Apparat.“

„Ich bin von der Wahlkommission.“

„Ich verstehe, Sie sind Valentina Sergejewna.“ Tschugunow hatte die Stimme einer Angehörigen der Wahlkommission erkannt.

„Wo befinden Sie sich? Können Sie hierher kommen?“

„Wenn Sie mich rufen, komme ich vom Ende der Welt zu Ihnen.“

„Vom Ende der Welt brauchen Sie nicht zu kommen.“

„Was gibt es denn? Wollt ihr uns schon wieder von der Liste nehmen?“

Während der Wahlkampagne hatte man den „intellektuelle Nazi“ Tschugunow kaum je in Ruhe gelassen, aber es ließ sich nicht leugnen, daß ihm die Wahlkommission Sympathie entgegenbrachte und dies gelegentlich auch durchblicken ließ. Vermutlich gefiel er diesen Leuten darum, weil er sich durch eine Mischung von kindlicher Naivität und unzweifelhafter intellektueller Begabung – zwei heutzutage in der Politik fürwahr seltenen Eigenschaften – von den anderen Kandidaten abhob. Zuweilen empfand Tschugunow selbst Befremden über sein knabenhaftes Benehmen, denn er war längst kein Jüngling mehr, sondern stand bereits in reifem Mannesalter. Daß er seine Fäuste im Boxring und auch auf der Strasse sehr wohl zu gebrauchen verstand, machte ihn noch lange nicht jünger.

„Laut dem Wahlgesetz kann man Sie nicht mehr von der Liste nehmen. In einer knappen Woche findet die Wahl statt. Aber wo bleiben bloß die Muster Ihres Werbematerials?“

„Herrgott noch mal, ich habe sie dem Gruschnitzki doch schon letzte Woche gegeben.“

Gruschnitzki war ein Angehöriger der Wahlkommission. Ein sympathischer, kleinwüchsiger Mann. Allerdings herrschte bei der Kommission eine heillose Unordnung, und Gruschnitzki war keineswegs ihr diszipliniertestes Mitglied. Dies kreidete ihm Tschugunow übrigens durchaus nicht an. Disziplin braucht es nur bei ernsthaften Dingen, beispielsweise bei der Behandlung eines Kranken oder bei der Automontage oder beim Fluglotsendienst. In der russischen Staatsmaschinerie ist sie überflüssig, denn diese Maschinerie ist ihrer Natur nach parasitär und den Erfordernissen des realen Lebens nicht gewachsen. Die wohlbekannte Flexibilität der russischen Staatsbeamten ist eine pure Notwendigkeit. Sie ist gewissermaßen das Schmieröl, ohne das die im Widerspruch zu den Naturgesetzen und zum Willen Gottes stehende Maschinerie des zählebigen Imperiums schlicht und einfach zum Erliegen käme.

Bisweilen bekommt man freilich auch die Schattenseiten dieser alles in allem segensreichen Disziplinlosigkeit zu spüren.

„Wo hat er das Zeug denn hingelegt?“

„Woher soll ich das wissen?“

„Pjotr Petrowitsch, es wäre wirklich besser, Sie würden herkommen und uns dabei helfen, die Dinger zu finden.“

„Na gut, ich komme.“

„Jura, ich fahre zur Kommission“, sagte er zu Bulajew.

„Ein weiser Entschluß, Petrowitsch. Es ist nicht deine Aufgabe, die ganze Zeit bei den Ständen zu stehen.“

„Mag sein. Jedenfalls muß ich jetzt auf die Präfektur.“

„Na dann, viel Glück!“

„Es ist taktlos, dir das zu sagen, aber ich bin fix und fertig“

„Nicht der Rede wert“, grinste Jura. „Es wird schon hinhauen.“

Professor Tschugunow hatte eigentlich nicht vorgehabt, sich an diesen Wahlen zu beteiligen, obgleich er in der Politik kein Neuling war. Gerade weil er so gut über die heutigen Realitäten Bescheid wußte, ließ ihn das politische Treiben herzlich kalt, was für einen ehemaligen führenden Analytiker der Nachrichtenagenturen „Nowosti“ und TASS fürwahr ungewöhnlich war.

Was war Tschugunow in seinem stürmischen Leben nicht schon alles gewesen! Bohrarbeiter, Betonarbeiter, Hirte, Matrose, Geologe, Feldmesser. Außerdem war er aktiver Offizier bei der Luftwaffe gewesen. Als sich seine Position einigermaßen stabilisiert hatte und er sich vollumfänglich seiner Karriere als Wissenschaftler widmete, lag bereits das ganze Land im Fieber darnieder. Infolgedessen „schwankte er gemeinsam mit der Generallinie der Partei“, wie man in den dreißiger Jahren zu scherzen pflegte. Schon als junger Mann hatte er mehrere ganz unterschiedliche, aber durchwegs hohe Posten bekleidet hatte (unter anderem war er Generaldirektor der Forschungs- und Produktionsvereinigung, stellvertretender Vorsitzender einer großen gesellschaftlichen Organisation und – wie bereits erwähnt – führender Analytiker bei „Nowosti“ und TASS gewesen). Nun versuchte er sich als Schriftsteller.

Nachdem er bereits einige Essays und historische Erzählungen verfaßt hatte, begann er phantastische Thriller mit „sozialem Hintergrund“ zu schreiben. Die Bücher brachten ihm zwar kaum Geld, aber immerhin einige wohlwollende Rezensionen ein. Man schlug ihm einen langfristigen Kontrakt vor. Allerdings mußte er zunächst einmal einen gewissen Bekanntheitsgrad erwerben, und zur Verwirklichung dieses Ziels regten seine Sponsoren einen ungewöhnlichen Weg an: Sie wollten versuchen, Tschugunow auf dem Weg über die Politik bekannt zu machen.

„Was für eine Politik soll man in diesem bis ins Mark verfaulten Land denn treiben?“ konterte er erbost. „Schließlich weiß ich nur allzu gut, daß es bei uns keine Politik gibt, welche diesen Namen verdient, und daß die ganzen politischen Aktivitäten nichts als eine abstoßende Farce sind. Der von Ihnen vorgeschlagene Weg kostet Sie einen Haufen Geld und bringt Ihnen nichts. Machen Sie lieber normale Reklame für meine Bücher.“

„Nein“, entgegneten die Herren Sponsoren. „Mit Ihren Kontakten in der Szene

der radikalen Nationalisten können Sie eine relativ billige, aber skandalträchtige Kampagne führen. Und die kostet und zehnmal weniger als gewöhnliche Reklame.“

Von seiner Einstellung her war Tschugunow schon seit langem Nationalist. Zum solchen war er während seines arbeitsbedingten Aufenthalts in Zentralasien und vor allem im Kaukasus geworden; für ihn waren die Bewohner dieser Regionen keine Menschen.

Trotzdem zauderte er, doch schließlich ließ er sich von einem jungen Freund aus dem „Russischen Widerstand“ (so nannten sich die Vertreter gewisser Auffassungen, auch wenn ihnen zu wirklichen Widerstandskämpfern noch sehr vieles fehlte) umstimmen.

„Stimmt es, daß Sie sich an den Wahlen beteiligen werden?“ hatte der junge Mann gefragt.

„Ach woher. Ich bin schließlich kein Depp.“

„Aber man hat es Ihnen doch vorgeschlagen.“

„Verflixt und zugenäht, heutzutage weiß jeder alles und jedes. Ja, es stimmt, man hat es mir vorgeschlagen. Aber ich habe keinen Bock darauf.“

„Wir helfen Ihnen.“

„Kostenlos?“ fragte Tschugunow mit einem skeptischen Lachen.

„Für ein Spottgeld“, entgegnete der junge Mann. „Man sehnt sich geradezu danach, für einen normalen Menschen zu arbeiten.“

„Scheren Sie sich mitsamt Ihren Kumpanen zum Kuckuck“, winkte Tschugunow ab.

So begann die Wahlkampagne. Es versteht sich, daß sie kein Honiglecken war; Tschugunow und sein Team rackerten sich bis zur Erschöpfung ab, und ihr Geld wurde schon bald knapp. Doch sowohl er als auch seine unerwartet zahlreichen freiwilligen Helfer entwickelten während der Wahlkampagne spontan immer neue originelle Methoden des politischen Kampfes, wobei sie ihren schmerzlichen Mangel an Ressourcen durch Verstand, Improvisationsgabe und Mut zum Risiko wettmachten.

Eine dieser Methoden war der Einsatz eines Wahl-Minibusses. Vorgeblich diente dieser lediglich „zur Unterstützung unserer Demonstranten“, doch die aus den Lautsprechern dröhnenden Lieder und Tschugunow-Reden sorgten dafür, daß der Bus eine Wahlveranstaltung, oder vielmehr eine ganze Reihe von Wahlveranstaltungen, aufwog, zu deren Durchführung Tschugunow niemals eine Erlaubnis erhalten hätte, auch wenn sie formgemäß angekündigt gewesen wären.

Mittlerweile neigte sich die Kampagne ihrem Ende zu. Während er in der Straßenbahn stand, schüttelte er den Schnee ab und vergegenwärtigte sich nochmals eine Reihe von Episoden aus dem Wahlkampf, die wirkten, als entstammten sie einem Meisterwerk der Satire, frei nach dem Motto: „Der stärkste Athlet hatte nur einen Arm, dem sichersten Schützen fehlten drei Finger, und der gewiefteste Gauner sah aus, als sei er eben erst heilig gesprochen worden.“ Von wem stammte dieses Zitat schon wieder? Richtig,  von Bret Harte.

Doch selbst dieser satirische Chronist der wilden Goldgräberjahre in Kalifornien wäre baß erstaunt über die Zustände im heutigen Rußland gewesen. Dort gab es nämlich „Schützen ganz ohne Finger“; es gab auch einen Juden namens Schirinowski, der sich als führender russischer Nationalist gebärdete! War das nicht noch ulkiger als ein fingerloser Schütze? Nur das Leben selbst konnte solche Satiren schreiben.

Bei der umfangmäßig begrenzten Wahlkampagne, an der sich Tschugunow jetzt beteiligte, war der „führende russische Nationalist“ schon von weitem als Kaukasier zu erkenne. Aus seinem Munde markige antikaukasische Sprüche zu hören, war geradezu komisch, wenn nicht geradezu widerlich.

Noch komischer war es Tschugunow allerdings nach einem Gespräch mit diesem Möchtegern-Staatsmann zumute. Seine Konkurrenten nahmen Tschugunow offensichtlich nicht ernst; allzu bescheiden war sein Wahlkampfbudget, und auf den ersten Blick erweckte er den Eindruck eines sehr schlichten, um nicht zu sagen naiven Menschen. Doch sein Intellekt und seine Gutmütigkeit nahmen seine Gesprächspartner rasch für ihn ein und bewogen sie, ihm gegenüber eine wohlwollende oder zumindest offenherzige Haltung einzunehmen.

Auch der „russische Nationalist“ aus dem Kaukasus, Georgi Agujew, schüttete Tschugunow nach der ersten Rundfunkdebatte in Ostankino sein Herz aus. „Weißt du“ – sie waren schon bald auf du –, „mein richtiger Name ist nicht Georgi, sondern Givi. Meine Mutter ist Georgierin, mein Vater Ossete. Hier mache ich den Leuten weis, ich sei ein Kosake aus der Gegend von Kasan, ha ha ha.“

„Warum gibt er das mir gegenüber so freimütig zu?“ wunderte sich Tschugunow. „Vermutlich erwecke ich in der Tat den Eindruck eines frommen Narren, oder eines Heiligen. Vielleicht ist es auch einfach so, daß im heutigen Rußland niemand einen Menschen ohne Geld für einen ernsthaften Konkurrenten hält. Zu guter Letzt ist eine Wahlkampagne sehr strapaziös, und irgend jemandem muß man sich ja anvertrauen.“

Das Mobiltelefon piepste gerade im richtigen Moment.

„Mein Tolpatsch, mein unartiges Mäuschen. Warum antwortest du nicht auf meine SMS? Tschüß, ich liebe dich, ich küsse dich, ich denke an dich. Viel Glück.“

„Gott sei Dank habe ich sie. Sie hilft mir, alle Schwierigkeiten zu ertragen und mich meinen Träumen hinzugeben. Ich brauche niemandem hysterisch mein Herz auszuschütten. Ich umarme sie und blicke ihr in die Augen. Sie sind so zärtlich, so blau, daß in meiner Seele sogleich Ruhe einkehrt. Dieser arme Teufel von Givi hat niemanden, mit dem er vertraulich reden kann. Darum weint er sich bei mir aus. Daß er dabei kein Blatt vor den Mund nimmt, ist keine Kaltschnäuzigkeit, sondern einfach Hysterie. Übrigens ist es gar nicht ausgeschlossen, daß er mich lediglich abtastet, um die Möglichkeit einer Zusammenarbeit zu sondieren. Aber was für einer Zusammenarbeit?“

„Soll ich dich irgendwo hinfahren?“ unterbrach Givi seine Gedanken und riß die Tür seines Mercedes auf.

„Zur U-Bahn-Haltestelle WDNH, wenn das geht.“

„Bitte sehr. Ich habe übrigens gemerkt, daß du ein Fachmann für die ethnologischen Probleme des heutigen Rußlands bist...“

„Übertreibe nicht, Givi. Ein bißchen verstehe ich allerdings schon davon. Noch wichtiger ist freilich, daß ich die Vorgeschichte fast aller Politiker und Parteien kenne, die sich mit diesem Thema befassen.“

„Genau solche Informationen brauche ich. Laß mich erklären, was ich als Geschäftsmann für ein Interesse an diesen Fragen habe.“

„Ach so, er hat geschäftliche Interessen an dieser Problematik“, dachte sich Tschugunow. „Und ich – habe ich vielleicht keine solchen? Schließlich ist eine Wahlkampagne etwas ganz anderes als die Demonstrationen zu Beginn der neunziger Jahre, oder die Verteidigung des Weißen Hauses anno 1993, oder die Kriege der Russischen Legion in Serbien, Südossetien und Transnistrien. Ja, das waren noch Zeiten! Übrigens kehren sie bestimmt wieder. Schluß mit der Selbstkasteiung.“

„Ich habe auf Zypern und in Griechenland fette Geschäfte gemacht“, fuhr Givi fort. „Aufgrund von Entwicklungen, auf die ich keinen Einfluß hatte, mußte ich jedoch alles aufgeben und nach Rußland zurückkehren. Vielleicht meint der eine oder andere Dummkopf, ich sei reich, weil ich zwölf ausländische Autos habe. Doch wenn man einen großen Coup lancieren will, sind das nur Kleinigkeiten. Du verstehst mich doch?“

Pjotr verstand ihn ausgezeichnet.

„Kurz und gut: Mein lukratives Geschäft im Ausland ist hopsgegangen, und hier, in Rußland, fehlt es mir an Kapital für einen Neuanfang. Für einen Geschäftsmann der Mittelklasse sehen die hiesigen Perspektiven im Moment trübe aus. Aber ich habe begriffen, daß man sich in der Politik eine goldene Nase verdienen kann.“

„Givi, ich spreche jetzt als Profi zu dir“, unterbrach ihn Pjotr. „In Rußland gibt es heutzutage gar keine Politik, die diesen Namen verdient. Das ganze politische Theater ist nichts weiter als eine Farce. Du hast ja keine Ahnung, was sich hier abspielt.“

„Einverstanden, unsere Politik ist eine Farce. Aber ich bin nicht auf Kleingeld aus. Verstehe mich richtig, ich war acht Jahre lang nicht mehr hier. Ich bin Geschäftsmann und vermag die Situation mit ungetrübtem Blick einzuschätzen. Hier kracht demnächst alles zusammen.“

„So einer ist er also, der ‚loyale Anhänger unseres Präsidenten’, wie er sich überall nennt“, dachte Pjotr schadenfreudig, wobei er sich in Gedanken an den Präsidenten wandte. „Solche Anhänger und Verehrer hast du also. Wenn die Zeit reif ist, verraten sie dich und stoßen dir einen Dolch in den Rücken. Übrigens geschieht dir das ganz recht. Es ist die Rache der russischen Götter für General Rochlin und alle unsere ermordeten Kameraden...“

„Wenn es soweit ist, wird keine Idee höher im Kurs stehen als der russische Nationalismus. Das nächste Regime in Rußland wird ein Regime radikaler russischer Nationalisten sein. Darum haue ich heute eifrig auf die nationale Pauke. Es zahlt sich aus, schon frühzeitig mit den Wölfen zu heulen.“

„Aber du erzählst doch jedem, was für ein Verehrer unseres Präsidenten du bist. Wie reimt sich das denn mit deinem Nationalismus zusammen? Immerhin hat er gesagt, ‚Rußland den Russen’ sei die Losung der Idioten und der Provokateure.

Givi zwinkerte listig mit seinen stechenden kaukasischen Augen.

„Wer vermag in diesem Land denn noch logisch zu denken! Du vielleicht.“

„Danke für das Kompliment. Wenn ich dich richtig verstanden habe, spielst du heute den militanten Nationalisten, um dann nach einer russischen nationalen Revolution zünftig absahnen zu können. Wie willst du das bloß bewerkstelligen?“

„Offen gesagt weiß ich es noch nicht. Gerade darum kommst du als Kenner der Situation mir wie gerufen. Dazu später mehr. Aber ich fühle instinktiv, daß man rechtzeitig mit den Wölfen heulen muß. Hast du übrigens gemerkt, daß sich bei diesem Wahlkampf kein einziger Kandidat gegen den radikalen russischen Nationalismus ausspricht? Sogar der Liberale von der Jabloko-Partei beschwört die nationalen Interessen Rußlands – nicht die der Russischen Föderation, sondern diejenigen Rußlands.“

„Dir entgeht wirklich nichts. Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen.“

Givi schmunzelte selbstgefällig.

„Heute begreifen nur Dummköpfe nicht, woher der Wind weht. Darum bin ich in solchen Fragen noch radikaler als du, mit Verlaub.“

„Nimm es mir nicht übel, Givi, aber dir ist die Rolle des rabiaten russischen Nationalisten wirklich nicht auf den Leib geschrieben.“

„Da bist du auf dem Holzweg, mein Lieber.“ Nun war bei Givi sogar ein kaukasischer Akzent hörbar. „Und Schirinowski mit seinem jüdischen

Aussehen? War ihm diese Rolle etwa auf den Leib geschrieben?“

„Aber Givi, das ist eine alte Masche. Zweimal haut die schwerlich hin. Du blamierst dich dabei nur.“

„Dann werde ich eben eine neue Variante finden müssen“, lachte Givi. „Übrigens sind wir längst an der U-Bahn-Station WDNH vorbeigefahren.“

„Dann steige ich bei der Haltestelle Prospekt Mira aus. Wir sind wohl schon ganz in der Nähe.“

„Ja, wir sind fast schon da.“

„Na denn, auf Wiedersehen.“

„Auf Wiedersehen.“

Ungeachtet dieses Abschiedsgrusses sahen die beiden Männer einander nicht wieder. Doch ihr unvollendetes Gespräch hinterließ auf Pjotr Petrowitsch einen nachhaltigen Eindruck. Wer die Situation mit ungetrübtem Blick beobachtete, erkannte also, daß jene Politik, die er betrieb – betrieben hatte, korrigierte er sich eilends –, ungeahnte Perspektiven bot? Gerade hier lockten fürstliche Profite! Wer weiß, wer weiß... Wir werden sehen.

Das Problem bei der Präfektur ließ sich fast im Handumdrehen lösen. Ein aufgeregter Gruschnitzki schwenkte das Bündel mit dem Werbematerial, das ihm Pjotr eine Woche zuvor übergeben hatte.

„Da sind die Dinger, sie lagen an einem Ort, wo sie jedermann sehen konnte“, krähte er.

„Dann ist meine Anwesenheit wohl nicht mehr vonnöten?“ antwortete Pjotr mit einem flüchtigen Lächeln.

„Entschuldigen Sie, Pjotr Petrowitsch“, sagte Valentina Sergejewna leicht verlegen.

„Halb so schlimm“, winkte Tschugunow großmütig ab. „Wenn Sie keine anderen Fragen an mich haben, mache ich mich gleich wieder dünn.“

„Ja, bitte sehr.“

Pjotr trat auf die Strasse hinaus. Der Frost war noch beißender als zuvor. „Herrgott, erst Anfang Dezember, und schon friert einem das Gesicht ab“, dachte Tschugunow mißmutig. „Alles läuft verkehrt, auch diese alberne Wahlkampagne.“

Der Vertreter der Regierungspartei „Einiges Rußland“ und der Liberale von der Jabloko-Partei machten sich den ersten Platz streitig, und der Schirinowski-Mann hoffte auf die Rolle des lachenden Dritten. Was aber hatten die anderen Kandidaten zu erwarten? Schließlich würde die Stimmenauszählung auf elektronischem Wege erfolgen, was jeder Art von Fälschung Tür und Tor öffnete. Unter diesen Umständen gab es nur zwei Möglichkeiten: Entweder man stellte die Fälscher an den Pranger, was einem zusätzliches politisches Kapital verschaffte, oder man verfolgte ganz andere Ziele. Der liebe Givi hatte ihm förmlich ins Gesicht gesagt, daß auf ihn letzteres zutraf. Aber war er selbst eigentlich viel besser? Seine Förderer hatten ganz recht. Schließlich hatte kaum lumpige zehntausend Dollar in diesen Wahlkampf investiert. Mit dieser Summe kann man keine auch noch so bescheidene kommerzielle Reklame finanzieren, aber dank der Wahlkampagne war sein Gesicht immerhin auf dem Bildschirm erschienen, und man hatte seine Stimme im Rundfunk gehört. Nicht viel, aber besser als gar nichts.

Diese Gedanken lösten bei ihm jäh ein heftiges Mißbehagen aus. Noch zu Beginn der neunziger Jahre, als er bereit war, um seiner Überzeugungen willen Kopf und Kragen zu riskieren, hätte er einem Typen wie diesem Givi ordentlich die Leviten gelesen.

Aber ging es tatsächlich nur um Reklame für ein literarisches Projekt? Und die erst ein paar Stunden zurückliegende Keilerei? Wir haben diesen jungen Russen die Freude über einen Sieg geschenkt. Um dieses freudigen Augenblicks willen hatten sich die ganzen bürokratischen Schikanen und die Teilnahme an der ganzen Farce gelohnt.

Wer weiß, vielleicht hatte diese Wahlkampagne irgendwelche ersprießlichen Folgen? Nicht, daß an einen Wahlsieg zu denken gewesen wäre. Aber hängt von dieser Wahl etwa das Leben ab? Der Sieg fällt früher oder später doch uns zu...

Pjotr betrat die nächste U-Bahn-Station. Dabei fiel ihm eine Reklame an der Wand auf: Zwei drollige Tigerchen schlugen auf einem grünen Rasen Purzelbäume. Herrgott noch mal, was bin ich doch für ein Lump! Ich habe meiner Tigerin (so nannte er seine Geliebte) kein einziges SMS geschickt!

Eilends kramte Tschugunow sein Mobiltelefon aus der Tasche. „Ich liebe dich, ich kann es kaum erwarten dich zu sehen, habe alle Hände voll zu tun und stecke mitten im Kampf.“

„Noch ehe die Bestätigung eintraf, daß seine Botschaft ihre Adressatin erreicht hatte, piepse das Handy von neuem. „Dein Tigerchen versichert dich an diesem Tage nochmals seiner Liebe; es wartet auf dich, denkt ständig an dich und bittet unseren Gott um dein Glück.“

Wieder einmal hatten sie einander also im gleichen Augenblick ein SMS geschickt! Da sieht man, was Liebe ist.

„Wir haben schon wieder zur gleichen Zeit an einander gedacht!“ lautete sein nächstes SMS. Die Antwort ließ nicht auf sich warten.

„Für mich bilden wir beide ein Ganzes. Oder wir sind Dummköpfe, die immer im gleichen Augenblick dasselbe denken. Aber ich bin glücklich, weil ich dich liebe und du mich. Deine Rolle in meinem Leben läßt sich nicht mit Worten schildern. Sie ist so groß, daß ich schier den Verstand verliere. Ich liebe dich aufrichtig, zärtlich, mit Tränen in den Augen.“

Tschugunow kam es so vor, als umwehe ihn ein warmer Windstoß, der den Duft unbekannter Bäume und Kräuter zu ihm trug. Großer Gott, wie sie ihm an diesen mühevollen Tagen half! Er rief sich den schwersten Augenblick der ganzen Wahlkampagne in Erinnerung zurück, als man versucht hatte, ihn von der Liste zu nehmen. Als Vorwand dafür diente eine unbedeutende formale Irregularität, deren sich fast alle Kandidaten schuldig gemacht hatten. Doch nur ihm versuchte man einen Strick daraus zu drehen.

Lediglich eine Verkettung glücklicher Umstände rettete ihn. Die Kommission lag gerade im Clinch mit einflußreicheren Kandidaten, und dann stellte es sich heraus, daß er überhaupt keine Irregularität begangen hatte. Er lieferte das verlangte Dokument bei der Kommission ab, doch man gab es ihm zurück und sagte, man werde es später brauchen.

Was für eine himmeltraurige Organisation!

Doch gottlob erwies sich die Kommission als anständig und wohlwollend. Und außerdem: Für wen konnte ein armer Schlucker wie er schon eine Bedrohung darstellen?

Dennoch war das Ganze für ihn sehr nervenaufreibend, und er verfiel in einen Zustand tiefer Depression. Dies hatte durchaus nichts mit Launenhaftigkeit zu tun, sondern hing damit zusammen, daß sich Unheil zusammenzubrauen schien: Das vorzeitige Ende seiner Kampagne, die Enttäuschung seiner Unterstützer, das Scheitern seines literarischen Projekts und anderer Unbill mehr.

Auch das „Problem der Gewährleistung des Lebensunterhalts“, wie er im stillen scherzte, stellte sich mit zunehmender Schärfe. Die Wissenschaft nährte ihren Mann schon längst nicht mehr, und auch als Journalist nagte man oft am Hungertuch. Sollte er wieder unterrichten? Erstens wurden auch Professoren heutzutage höchst dürftig bezahlt, und zweitens hatte Tschugunow auch während seiner Professorenzeit nie besonders gerne vor einer Klasse gestanden.

Daß es „in der Schmiede keine Nägel gab“, wie es in einem Kindervers heißt, konnte also allerlei Probleme heraufbeschwören.

Er schrieb ihr ein verzweifeltes SMS, in dem er unbedachterweise erwähnte, daß er „des Lebens überdrüssig“ war. Die Antwort fiel sehr deutlich aus:

„Du bleibst so oder so bei mir, bis du hundert bist. Dein Pessimismus geht mir gründlich auf den Wecker. Schluß mit dem Gejammer. Oder ich mache dich im Bett so fertig, daß du um Gnade winselst.“

Seine Depression war wie weggeblasen; er lachte von ganzem Herzen, und es wurde ihm plötzlich leicht und fröhlich zumute. Und – welch ein Zufall! – ausgerechnet in diesem Moment bestellte man in zur Kommission, um ihm mitzuteilen, daß nichts mehr gegen ihn vorlag und daß er seine Kandidatur für einen Sitz in der Duma feierlich bestätigt worden war.

Und da gab es Menschen, die behaupteten, Gott existiere nicht! Und ob er existierte! Freilich hatte man sich nicht mit kindischen Gebeten in Staatskirchen an ihn zu wenden, sondern mit liebendem Herzen. Und Gott hilft den Verliebten!

Jawohl, den Verliebten, dachte er. Liebe durfte man nicht mit ihren Surrogaten verwechseln, denn dafür konnte einen Gott auch bestrafen. Ihn jedenfalls hatte er bestraft, und zwar mit der Mietwohnung, in der er gegenwärtig lebte.

Einem anderen wäre diese Wohnung vielleicht recht akzeptabel vorgekommen. Sie lag in einem der sogenannten „Stalinschen Häuser“ bei der U-Bahn-Station Sokol. Eine ordentliche Wohnung mit nur einem Nachbarn, einem alleinstehenden, wortkargen älteren Mann.

Doch wer könnte bestreiten, daß eine solche Wohnung nicht das Richtige für einen Doktor der Wissenschaften und ehemaligen Generaldirektor der Forschungs- und Produktionsvereinigung war! Wie so oft, wenn er an einem Winter- oder Herbsttag auf die Strasse trat, kamen ihm folgende Verse eines Freundes aus der Armee in den Sinn, die seine gegenwärtige Lage und Stimmung trefflich wiedergaben:

Ich träumte von fremden Gefilden und Sunden
Von Ländern und Inseln am Ende der Welt.
Kapitän wollt ich werden, die Meere erkunden
Als Legendengestalt, als bewunderter Held.

Meinen Lauf konnten keine Gefahren hemmen
Des Sturmes Geheul bracht’ mich nicht aus der Ruh.
Nach der Heimkehr saß ich dann in Seemannskaschemmen
Sprach dem Rum und dem Wodka nach Seemannsart zu.

General wollt ich werden, Soldaten dingen
In die Feldschlacht sie führen, gewinnen den Krieg.
Durch des Pulverdampfs Wand sah ich Sonnenlicht dringen
Als beleuchte es unseren glorreichen Sieg.

Über Karten gebeugt sitzen nachts meine Leute
Der Feuersbrunst Glut färbt den Himmel tiefrot.
Wenn der Morgen graut, rüsten wir uns zum Streite
Auf, Soldaten, die Losung heißt Sieg oder Tod!

Und nun fahr ich zur Arbeit im schmutzigen Wagen
Es wird eben erst hell. Gleich beginnt meine Schicht.
Zwar man läßt mich in Ruh, stellt mir keinerlei Fragen
Doch ein Leben nenne ich so etwas nicht.

Und nun sitz ich im schmutzigen Straßenbahnwagen
Greife gierig zum Glas. Nur der Rum bringt mir Trost.
Auf die See, auf die Seefahrt, auf den Käpten, den alten
Den die Wellen verschlungen. Auf sie alle ein Prost!

Ich träumte von fernen Gefilden und Sunden
Ans Ende der Welt wollt ich steuern mein Schiff.
Kapitän wollt ich werden, die Meere erkunden
Doch die Wirklichkeit hält mich in lähmendem Griff.

Rum und Wodka! Genau das hätte Tschugunow jetzt nötig gehabt. Übrigens hielt er sich nur selten in seiner Moskauer Wohnung auf; den größten Teil seiner Zeit verbrachte er in seinem väterlichen Haus außerhalb der Moskauer Gegend. Dorthin zog es ihn nun mit aller Gewalt, und er wartete sehnsüchtig auf das Ende der Wahlkampagne.

Kapitel 3. Der letzte Tag

Das Kabinett des Beamten, der eine Schlüsselposition in der Administration des russischen Präsidenten bekleidete, war ungemein prunkvoll eingerichtet: Teure Büromöbel, ein persischer Teppich, der mehr gekostet hatte als eine kleine Wohnung am Rand von Moskau, ein ultramoderner Computer mit riesigem flachem Bildschirm.

So sah der Arbeitsplatz des steinreichen Spitzenbeamten aus, der seinerseits  einer steinreichen Korporation russischer Beamter angehörte, welche ihren Mitgliedern mit mühelos verdienten Petrodollars ein Leben in Saus und Braus ermöglichte, „sowohl zu Hause als auch bei der Arbeit“, wie man im Volke sagt.

Die Korporation bezahlte auch die Polizisten, welche die schamlosen Ausbeuter vor dem Volkszorn schützen sollten. An und für sich war die Furcht dieser Leute vor dem „Volkszorn“ ganz überflüssig, denn das Volk war in Rußland nur noch dazu fähig, vor dem Fernsehschirm auszusterben. Dies wußten „die oben“ zwar alle, aber obwohl sie es wußten, glaubten sie es nicht. In ihrem Innersten waren sie sich der Schwere ihrer Verbrechen nämlich sehr wohl bewußt und konnten einfach nicht glauben, daß all die Schurkereien und Schweinereien, die sie auf ihr Gewissen geladen hatten, straflos bleiben würden, um so mehr, als die Ereignisse in den Nachbarstaaten ihre Befürchtungen immer mehr bestätigten.

Der Herr des Kabinetts war ein bleicher, verhältnismäßig junger Mann mit schwarzen Haaren und tiefen, dunklen, klugen Augen, denen nichts entging. Sein ganzes Gesicht erweckte den Eindruck tiefster Müdigkeit. Bei näherem Hinsehen mußte man freilich zwangsläufig zum Schluß kommen, daß diese Müdigkeit die Folge seines lasterhaften Lebenswandels war.

Mit dem Ausdruck „Müdigkeit des Lasters“ wurde in der klassischen Literatur des 19. Jahrhunderts der Gesichtsausdruck von Menschen beschrieben, die ihrer eigenen Schandtaten und Ausschweifungen überdrüssig geworden waren. Die Müdigkeit des Halunken, dessen Verbrechen ungeahndet bleiben, unterscheidet sich nämlich grundlegend von der Müdigkeit des schaffenden Menschen, der ein wissenschaftliches oder literarisches Werk abgeschlossen hat, der Müdigkeit des Bergmanns oder des Manns auf dem Bohrturm am Ende einer knochenharten Schicht oder der Müdigkeit des Soldaten, der als Sieger aus einer blutigen Schlacht hervorgegangen ist.

„Übrigens, wie entwickelt sich eigentlich dieses Affentheater im 129. Kreis?“ fragte der Kabinettschef, der als Chefdenker der Administration galt, mit einer matten Bewegung seiner dünnen, fast mädchenhaften Hand. Die Frage richtete sich an einen seiner Untergebenen, einen Mann, der bedeutend älter war als er selbst und mit seinem unauffälligen Äußeren an einen KGB-Agenten oder einen Apparatschik aus dem Zentralkomitee der KPDSU gemahnte und als „Ideengenerator“ in der Administration galt.

- „Die Entscheidung fällt zwischen dem Vertreter von ‚Einiges Rußland’ und dem Typ von Jabloko.“

- „Und wer hat die Nase vorn?“

„Nach den ersten Hochrechnungen der Jabloko-Fritze. Es kann aber noch Überraschungen geben.“

„Über die Überraschungen reden wir später. Wie sieht es mit der Stimmbeteiligung aus?“

„Sie liegt im Moment noch unter dem für die Gültigkeit der Wahl erforderlichen Minimum.“

Der Kabinettschef dachte einen Augenblick nach.

„Unter diesen Umständen kann man also die Stimmbeteiligung leicht hochschrauben und dafür sorgen, daß der Kandidat von ‚Einiges Rußland’ obsiegt?“

„Ohne weiteres.“

„Aber haben wir es wirklich nötig, diesem Günstling des Bürgermeisters von Moskau den Sieg zu schenken? Was der in letzter Zeit tut, scheint mir nämlich nicht mehr ganz koscher.“

„Allem Anschein nach hat man ihm diesen Sitz versprochen. Wenn sich sein Zögling eine Abfuhr holt, ist das für ihn eine schallende Ohrfeige.“

„Ach, die bringt ihn nicht um“, antwortete der Kabinettschef mit einem müden Grinsen. „Es hat im Verlauf seiner Karriere schon eine ganze Menge Backpfeifen einstecken müssen. Wie ein mittelalterlicher Humanist sagte: Einem leibeigenen Knecht verabreicht man mit Vorteil ab und zu eine Tracht Prügel, damit man ihn eines schönen Tages nicht wegen ernsthafterer Vergehen köpfen muß.“

Im Kreml bewunderte man den Kabinettschef ob seiner Bildung.

Der graue Apparatschik hinterließ zwar den Eindruck eines Lakaien, pflegte sein Licht jedoch nicht unter den Scheffel zu stellen. Er hatte in diesen Labyrinthen der russischen Regierungsmacht schon mehr als eine Generation von Vorgesetzten überlebt. Sie kamen und gingen, während er und seine Kollegen blieben. Deshalb war er sich für plumpe Schmeicheleien zu gut und würdigte den Scherz seines Chefs nicht einmal eines Lächelns. Mit eintöniger, emotionsloser Stimme fragte er:

„Dann geben wir den Sieg also dem Jabloko-Fritzen?“

„Kommt gar nicht in Frage. Der Mann von ‚Einiges Rußland’ soll ruhig gewinnen. Aber wir arrangieren es so, daß die Wahl wegen zu niedriger Stimmbeteiligung ungültig ist. Damit sorgen wir dafür, daß die Schirmmütze [so nannte man den Bürgermeister von Moskau in den Korridoren der Macht] keinen zusätzlichen Duma-Abgeordneten bekommt; dies wird für sie ein Schuß vor den Bug sein und sie lehren, sich künftig loyaler zu verhalten. Gleichzeitig liefern wir den Beweis dafür, daß die Demokraten in Rußland keinen Wahlsieg erringen können. Zu guter Letzt demonstrieren wir auch unsere Objektivität. Schließlich hätten wir ‚unserem’ Kandidaten zuliebe die Wahlbeteiligung manipulieren können, aber wir haben dies nicht getan.“ Beim Wort „unserem“ verzog sich das Gesicht des Kabinettschefs zu einem häßlichen Grinsen.

„Wie sollen wir mit dem Kandidaten von ‚Gegen alle’? umspringen?“

„Verringert seinen Stimmenanteil, wie ihr es immer tut.“

„Dann landet der Jabloko-Fritze also auf dem zweiten Rang?“

„Das wäre zuviel der Ehre. Platz drei oder vier ist für den gut genug.“

„Wem geben wir dann den zweiten Platz?“

„Gibt es einen halbwegs annehmbaren Kandidaten?“

„Da wäre beispielsweise ein Oberst, vom Staat mit dem Heldenorden ausgezeichnet.“

„Ein Held der Sowjetunion?“

„Nein, ein Held Rußlands.“

Abermals grinste der Kabinettschef hämisch. Er kannte den wahren Wert der Orden, welche die morsche Russische Föderation verleiht.

„Gut, dann kriegt der Platz zwei.“

„Wird gemacht. Kann ich gehen?“

„Ja, Sie können über Ihre Zeit verfügen.“

Der letzte Tag der Wahlkampagne war höchst turbulent verlaufen. Das Schicksal hatte es gewollt, daß Tschugunow ausgerechnet an diesem Tag dank einem Losentscheid einmal am Fernsehen und zweimal am Rundfunk auftreten durfte. Doch die Zeit reichte nicht für drei Auftritte, so daß er seine für einen zweitrangigen Kanal bestimmte Ansprache auf Video aufzeichnen ließ.

Die wichtigsten Losungen waren immer dieselben: „Rußland ohne Kaukasus“, „Rußland den Russen“, „“Nieder mit der Diktatur der Bürokratie“, „Freiheit für die russischen Regionen, mehr Unabhängigkeit von dem unfähigen, ausbeuterischen Zentrum“, „Moskau ist nicht der Kreml – Freiheit für Moskau.“

Die letzte Parole hätte auch der Moskauer Bürgermeister unterschrieben, wenn er dafür den nötigen Mumm gehabt hätte.

Pjotr war restlos ausgelaugt und hielt sich nur dank seinem leicht hysterischen Enthusiasmus und... der Liebe. Der Tag hatte mit einem SMS von der Tigerin begonnen.

„Vergiß nicht, heute ist der letzte Tag. Wir wollen zusammenhalten, mein Liebster. Ich wünsche dir viel Erfolg; Gott stehe dir bei. Ich liebe dich, mein erwachsenes Kind.“

Er kam nicht dazu, auf diese Botschaft zu antworten, denn er hetzte von einer Wahlveranstaltung zur anderen. Doch verliehen ihm die Worte seiner Geliebten zusätzlichen Auftrieb. „Wir schaffen es“, sagte er sich immer wieder und war den ganzen Tag über in Hochstimmung. Ohne die geringste Müdigkeit zu verspüren, ging er gegen Abend zum Minibus seines Agitatorentrupps; mit nicht geringer Überraschung stellte er fest, daß dieser von einer Menschenmenge umringt war und daß ihre Flugblätter und Broschüren weggingen wie warme Semmeln. Aus dem Lautsprecher dröhnten ungeniert die Lieder von „Koloworot“. Die Miliz ließ sich nicht blicken; dafür hatten sich zahlreiche junge Menschen eingefunden, die anscheinend das Bedürfnis verspürten, den letzten Tag der Wahlkampagne bis zur Neige auszukosten.

Jura, Siegfried und noch fünf oder sechs junge Agitatoren, die seit dem Beginn der Wahlkampagne stets dabei gewesen waren, gingen in der Menge auf und ab. Tschugunow bahnte sich einen Weg durch die Menschenmasse, beantwortete Fragen, signierte seine Bücher und drückte Hände.

Wieviel Zeit auf diese Weise verstrich, war ihm nicht bewußt. Doch plötzlich erwachte er aus seinem Trancezustand und bemerkte, daß es bereits sehr spät war. Die Menge zerstreute sich. Jura, Siegfried und die jungen Aktivisten standen, jeder für sich, in einiger Entfernung inmitten kleiner Gruppen von Menschen, deren Wissensdurst immer noch nicht gestillt war. Pjotr befand sich allein auf weiter Flur.

Plötzlich übermannte ihn bohrende Unruhe. Zwei anscheinend stark angetrunkene Kerle schritten auf ihn zu.

„Sag mal, wie soll man den Titel dieses Buchs von dir verstehen?“

Pjotr lächelte breit und wohlwollend.

„Was ist daran bloß unverständlich? Bitte sehr, ich antworte auf alle Fragen.“

Der Unbekannte hatte sichtlich kein Interesse an Fragen und Antworten.

„Dein Grinsen gefällt mir nicht“, sagte er mit gedehnter Stimme.

Sein Trainer, der ihm Thai-Boxen beibrachte, hatte Tschugunow immer wieder eingeschärft:

„Heben Sie die Beine nicht hoch, versuchen Sie nicht, hoch zu treten. Versetzen Sie Ihrem Gegner einen wuchtigen Tritt unter das Knie. All diese Kunststücke dienen lediglich der Unterhaltung des Publikums, aber Sie sind nicht als Sportler, sondern als Kämpfer zu mir gekommen.“

Gewiß, der Sport bildete für Tschugunow einen untrennbaren Bestandteil seines Lebens, doch Thai-Boxen betrieb er, ein erfahrener Boxer, tatsächlich nicht, um irgendeinem Publikum Beifallsstürme zu entlocken. Mit aller Kraft trat er den lästigen Unbekannten ans Knie.

„Wenn Sie nicht an der Weiterführung der Unterhaltung interessiert sind, treten Sie ordentlich zu“, hatte der Trainer gesagt. „Dabei kann sich der Gegner leicht das Bein brechen. Aber ich spreche ja von Situationen, wo eine Fortsetzung des Gesprächs nicht vorgesehen ist.“

Dieser Trainer war wirklich nicht auf den Kopf gefallen!

Der aggressive Passant (falls es wirklich ein zufälliger Passant war) heulte kurz auf und plumpste in den Schnee. Der Tritt war zwar technisch nicht perfekt, dafür jedoch um so kräftiger und vor allem unerwartet gewesen.

Der zweite „Passant“ war plötzlich wieder nüchtern und stürzte sich auf Tschugunow. Dieser bereitete sich darauf vor, den Angriff abzuwehren, doch war dies nicht nötig. Links und rechts von dem Angreifer waren wie aus dem Nichts Siegfried und Boris aufgetaucht. Und vor ihm stand Tschugunow.

„Was ist denn mit euch los? Wir wollten euch doch nur ein paar Fragen stellen. Wir sind zivilisierte Menschen...“

Er sprach wie ein Betrunkener und bewegte sich auch plötzlich wieder wie ein solcher...

„Hebe deinen Freund auf und geh mit Gott“, sagte Jura, der in diesem Augenblick tatsächlich eine erstaunliche Ähnlichkeit mit Winny Pooh aufwies, in salbungsvollem Ton.

Der Mann, dem Tschugunows Lächeln nicht gefallen hatte, stand schweigend auf. Da sein verletztes Bein nicht gehfähig war, stützte er sich auf seinen Spießgesellen und hinkte langsam weg.

„Wir sollten lieber aufhören. Ich hätte nicht gedacht, daß wir so leicht mit denen fertigwerden würden. Wir haben unser Ziel erreicht. Man darf nicht über das Ziel hinausschießen“, sagte Jura.

„Du als alter Bulle solltest es besser wissen“, erwiderte Tschugunow. „Los, kehren wir heim. Aber vorher wollen wir in dem Café dort“ – hierbei zeigte er auf das nächste Café – noch unsere Thermosflaschen mit Kaffee nachfüllen, und auch Cognac wollen wir nachtanken. Den haben wir uns redlich verdient. Ich geh mal hin.“

„Halt“, sagte Jura scharf, „Du gehst mit Siegfried.“

„Zu Befehl“, quittierte Pjotr leicht ironisch. Es leuchtete ihm in der Tat ein, daß das Recht, Befehle zu erteilen, unter den gegenwärtigen Umständen bei Jura lag.

Sie setzten sich in dem überfüllten Minibus dicht nebeneinander. Pjotr trank Cognac wie Wasser, ohne daß er ihm zu Kopf stieg. Die jungen Burschen schrieen aufgeräumt durcheinander. Es herrschte eine fröhliche, leicht verrückte Stimmung. Auch Pjotr sagte einige Worte und dankte dem ganzen Kommando.

Jura war der einzige, der nicht trank. Er saß am Steuer.

Pjotr fand endlich eine freie Minute, um das Mobiltelefon aus der Tasche zu ziehen und folgendes lakonisches SMS abzusenden: „Wir haben unser Ziel erreicht.“ Die Antwort traf schon ein paar Minuten später ein:

„Jungens, wir sind überall bei euch, auf den Barrikaden, am Festtisch, im Bad, in der Kajüte, auf dem Standesamt. Ich liebe dich aus der Ferne. Wir treffen und begleiten euch und bleiben vielleicht bei euch. Bis bald.“

„Du bist ein Juwel, mein Schatz. Wann treffen wir uns endlich?“ lautete seine nächste Botschaft.

„Ich warte. Ich werde sexy sein, wie aus einer Sex-Show. Willst du das? Ich will dich streicheln, ich will dich lieben, ich will deine Geliebte sein. Allein kann ich nicht einschlafen. Ich will in deiner Liebe ertrinken.“

Sie tauschten ihre Liebesgrüße per SMS aus, weil Telefongespräche aus diesem Teil Moskaus oft nicht durchkamen, während die Kommunikation per SMS stets reibungslos klappte.

Kapitel 4. Das Gelage

Jura Bulajew lebte in St. Petersburg. Er war in seinem eigenen Minibus nach Moskau gefahren, um Pjotr bei der Wahlkampagne zu unterstützen. Der Minibus hatte früher der National-Republikanischen Partei gehört, deren Vorsitzender Jura eine Zeitlang gewesen war; Pjotr hatte als sein Stellvertreter geamtet.

Für Pjotr war es eine Selbstverständlichkeit, Jura die Anreise aus seinem spärlichen Budget zu bezahlen, damit die Fahrt nach Moskau letzteren kein Geld kostete. Dabei war es Jura darum gegangen, einem alten Freund zu helfen, und nicht darum, aus der Kampagne politisches Kapital zu schlagen.

Nun, wo der Wahlkampf zu Ende war, fuhren sie zu Pjotrs Haus außerhalb der Stadt, um sich ein wenig zu erholen und zu zerstreuen. Es war das einzige Haus, das Pjotr Petrowitsch von seinem früheren „Reichtum“ geblieben war. Wirklich reich war er freilich nie gewesen. Und dennoch...

Mit jungen Jahren hatte Pjotr den Titel eines Lizentiaten erworben. Nicht zuletzt dank seinem unermüdlichen Fleiß war ihm das Glück bei all seinen Unternehmungen hold. Nur mit den Frauen wollte es nicht klappen. Schuld daran waren wahrscheinlich vor allem seine fehlende seelische Feinfühligkeit und sein schroffer Charakter. Zwar verhielt er sich Frauen gegenüber stets ritterlich, doch war seine Ritterlichkeit vermutlich allzu exaltiert, oder im Gegenteil allzu trocken, allzu schablonenhaft, wie bei den preußischen Husaren.

Hier traf das Sprichwort „Nomen est omen“ auf ihn voll zu; schließlich lautete sein Familienname ja Tschugunow, und „tschugun“ bedeutet „Gußeisen“... Daß er sexuelle Erfahrungen gesammelt hatte, versteht sich von selbst, doch waren all seine Beziehungen eher zufälliger Art gewesen.

Mit fünfunddreißig war er Lizentiat der Wissenschaften, führender Mitarbeiter eines prestigeträchtigen wissenschaftlichen Forschungsinstituts und Besitzer einer zwar nicht gerade luxuriösen, aber durchaus anständigen Wohnung in Moskau – mit einem Wort, ein begehrenswerter Junggeselle. Dennoch dachte er nicht an Heirat, und er zweifelte immer weniger daran, daß er stets

Hagestolz bleiben würde.

Doch dann kreuzte sich sein Lebensweg gleichzeitig mit dem zweier Frauen, die beide Elena hießen. Eine Laune des Schicksals wollte es, daß beide dazu noch Kolleginnen waren, auch wenn die eine eben erst ihr Medizinstudium abgeschlossen hatte, während die andere bereits ein Jahr als Ärztin tätig war.

Die ältere war klüger und als Mensch interessanter; obgleich er das eine oder andere an ihr auszusetzen hatte, zog sie ihn wie ein Magnet an. Die jüngere war einfacher, gröber, sinnlicher und hatte in seinen Augen einen unleugbaren Vorteil: Sie war kinderlos, während die ältere eine Tochter aus ihrer ersten, unglücklichen Ehe hatte.

Die stereotypen Vorstellungen, die er infolge seiner Erziehung hegte, bewogen ihn dazu, die jüngere der beiden zur Frau zu nehmen. Hätte er allerdings ein Idealbild seiner Lebensgefährtin zeichnen können, so hätte diese zweifelsohne ganz anders ausgesehen und weder mit der älteren noch mit der jüngeren nennenswerte Ähnlichkeit aufgewiesen. Doch Elena Nummer zwei, wie er sie scherzhaft nannte, kettete ihn durch einen uralten Trick an sich: Sie wurde von ihm schwanger.

So heirateten sie denn. Sie gebar ihm einen Sohn und setzte sich, wie man neidlos anerkennen muß, mit Feuereifer dafür ein, daß das Leben der Familie harmonisch und erfolgreich verlief. Gleichzeitig half sie ihm nach Kräften bei der Fertigstellung seiner Doktorarbeit. Damals hatte die Perestroika bereits eingesetzt, und alles veränderte sich schwindelerregend rasch. Unversehens bot sich ihm die Möglichkeit, zum Chef einer neuen, großen Forschungs- und Produktionsvereinigung ernannt zu werden, oder vielmehr ein solches auf den Trümmern eines dahinsiechenden Instituts sowie einiger kurz vor der Schließung stehender Büros aus dem Boden zu stampfen.

Dieser Aufgabe packte er mit der ihm eigenen Energie an, begriff jedoch schon sehr bald, das man von ihm keinen wirklichen Neuaufbau erwartete, sondern lediglich ein paar kosmetische Retouchen an gewissen in voller Auflösung begriffenen Organisationen, wobei der Zweck der Übung darin bestand, auch weiterhin Gelder aus dem Staatsbudget einstreichen zu können.

Tschugunow beschloß, den Bettel zu schmeißen, und teilte seiner Gattin seinen Entscheid mit.

Eine solch stürmische Reaktion hatte er nicht erwartet! Ihr sonst so liebes Gesicht verzog sich zu einer wütenden Grimasse. Ihre Stupsnase, die ihm eben noch so sehr gefallen hatte, schien vor seinen Augen spitzer zu werden und noch stärker nach oben zu zeigen, so daß sie urplötzlich aussah wie ein dem Grab entstiegender Zombie. Ihre grünlichen Augen glichen unversehens der einer Katze.

„Du Idiot, du hoffnungsloser Narr“, heulte sie. „Wer zum Kuckuck interessiert sich schon für deine Ideen und deine wissenschaftlichen Erkenntnisse. Man bietet dir eine gute Stellung an, nicht damit du dich deiner blödsinnigen Wissenschaft widmest, sondern damit du Geld verdienen kannst. Wie lange sollen wir eigentlich noch in diesem Taubenschlag hausen? Und wie lange sollen wir noch herumlaufen wie die Landstreicher? Jetzt bietet sich dir eine Chance, und du hast eine Verantwortung gegenüber deiner Familie. Darum mußt du diese Chance nutzen.“

Es versteht sich, daß er ihr ihre Schmähungen mit gleicher Münze heimzahlte. Doch was soll ein gesunder neununddreißigjähriger Mann auch tun, wenn sich ihm eine fesche junge Frau mit einem so appetitlichen Hintern zu verweigern droht?

So gab er klein bei und nahm die Stelle an. Drei Jahre lang ließ er sich auf immer riskantere Affären ein. Seine Familie lebte inzwischen in einer luxuriösen Vierzimmerwohnung. Sie kauften sich ein Auto und später ein zweites.

Doch nun zogen seine Schwiegereltern bei ihnen ein, nachdem sie den Staub Taschkents, wo die Russen es zusehends schwieriger hatten, gerade noch rechtzeitig von den Füssen geschüttelt hatten. Seine Schwiegermutter war Verkäuferin, sein Schwiegervater Tankwart gewesen. Keine besonders hohen Positionen, aber im durch und durch korrupten Sowjetasien konnte man auch in solchen Stellungen ein erkleckliches Sümmchen nebenbei verdienen.

Die Verwandten kamen also nicht mit leeren Händen, und sie störten Tschugunow in seiner riesigen Wohnung nicht einmal besonders. Dennoch wurde ihm seine durch Spekulation reich gewordene Familie in einem Land, wo die Spekulation immer ärgere Sumpfblüten trieb, mit der Zeit unerträglich. Er ließ sich scheiden, kündigte seine gutbezahlte Stelle, verkaufte seine Vierzimmerwohnung, kaufte seiner Familie eine kleinere und sich selbst die Einzimmerwohnung, in der er jetzt lebte. Dann wandte er sich wieder der Wissenschaft zu und war fortan ein mittelloser russischer Gelehrter unter unzähligen.

Man muß ihm zugute halten, daß er all diese Schritte gerade noch rechtzeitig ergriffen hatte. Sein Stellvertreter in der Wirtschaftsabteilung des Instituts wanderte nach zwei Jahren hinter Gitter, und sein Nachfolger fiel einem Anschlag zum Opfer. Die Mörder hatten die Bolzen am linken Vorderrad seines Wagens angesägt; während der Fahrt löste sich das Rad, das Auto kam ins Schleudern und geriet auf die Gegenfahrbahn, mit den absehbaren Folgen. Somit hätte Tschugunow allen Grund gehabt, dem Schicksal dankbar zu sein, doch aus irgendwelchen Gründen hielt sich seine Dankbarkeit in Grenzen.

Seine elementare Empörung über die Verhältnisse im Lande sowie seine Abneigung gegenüber Asiaten und Kaukasiern (ja sogar gegenüber Russen aus dem Süden der ehemaligen Sowjetunion, dafür hatten seine Frau und deren Familie gesorgt!) bewogen ihn dazu, sich der Russischen Bewegung anzuschließen, wo er denselben Fanatismus an den Tag legte wie bei jeder beliebigen anderen Tätigkeit. Schon bald mauserte er sich zum recht bekannten Aktivisten und später zu einem der Führer dieser oppositionellen Strömung.

Im Jahre 1993 gehörte er zu den Verteidigern des Weißen Hauses und strich auch nach deren Niederlage keineswegs die Segel, obwohl die Opposition systematisch zerschlagen wurde und die Verbündeten des Kreml – die Schirinowski-Leute und die Roten aller Schattierungen – die wahren russischen Widerstandskämpfer von der politischen Arena verdrängten.

Gerade sein Fanatismus und seine Unbestechlichkeit gaben den Anstoß zu einer neuen Wende in seinem Leben. Man schlug ihm einen Job als politischer Analytiker bei der Nachrichtenagentur „Nowosti“ vor, wobei seine Aufgabe in der Analyse der Beziehungen zwischen Regierungsmacht und Opposition bestehen sollte.

Er nahm das Angebot an und zeigte sich auch seiner neuen Aufgabe voll und ganz gewachsen. Schon bald war er ein echter, professioneller Politanalytiker und wurde in die kommerzielle Abteilung bei der Agentur „ITAR-TASS’ aufgenommen.

Damals ließ er das Haus bauen, zu dem er nun mit Juri und Siegfried fuhr. Dieses war selbstverständlich nicht so luxuriös und groß, wie er es gerne gehabt hätte, jedoch durchaus akzeptabel und mit allen Bequemlichkeiten sowie einem russischen Schwitzbad versehen.

„Bringt diese Grübelei denn überhaupt etwas?“ fragte er sich, während er die sich hinter den Scheiben des Autos undeutlich abzeichnende verschneite Landschaft der Gegend um Moskau betrachtete. „Die eine war soviel wert wie die andere.“ Er dachte an seine ehemalige Frau und deren Rivalin. „Wie seltsam, beide hatten denselben Vornamen und denselben Vatersnamen. Die eine hat mir am Anfang nach Kräften geholfen und mich dann verraten. Und die andere...“ Natürlich, mit ihr wäre es interessanter gewesen. Früher hatte er sich oft in Gedanken an sie gewandt; sie war klug und ironisch gewesen. Es kam ihm so vor, als antworte nicht er selbst, sondern sie ihm bei den langen Unterredungen, die er im Geist mit ihr führte, auf seine Fragen.

Wahrscheinlich hätte er es mit ihr auch ruhiger gehabt. Doch wie wäre er mit ihrer Tochter ausgekommen, einer widerlichen, verhätschelten Göre, die sich für den Nabel der Welt hielt? Nun, vermutlich hätte er sich damit abgefunden, daß dieses ihm vollkommen fremde Geschöpf unter einem Dach mit ihm lebte. Doch eines schönen Tages wäre ihm der Geduldsfaden unweigerlich gerissen.

Er malte sich im Geist oft aus, wie es herausgekommen wäre, wenn sein Leben diese Wendung genommen hätte, und gelangte zum Schluß, daß er sich letzten Endes fast genau in derselben Situation befunden hätte wie jetzt. In mancher Hinsicht wäre es ihm besser, in anderer Hinsicht schlechter gegangen. Beispielsweise hätte er seiner Familie keine Wohnung gekauft, sondern ein Haus, und zwar ein größeres als dasjenige, das er heute besaß. Aber es wäre ebenfalls mit seinem Geld gebaut worden.

Ab einem gewissen Zeitpunkt hätte er sich dort nicht mehr als Herr gefühlt, so wie er sich in seiner ehemaligen Wohnung nicht mehr als Herr fühlte. Und auch in diesem Fall wäre er gegangen. Spielte es letzten Endes eine Rolle, wen man verließ, und wann? Spielte es eine Rolle, wer einen aus seiner Wohnung herausekelte, ein Luder von einer Frau oder ein Luder von einer Stieftochter? Die Hauptsache war, daß man einen Zufluchtsort hatte, und einen solchen hatte er in seiner realen Biographie sehr wohl. Den Göttern sei Dank!

Und jetzt war er frei. Und dazu noch verliebt. Zum ersten Mal in seinem Leben richtig verliebt.

„Was sind denn das für Frauen, Petrowitsch?“ unterbrach Jura das Schweigen.

„Klasseweiber!“ antwortete Tschugunow.

„Da übertreibst du wohl, Professor“, tadelte ihn Siegfried mild.

„Kein bißchen. Überhaupt sind es die russischen Frauen aus der Provinz wert, daß man über sie Sagen erzählt und Balladen dichtet. Schau, ich hatte Besuch von Ausländern, die sich vor Entzücken über unsere Frauen gar nicht zu fassen wußten. Es kam ihnen so vor, als befänden sie sich nicht auf der Strasse irgendeiner russischen Kleinstadt, sondern auf einem riesigen Podium, wo gerade ein Schönheitswettbewerb stattfand.“

„Und trotzdem wählt man zur Miss World meistens weiß der Teufel wen. Bald eine Asiatin, bald eine Lateinamerikanerin; einmal haben sie sogar eine Negerin aufs Siegerpodest erhoben.“

„Dann können die Ausländer, die bei mir waren, nicht in der Jury gesessen haben. Außerdem brauchen wir einander ja kein X für ein U vorzumachen: Bei solchen Wettbewerben müssen die Richter die Regeln der Politcorrectness befolgen. Notfalls wählen die auch ein Orang-Utan-Weibchen zur Miss World.“

Alle brachen in fröhliches Gelächter aus.

„Von wegen Mißwahl: Eine unserer Freundinnen von heute abend ist die Mutter eines Mädchens, das bei der Miss-Rußland-Wahl den dritten Rang belegt hat.“

„Ein Wunder, daß du nicht gleich noch ihre Großmutter eingeladen hast. Zuzutrauen wäre es dir gewesen“, grinste Jura.

„Deine Ironie ist fehl am Platz, Freundchen. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, wie man so schön sagt. Ich weiß nicht, wie du es hältst, aber allzu junge Titten mag ich nicht und habe sie auch in meiner Jugend nicht gemocht. Gewiß, die Frau muß jünger sein als ich, aber auf keinen Fall unter fünfundzwanzig bis siebenundzwanzig. Die noch jüngeren sind allesamt dumm und unerfahren, und viele von ihnen sind dazu noch richtige Luder.“

„Na schön, aber die Mutter der Miss Rußland ist doch bestimmt schon wesentlich älter als fünfundzwanzig bis siebenundzwanzig.“

„Sie ist knapp über vierzig, doch dem Gesicht nach gibt ihr niemand mehr als fünfunddreißig, und ihre Figur ist einfach atemberaubend. In ihrem Heimatort ist das übrigens nichts Außergewöhnliches. Ich war baß erstaunt, als ich erfuhr, daß in unserem Städtchen fast jede zweite Frau Shaping treibt. Nicht weniger als acht solche Klubs kenne ich persönlich, obwohl die Stadt nur 65.000 Einwohner hat. Könnt ihr euch so etwas in Moskau. St. Petersburg oder einer anderen Großstadt vorstellen? Und das bei dem schweren Leben in der russischen Provinz! Man könnte Dramen über das Schicksal jeder dieser Frauen schreiben, so viel haben sie alle mitmachen müssen... Nein, nicht alle“, verbesserte er sich, „aber doch sehr viele. Die meisten von ihnen tun etwas für ihren Körper und ihre Bildung. Sie treiben Sport, lesen gescheite Bücher, kleiden sich geschmackvoll, und dies bei den erbärmlich spärlichen Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen. Überhaupt...“

„Wie aus dem Ei gepellt und Geld wie Heu“, kicherte Siegfried.

„Schön wär’s! Jedenfalls habe ich nach einigen Jahren in Moskau das Gefühl, daß die Leute...“

„Beleidige die Menschen deiner Stadt nicht, du bist doch selbst gebürtiger Moskauer“, mahnte Jura.

„Ach, wir sind hier nicht bei einer Wahlveranstaltung und brauchen niemanden zu erzählen, wie toll wir sind. Übrigens sind die russischen Frauen tatsächlich die besten der Welt. Es ist einfach so, daß in Moskau immer weniger Russen leben, so daß sich das Antlitz der Bevölkerung allmählich wandelt. Doch hier ist dies Gott sei Dank noch nicht der Fall. Wenigstens vorläufig nicht“, ergänzte er und fuhr fort: „Einer meiner Bekannten war kürzlich in Paris. Er hatte gemeint, dort sähen alle Frauen so aus wie Brigitte Bardot, und was sah er dann? Eine Vogelscheuche nach der anderen!“

„Richtig, heute haben sie nicht einmal mehr vorzeigbare Schauspielerinnen. Seht euch doch nur ihre Fernsehserien an. Da schaltet man lieber gleich auf einen anderen Kanal um“, lautete Siegfrieds unerbittliches Urteil.

„Vielleicht idealisierst du sie zu sehr, Petrowitsch?“ wandte Jura ein.

„Die französischen Schauspielerinnen?“

„Nein, die Frauen des Städtchens, wo du jetzt wohnst. Weißt du, ich bin kreuz und quer durch Rußland gereist...“

„Das kann ich von mir nicht sagen...“

„Aber du bist eine schöpferische Natur und neigst zur Übertreibung. Du hast Moskau also den Rücken gekehrt, als du die Nase voll von dieser Stadt hattest. Hier ruhst du dich aus, und darum gibt es keinen Ort auf der Welt, wo du dich wohler fühlst. Für dich ist der Wodka hier besser und sind die Frauen hübscher als anderswo.“

Siegfried dachte plötzlich an seine Stiefmutter und einige Mädchen in seiner Kleinstadt, die damals gleich alt gewesen waren wir er. Mit deutscher Pedanterie doppelte er nach:

„Ja, Professor, meiner Ansicht nach übertreibst du.“

„Ich übertreibe überhaupt nicht, Kinder. Aber erinnert euch, was ich euch von dem ‚neuen russischen Nationalisten’ Givi erzählt habe. Er meinte, wenn man die Dinge mit ungetrübtem Blick betrachte, sehe man vieles klarer. Und damit hatte er recht. Ihr könnt euch demnächst selbst davon überzeugen.“

„Übrigens, sind wir noch nicht an der Straßenkreuzung vorbeigefahren?“ wollte Jura wissen.

„Nein, es sind noch rund zehn Kilometer bis dort. Aber du hast recht, es ist Zeit, unsere Freundinnen anzurufen.“

Er kramte das Handy aus der Tasche und wählte ihre Nummer.

„Spricht da meine Tigerin?“

„Sie sind falsch verbunden, mein Herr.“

Sie pflegte ihn bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu foppen, als sei sie ein kleines Mädchen. Ihm machte das Spaß.

„Na gut. Aber ich habe Ihre Telefonnummer in einer Anzeige gefunden. Ich spreche doch mit der Eskortagentur?“

„Pfui, was bist du doch für ein Flegel, Pjotr. Hältst du uns eigentlich für Nutten, die man mir nichts, dir nichts kaufen kann?“

„Um Himmels willen, nein. Ich wollte dir einfach deine Hänselei mit gleicher Münze heimzahlen.“

Sie lachte auf. „Das sieht dir ähnlich. Könntest du nicht wenigstens ab und zu so anständig sein, schlicht und einfach nachzugeben?“

„Kann ich nicht. Ich bin nach der heißen Schlacht immer noch ganz aufgeregt und habe keine Lust dem Gegner nachzugeben.“

„Na gut, mein Ritter.“ Wie immer in solchen Situationen wechselte sie abrupt den Ton. Wo befindet ihr euch jetzt, ihr Herren Politiker?“

„Wir sind jetzt keine Politiker mehr, sondern Liebhaber.“

„Und wen habt ihr lieb?“

„Tigerinnen aus dem Zoo. Kurz und gut, wir sind bei der Straßenkreuzung. In fünfunddreißig Minuten treffen wir uns beim 24-Stunden-Laden hinter dem Platz. Abgemacht?“

„Abgemacht.“

„Seid ihr dann alle dort, oder muß man noch jemanden abholen?“

„Wir sind alle dort. Wir können es nicht mit unserem Gewissen vereinbaren, euch müde Krieger noch durch die Stadt zu hetzen.“

„Du bist ja eine richtige Humanistin.“

„Noblesse oblige. Bis gleich.“

Sie war Kinderärztin und eine begnadete Meisterin ihres Fachs; dies bekräftigten alle, die sie kannten. Pjotr hatte sie anläßlich einer abendlichen Zusammenkunft bei einer Bekannten kennengelernt. Damals war sein Haus eben fertig geworden; er verbrachte bereits den größten Teil seiner Zeit in dieser Stadt und versuchte, sich in das hiesige gesellschaftliche Leben zu integrieren.

Ihre Gesichtszüge und ihre Manieren faszinierten Pjotr gleich bei ihrer ersten Begegnung. Ihre Haltung zeugte von Müdigkeit und Würde zugleich, von einer Art bitterem Stolz. Diese Mischung von Bitterkeit, Müdigkeit, Würde und Stolz war in Pjotrs Augen beinahe ein Symbol für den gegenwärtigen Zustand Rußlands.

Sie brach frühzeitig auf.

„Warum geht sie bloß schon so früh?“ fragte Pjotr die Gastgeberin.

„Sie geht zur Arbeit“, entgegnete diese; als sie Pjotrs Erstaunen sah, fügte sie hinzu: „Lena hat vier Arbeiten zugleich. Ihr ehemaliger Mann hat sie nach Strich und Faden betrogen und ist dann zu seiner jungen Liebhaberin gezogen. Lena blieb mit ihrem Sohn zurück und mußte die Schulden bezahlen, die ihr Mann bei irgendwelchen Galgenvögeln gemacht hatte.“

„Entschuldigen Sie meine Taktlosigkeit, aber wie hoch sind diese Schulden?“

„Achttausend Dollar.“

Pjotr zitterte innerlich. Achttausend Dollar! In diesem Provinznest war das ein Vermögen. Er empfand den spontanen Wunsch, ihr nachzufahren und seine Hilfe anzubieten. Er war drauf und dran, aufzustehen und zur Tür zu rennen, doch die Gastgeberin bemerkte seinen Zustand und hielt ihn zurück: „Sie hat kürzlich ihre ganzen Schulden abgestottert, muß aber vorderhand trotzdem noch arbeiten wie ein Pferd.“

Das zweite Mal traf er sie ein Jahr später in derselben Gesellschaft. Diesmal war Lena in munterer Stimmung, ja sie sprühte geradezu vor Fröhlichkeit. Von ihrer früheren Müdigkeit war keine Spur übriggeblieben. Sie war verhältnismäßig klein und von erstaunlich harmonischem Körperbau. Auch später, als ihre Beziehungen immer enger wurden, kam Tschugunow nie umhin, Erstaunen über ihre Figur zu empfinden. Besonders gefielen ihm ihre schmalen, wunderbar feinen, ideal geformten Füße mit dem hohen Spann, ihre kleine, tadellos runden Knie und ihre feinen Finger, die sowohl zärtlich als auch hart sein konnten.

Und erst ihre Schenkel und ihr Hintern! Genau die richtigen Masse. Und ihre wunderschönen Brüste!

So großartig dies alles war, es war doch nicht das Wichtigste. Ach, wie sie sich bewegte! Wie keine andere. Leicht, sicher und zugleich schwebend. Ihr entwaffnender Charme paßte wunderbar zu ihrer sportlichen Figur. Alles an ihr war straff und federnd, jedoch zugleich zärtlich.

Ja, man hat uns nie gelehrt, Schönheit richtig einzuschätzen. Schön sein ist nicht dasselbe wie fotogen sein, und wer fotogen ist, ist deswegen noch lange nicht schön. Eine wirklich schöne Frau offenbart sich in ihren Bewegungen – und in ihren Umarmungen.

An jenem Abend tanzten sie fast vier Stunden hintereinander. Tschugunow war in Hochstimmung. Er kümmerte sich rührend um Lena und überhäufte sie mit Zeichen seiner etwas schwerfälligen, ritterlichen Aufmerksamkeit. Sie bemerkte die Schwerfälligkeit nicht und war entzückt über sein husarenhaftes Rittertum.

Und sie bezauberte ihn mit ihrem wunderbaren Lächeln. Wenn sie lächelte, wurden die Runzeln sichtbar, die oberhalb ihrer Augen einen bis zu den Schläfen reichenden Halbkreis bildeten, ihr Gesicht jedoch keineswegs verdarben, sondern ihrem Lächeln einen Anflug von Listigkeit und Raffiniertheit verliehen. Ihr wahres Alter sah man ihr nicht an.

Ihr Lächeln erinnerte Pjotr an eine Märchenfigur aus seiner Kindheit, das fröhliche Tigerchen. Genau so hatte dieses Tier gelächelt, wobei es die scharfen Zähnchen in seinem breiten Rachen bleckte und mit der Stirn runzelte. Es war ein kleines Teufelchen, ein ausgelassener Wildfang.

Damals nannte er sie zum ersten Mal „Tigerchen“. Sie nahm keinen Anstoß daran und lachte herzhaft, blieb ihm aber die Antwort nicht schulden und betitelte ihn als „Röhre aus Gußeisen“, worauf er laut kicherte. Er liebte seinen Familiennamen nämlich heiß. Sein „gußeiserner“ Charakter, seine schwerfällige Hartnäckigkeit, sein Arbeitseifer, sein „preußischer“ Humor und sein grobes Husarentum – all dies versetzte ihn nicht in Verlegenheit, sondern erfüllte ihn ganz im Gegenteil mit Stolz.

Sie hielten beim 24-Stunden-Laden an. Dort wartete das Tigerchen mit seinen Freundinnen Zoja und Marina.

„Los Mädchen, nichts wie in den Bus gehüpft“, brüllte Pjotrs taktloserweise so laut, daß es die ganze Strasse hörte. Das Tigerchen tippte mit den Fingern an die Schläfe, lächelte dabei aber freudig. Pjotr half den Frauen ins Fahrzeug.

„Das ist Siegfried und das Jura“, stellte er seine beiden Freunde vor. „Und das sind Lena, Zoja und Marina.“

Zoja war die Mutter des Mädchens, das Miss Rußland geworden wäre. Nach Pjotrs Meinung war sie sogar noch schöner als ihre Tochter, jedenfalls sinnlicher. Sie war von mittlerer Größe, hatte lange Beine, eine schlanke Taille, eine straffe, runde Brust. Ihre gelben, sprühenden, schalkhaften Augen verliehen ihrem harmonischen Gesicht einen zusätzlichen Reiz und paßten perfekt zu ihrem ganzen Verhalten. Sie war schlagfertig und von rascher Auffassungsgabe, von bisweilen spitzer Zunge, überschritt dank ihrem sicheren Instinkt die Grenze des Zulässigen nie, wurde niemals grob und hütete sich davor, ins Vulgäre abzugleiten.

Marina war knapp über dreißig und somit die jüngste der ganzen Gesellschaft. Im Gegensatz zu ihren älteren Freundinnen war sie leicht rundlich. Ihre Rundlichkeit war jedoch sehr pikant. Ein gewisser spanischer Schriftsteller hätte gesagt, sie sei nicht dick, sondern üppig. Das ist etwas ganz anderes.

Ihre blauen, dunklen Augen harmonisierten mit ihrem Gesicht und verstärkten den Eindruck der Sinnlichkeit, den sie ausstrahlte.

„Sagt mal, ihr Jungens, brauchen wir nichts zu kaufen?“ fragte Lena.

„Du willst mich wohl beleidigen?“ antwortete Pjotr. „Es ist schon alles gekauft und verstaut.“

„Und das Bad?“

„Das Bad? Wie hätte ich es denn heizen können, wenn ich doch in Moskau war! Bin ich vielleicht ein Zauberer?“

„Ich wollte dir nur einen Denkzettel für die Eskortagentur verabreichen, du Rohr aus Gußeisen“, spottete Lena.

„Bist du aber nachtragend. Und trotzdem Humanistin.“

Die Frauen lachten laut auf.

Der Minibus fuhr langsam auf jene Strasse am Rand des Städtchens, wo Pjotrs Haus stand.

Für den Kauf eines sehr großen Hauses hatte Tschugunows Geld damals nicht ausgereicht. Immerhin war es mit allem versehen, was er für seine „Höhle“ – wie er sich ausdrückte – benötigte.

Nun saß die ganze Gesellschaft an einem schönen, langen Tisch im Gästezimmer des Erdgeschosses, das in grünlichen und goldenen Farben dekoriert war. Die zwar nicht atemberaubend luxuriöse, aber doch raffinierte und geschmackvolle Einrichtung stand in schroffem Gegensatz zur Welt außerhalb des Hauses. Nach der endlos langen, langsamen Fahrt auf den schneeverwehten, kaum befahrbaren Nebenstrassen am Stadtrand war es geradezu unwirklich, sich plötzlich in der Atmosphäre eines Adelsgutes wiederzufinden. Eines Adelsgutes in Miniaturformat zwar, aber die Größe ist nicht alles.

Diese alte Weisheit bestätigte jetzt die kleine Tigerin, die, nur noch mit Socken und Unterhöschen bekleidet, auf dem Tisch einen flotten Tanz hinfegte. Selbst professionelle Tänzerinnen und Stripperinnen hätten sie um ihre Masse beneiden können. Daß sie viermal wöchentlich den Shaping-Club besuchte, zahlte sich augenscheinlich aus.

Ihre Arme zeichneten imaginäre Figuren in die Luft, und ihr Hintern zog in schwindelerregendem Tempo eine völlig phantastische Bahn. „Nicht mit den Gesetzen der Aerodynamik zu erklären“, schoß es Pjotr, der einiges von Navigation verstand, durch den Kopf, obwohl er in seinem angetrunkenen Zustand selbst nicht so recht wußte, was das Ganze mit Aerodynamik zu tun hatte. Schließlich war der Hintern der Tigerin ja kein Flugapparat, auch wenn es sehr wohl den Eindruck machte, als fliege sie über den Tisch.

Neben ihr tanzte Zoja. Sie hatte kein Shaping nötig, gehörte sie doch zu der seltenen, wenn nicht gar aussterbenden Art von Menschen, denen die Natur ein Übermaß an Anmut und an Kraft verliehen hat. Sie verfügte über die natürliche Anmut eines wilden Tiers, das keiner Dressur bedarf.

Marina hatte sich ebenfalls schon weitgehend entblößt, doch tanzte sie nicht, sondern saß neben Siegfried auf dem Sofa. Winny Pooh starrte auf ihre üppigen Brüste wie die Katze auf einen Napf mit Schlagsahne.

„Urteilen Sie nicht zu streng über uns, Juri Alexandrowitsch.“

Marina fand offenbar Gefallen daran, in einer Atmosphäre offener Lüsternheit zum Ulk einen offiziellen Ton anzuschlagen. Dies war wirklich sehr originell. In leicht gekünstelter Pose zog sie an ihrer Zigarette.

„Unser Leben ist nicht gerade abwechslungsreich. Ab und zu möchte man gerne mal die Sau herauslassen. Doch das Städtchen ist klein, und man kommt gleich ins Gerede, wenn man über die Stränge schlägt.“

„Aber Marina“, stichelte der alte Spürhund, wobei er sich dem Ton seiner Gesprächspartnerin anpaßte. „Wir sind doch die Letzten, die euch deswegen Vorwürfe machen würden.“

Marina lachte trocken. „Man kann ja schweigen und sich trotzdem seinen Teil dabei denken... Lena und Zoja kann man allerdings nicht einmal formell etwas vorzuwerfen. Beide sind geschieden, und ihre Männer waren schlicht und einfach Schweinehunde. Lenas Mann war ein Bandit, der es nicht einmal in diesem Gewerbe auf einen grünen Zweig brachte, brachte, und Zojas Mann war sein Milchbruder, ein Scheißbulle... Oh, entschuldigen Sie bitte“, verbesserte sie sich sofort.“

„Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen“, lächelte Jura. Sein Lächeln war wirklich originell. Er erinnerte an eine Mischung zwischen Winny Pooh und einem menschenfressenden Tiger. Der Tiger blieb allerdings verborgen, denn Jura vermochte sich sehr gut zu kontrollieren. Doch jetzt schwanden ihre Hemmungen mehr und mehr, und der bereits leicht beschwipste Jura starrte mit unverhohlener Lüsternheit auf Marinas Brüste.

„Wissen Sie, ich bin schon lange kein Bulle mehr.“

„Einmal Geheimdienstmann, immer Geheimdienstmann; einmal Bulle, immer Bulle.“

„Sie scheinen ja eine ganze Menge von diesen Dingen zu verstehen, Marina.“

Sie sah ihn leicht herablassend an.

„Ich arbeite im Büro einer kleinen lokalen Firma. In der Provinz lassen sich Geschäft und Kriminalität nicht voneinander trennen, und die Banditen stecken mit den Bullen unter einer Decke.“

„Sie sprachen eben vom Geheimdienst. Was hat der mit der ganzen Sache zu tun?“

„Das habe ich aus politischen Thrillern. Schließlich bin ich von meiner Ausbildung her Literaturlehrerin.“

Jura lächelte immer noch freundlich, sah seine Gesprächspartnerin jedoch aufmerksam an. Ein geschulter Beobachter hätte seinen Ausdruck unschwer deuten können. Hätte sich Marina als Spitzelin vom Geheimdienst entpuppt, so hätte er sie nach allen Regeln der Kunst beseitigt, und ihre Leiche wäre nie gefunden worden.

Obwohl sie alle in höchst aufgeräumter Stimmung waren, enthielt seine Antwort eine versteckte Provokation:

„Stehen im Schulunterricht heutzutage etwa politische Thriller auf dem Stundenplan?“

Sie lachte und warf den Kopf leicht zurück.

„Nein. Aber im Gegensatz zur Mehrheit der übrigen Bevölkerung pflegen ehemalige Literaturlehrer immer noch regelmäßig zu einem Buch zu greifen.“

„Gehen wir nun endlich ins Bad, verdammt noch mal?“ fragte Zoja, die inzwischen vom Tisch herabgehüpft war, mit lauter Stimme.

„Sofort, sofort, meine Damen“, erwiderte Tschugunow, der sich gerade bemühte, die immer noch auf dem Tisch herumwirbelnde Lena aufzufangen. Diese hielt inne; Tschugunow faßte sie mit beiden Händen und drehte, mit ihr auf den Armen, eine Runde durch das Wohnzimmer.

‚Stell sie auf den Boden, Petrowitsch“, befahl Zoja laut, wobei ihre Augen schalkhaft glitzerten. „Du wirst noch reichlich Gelegenheit haben, deine Tigerin auf Händen zu tragen.“

Während sie sprach, hatte sich Siegfried heimlich an sie herangeschlichen. Unversehens packte er sie, hob sie in die Hände und fegte ebenfalls eine Runde über das Parkett. Zoja kreischte auf.

„Jungens, es ist höchste Zeit, unsere Knochen ein bißchen zu wärmen“, bemerkte Jura. „Wenn wir weiter essen, trinken und tanzen, sind wir morgen noch nicht im Schwitzbad, und ich habe wirklich Lust auf ein wenig Wärme.“

„Dann nichts wie los“. Tschugunow stellte seine Partnerin etwas brüsk auf den Boden und kassierte dafür einen Fausthieb auf den Rücken.

„Du gußeiserner Tölpel! Kannst du das nicht ein bißchen sanfter tun?“

„Wie bitte?“ Tschugunow sah sie echt verständnislos an.

„An dir ist wirklich Hopfen und Malz verloren“, konstatierte sie.

Alle waren „mehr als leicht“ bekleidet, doch Tschugunow besaß ein paar teils alte, teils noch halbneue Pelzmäntel und nicht weniger als sechs Paar Filzstiefel. Alle sechs warfen sich die Pelzmäntel über die nackten Körper und stieg barfuß in die Filzstiefel. In dieser Aufmachung schritten sie durch das Zauntor zum Bad, das am Rande eines Gemüsegartens unweit des Flusses stand. Im Sommer hätte man im Fluß baden können, doch bei der gegenwärtigen Kälte war dieser völlig zugefroren.

Im Bad fanden sie alles Nötige vor: Genügend Wasser, ja sogar eine kalte Dusche. Tschugunow machte kein Hehl daraus, daß er Wert auf Bequemlichkeit legte und diese nicht für ein Zeichen von Unmäßigkeit hielt. Vergoldete Bronze an einem Füllfederhalter war bereits Unmäßigkeit, eine ins Bad führende Wasserleitung hingegen eine pure Notwendigkeit.

Im Auskleideraum zogen sich die Männer unbekümmert splitternackt aus, während sich die Frauen in Tücher hüllten.

„Ihr Damen ziert euch wohl...“

„Kommt Zeit, kommt Rat“, konterte Zoja.

„Eben habt ihr noch im Negligé getanzt, und nun wickelt ihr euch in Tücher.“

„Wir können uns so dick einwickeln, wie wir wollen. Zähme deine Ungeduld, Petrowitsch“, spottete Zoja, wobei ihre Augen wieder einmal funkelten.

Plötzlich verstummten alle. Jura hatte sein Hemd abgestreift, und die Frauen erblickten die Narben an seinem Körper. Einem instinktiven Trieb gehorchend, trat Lena zu ihm und ließ ihre Finger über eine ungeheure Schramme an seiner Schulter gleiten.

„Wurde das Gelenk verletzt?“ fragte sie.

„Man hat es aus seinen Bestandteilen zusammengeschustert“, grinste Jura.

„Wo?“

„In Bosnien.“ Er grinste abermals. Die Wunde an der Schulter war die sichtbarste, aber bei weitem nicht die gefährlichste gewesen.

Lenas Finger strichen über seinen Bauch und berührten eine bedeutend weniger auffällige Schramme. „Und wo ist die Kugel ausgetreten?“

„Nirgends. Sie ist aus irgendwelchen Gründen nach unten abgedreht, dem Bauchfell entlang geglitten und im Beckenknochen steckengeblieben.“

Ihr Gesichtsausdruck verriet Gutherzigkeit, Mitgefühl und Anteilnahme. Ohne daß sie sich dessen gewahr wurde, hatte sich ihr Verhalten unversehens verändert. Angesichts solcher Wunden – mochten sie auch alt und verheilt sein – war sie plötzlich nur noch Ärztin und vergaß alles andere.

Bei ihrem Anblick krampfte sich Tschugunows Herz zusammen. Solche Frauen verdienten es, in kristallenen Schlössern zu leben; sie waren es wert, daß man sie auf Händen trug, daß sie sich jeden Tag ausschlafen konnten und beim Erwachen in ihrem Schlafzimmer täglich neue Blumen sahen.

„Und wo haben Sie sich diese Wunde geholt?“ fragte sie Jura.

„In meiner Heimatstadt St. Petersburg. Man wollte mich von einem bezahlten Killer über den Jordan befördern lassen.“

Er erinnerte sich nur sehr ungern an jenen Augenblick, als er hilflos auf dem Boden lag und der Mörder an ihn herantrat, ihm die Mündung der Maschinenpistole gegen den Kopf preßte und abdrückte. Doch krachte kein Schuß, denn das Magazin war leer. Den größten Teil der Kugeln hatte Juris Mitstreiter empfangen, die ihn abschirmten. Es war halb elf Uhr vormittags. Der Killer fand, er habe schon genug Lärm gemacht; so verzichtete er darauf, seine Maschinenpistole nachzuladen, und verschwand im nächsten Hof.

„Hat man den Mörder gefunden?“

„Gewiß; ich hatte mir sein Gesicht klar eingeprägt.“

„Und dann?“

„Dann hat man ihn wegen Mangels an Beweisen freigelassen. Er kam ungeschoren davon und hockt jetzt in Israel.“

„Und wofür kämpft ihr so verbissen, ihr Jungen, die ihr nie erwachsen geworden seid?“

„Für euch!“ donnerte Tschugunow jäh. „Für die weißen russischen Frauen, die besten der Welt. Damit ihr leben könnt wie die Königinnen und kein Strolch es wagt, euch als alte Weiber zu betiteln. Damit du, meine Tigerin, du begnadete Ärztin, mit deinen drei Arbeiten nicht lumpige dreihundert Dollar pro Monat verdienst, sondern dreitausend. Aber diese dreitausend Dollar zahlen diese Halunken im Kreml ihren Gorillas und nicht den Kinderärzten. Sie brauchen schließlich keine gesunden russischen Kinder und darum auch keine Kinderärzte. Doch die Gorillas, die ihre Macht über unser Land sichern, brauchen sie ganz, ganz dringend!“

Tschugunow bebte vor Grimm und Empörung, und der enge Auskleideraum schien von seinem Gebrüll zu vibrieren.

„Wir haben keine schlimmeren Feinde als die. Entweder findet das russische Volk die Kraft, dieses ganze Geschmeiß mit Stumpf und Stiel auszurotten, oder das Geschmeiß sorgt dafür, daß das russische Volk ausstirbt.“

Jura hörte dem Professor ruhig zu, während Siegfried, der seine Gefühle teilte, beifällig nickte. Marina sah Tschugunow etwas verwundert und skeptisch an. Sie wollte ihn mit einer ironischen Bemerkung unterbrechen, aber die Tigerin kam ihr zuvor.

„Was könnt ihr denn ausrichten?“ fragte sie mit ungeheuchelter Anteilnahme.

Jura grinste und sagte: „Wichtig ist nicht, was du kannst, sondern was du tust.“

„Mir gefällt der amerikanische Film Einer flog über das Kuckucksnest. Kennt ihr ihn?“ fragte Tschugunow.

„Ja“, antwortete Marina für alle, obwohl Zoja und vielleicht auch Lena den Streifen vermutlich nicht gesehen hatten. Sie verstanden trotzdem, worum es ging.

„Da kommt doch ein Indianer vor, der sagt: ‚Ich habe es immerhin versucht.’“

„Soweit ich mich erinnere, sagt er nichts dergleichen.“

„Dann hat es der andere gesagt, der Held des Films...“

„Gehen wir irgendwann vielleicht doch noch ins Schwitzbad?“ unterbrach Zoja die Diskussion. „Mit tut schon der Kopf weh von euren todernsten Diskussionen. Verdammt noch mal“

Im Schwitzraum betrug die Temperatur schon über hundert Grad. Pjotr begoß die Steine mit einem von ihm selbst zusammengebrauten Kräuterelixier, und sogleich roch es betörend nach Minze, Eukalyptus, Lavendel und Fichten. Er verwendete diese Aromen nicht gerne getrennt, sondern goß sie zugleich und in reichlichen Portionen aus. Andere hätten das beanstandet, aber Tschugunow war und blieb Tschugunow. Subtilitäten waren nicht seine Stärke.

Die Hitze des Schwitzbads sorgte dafür, daß sie sich im Nu entspannten, und ernsthafte Themen brachte nun niemand mehr zur Sprache. Die Frauen warfen schon bald ihre Tücher ab und saßen in ihrer ganzen unverhüllten Schönheit da. Wie gut tut doch der zauberhafte Dunst des russischen Bades der russischen Frau!

Sie alle wirkten unversehens um zwanzig Jahre verjüngt. Eine solche zarte, rosige Haut konnte nur einem ganz jungen Mädchen gehören!

Nachdem sie tüchtig geschwitzt hatten, hüpften sie alle in den Schnee. Tschugunow wälzte sich wie ein Bär durch die Schneehaufen, brummte dabei und eilte dann in den Schwitzraum zurück. Man hatte den Eindruck, er sei bereit, alles niederzuwalzen, was sich ihm in den Weg stellte.

Die Frauen benahmen sich etwas delikater, blieben aber nicht allzu weit hinter Pjotr zurück. Siegfried sah sie an und begann ein bekanntes russisches Lied zu paraphrasieren: Rosarote Mädchen tummeln sich im weißen Schnee...

„Dann ging es um… ich kann nicht mehr“, feixte Jura.

Nun nahm alles seinen vorbestimmten Lauf, und es vollzog sich das, was keiner der Beteiligten noch länger aufschieben wollte.

Tschugunows Zimmer nahm die ganze Mansarde des Hauses ein, den „Dachboden“, wie er das Gemach nannte. Im zweiten Stock befanden sich drei „Gästezimmer“ sowie eine Toilette und ein kleiner Waschraum, im Erdgeschoß das Gästezimmer, das Badezimmer sowie die Küche.

Die Mansarde war alles andere als ein „Dachboden“. Durch ihre Fenster bot sich ein wunderbarer Blick auf das Tal, das sich längs des Flusses dahinzog. Dieses Tal war jetzt ganz ins Mondenlicht getaucht und wirkte wie ein Märchenland mit dem schwarzen Forst am Horizont und der wie ein Gürtel glitzernden, verschneiten Flußniederung.

Durch eines der breiten Fenster drangen die Mondenstrahlen in das Zimmer und ließen Lenas Gesicht besonders schön und zärtlich erscheinen, obwohl es im Halbdunkel förmlich zu zerfließen schien. Daß ihr Gesicht nur undeutlich umrissen war und die weniger wichtigen Züge nicht zu erkennen waren, machte ihr breites, schalkhaftes, übermütiges Lächeln um so eindrücklicher, denn der Beobachter kam nicht in Versuchung, seinen Blick von ihren zarten Lippen und ihren tadellosen Zähnen abzuwenden.

Die Schalkhaftigkeit und der Übermut ihres Lächelns wurden durch das sanfte Halbdunkel abgeschwächt; nur ihre Augen stachen mit aller Klarheit hervor. Die weißen Teile erinnerten Tschugunow an Edelsteine, und die blauen Pupillen schienen dunkel und durchsichtig zugleich. So sah ein klares, ruhiges Meer oder ein See unmittelbar nach dem Sonnenuntergang aus, wenn das letzte Licht des scheidenden Tages noch durch das Wasser irrt und in dessen immer dunkler werdenden Fluten seinen blauen Schimmer hinterläßt.

Die stürmische Phase der Liebe lag hinter ihnen. Sie beugte sich über ihn und lächelte. Ihre zärtlichen Fingerchen zogen eine chaotische Bahn über seine breite Brust und seinen Bauch. Ihr liebevolles Geflüster wiegte Pjotr in den Schlaf.

„Du machst mich zum Luder, aber mir gefällt das, weil es meinem neuen Image entspricht.“

Was ihr gefiel, begriff Pjotr sehr wohl, und unter dem „neuen Image“ war ihre immer größere Zügellosigkeit in der Liebe zu verstehen. Nur eines verstand er nicht: Warum hatte kein einziger unter den Männern, die sie bisher gehabt hatte, erkannt, was für eine wundervolle Freundin die Tigerin sein und mit welcher Hingabe sie lieben konnte?

Für ihn war das allerdings nicht besonders wichtig. Wichtig war nur, daß sie jetzt und hier bei ihm war.

Sie sprach leidenschaftlich und unzusammenhängend weiter:

„In keiner einzigen Sprache gibt es Worte, die meine Gefühle ausdrücken könnten. Das ist etwas Größeres als die Liebe... Ich leibe dich. Danke. Ich habe dich, und alle beneiden mich... Mein lieber, mein honigsüßer Junge, du bist die stärkste Droge in meinem Leben.“

Unter dem Eindruck dieser Worte schlief Pjotr ein. Damit fand der fröhliche Abend, der eine monatelange harte Arbeit, oder genauer gesagt einen monatelangen Kampf abschloß, sein Ende.

Es gab viele Menschen, die ihn aufrichtig liebten, und es kümmerte ihn keinen Deut, was morgen mit ihm geschehen würde. Diese Einstellung mochte ja unlogisch und verantwortungslos sein und ganz und gar nicht zu seinem Charakter passen. Aber es war trotzdem so.

Kapitel 5. Orangenfarbener Himmel

Während sich Tschugunow und seine Mitstreiter in einer politischen Schlacht von rein lokaler Bedeutung bis zur Erschöpfung abrackerten und sich anschließend in der Tiefe der Wälder um Wladimir entspannten, vollzogen sich auf dem Territorium der ehemaligen UdSSR gewisse wesentlich bedeutsamere Entwicklungen.

Das zerfallene Imperium hatte so viele Sünden auf sein Gewissen geladen, daß nicht nur der Himmel, sondern auch die Hölle seiner Seele den Eintritt verwehrte. So irrte die Seele dieses im Zustand der Unbußfertigkeit verstorbenen Imperiums ruhelos durch die Gebiete, auf denen sein Leib früher geschaltet und gewaltet hatte, wie es ihm beliebte.

Was für Halunken sich doch in den Ländern der sogenannten GUS in den Korridoren der Macht tummelten! grübelte Tschugunow bisweilen. Man konnte sich nur wundern, daß die Politiker des Westens diese Strolche als gleichrangige Gesprächspartner anerkannten. Möglicherweise blieb dem Westen einfach keine andere Wahl. Doch vermochte sich Tschugunow keinen mittelalterlichen König vorzustellen, der sich, und sei es auch nur aus pragmatischen Erwägungen, mit solchen Wegelagerern gemein gemacht hätte. Es mochte freilich sein, daß Tschugunow in seiner Jugend allzu viele Romane von Walter Scott gelesen hatte und die Realitäten des Lebens zur Zeit der Ritter nicht ganz so heroisch gewesen waren, wie er sie sich vorstellte, doch so niederschmetternd wie heute konnten sie unmöglich gewesen sein.

Übrigens konnte man den Westen begreifen. Mit irgendwelchen Vertretern dieser heruntergewirtschafteten Länder mußte er sich ja an den Tisch setzen. So verhandelte er notgedrungen mit ehemaligen Partei-Apparatschiks, KGB-Leuten und manchmal sogar mit ganz gewöhnlichen Verbrechern. Doch mittlerweile unternahm der Westen immerhin gewisse Versuche, die widerwärtigsten Figuren, die östlich des früheren Eisernen Vorhangs an den Schalthebeln der Macht hockten, durch weniger kompromittierte zu ersetzen, sofern die Umstände dies zuließen.

Während Tschugunow und seine Genossen im 129. Wahlkreis agitierten, war ein solcher Regimewechsel in der Ukraine im Gang. Der Lauf der Dinge war dort praktisch vorgezeichnet, obwohl der Prozeß noch längst nicht abgeschlossen war, als sich Jura, Siegfried und Pjotr nach geschlagener politischer Schlacht in der Gesellschaft liebenswerter Damen eine wohlverdiente Erholungspause gönnten.

Der dem Leser der vorhergehenden Kapitel bereits bekannte „Ideengenerator“ aus der Kreml-Verwaltung legte dem russischen Präsidenten seine Gedanken zum Stand der Dinge in der Ukraine dar. Der Präsident war sichtlich gereizt. Er hatte sich eindeutig hinter einen Kandidaten aus dem Dunstkreis der bürokratischen Mafia gestellt, doch allem Anschein nach hatte sich dieser an den Urnen eine Abfuhr geholt.

„Wir müssen Jakubowitsch noch entschlossener unterstützen“, beharrte der „Ideengenerator“. Jakubowitsch war der Mann der bürokratischen Mafia in der Ukraine.

Daß sich der „Ideengenerator“ so nachdrücklich für Jakubowitsch einsetzte, hatte seinen guten Grund. Er sowie ein anderer „Intellektueller“ aus den Korridoren des Kremls hatten von diesem Präsidentschaftskandidaten nämlich je 50 Millionen Dollar erhalten, mit der Auflage, dafür zu sorgen, daß die russische Führung Jakubowitsch ihre vorbehaltlose Unterstützung gewährte. Für ein solch nettes Sümmchen legt sich selbst der ärgste Faulenzer ordentlich ins Zeug, und die beiden hatten getan, was sie nur konnten, um den russischen Präsidenten auf den gewünschten Kurs zu bringen. Doch nun wurde letzterem immer klarer, daß er auf das falsche Pferd gesetzt hatte, und er begann zu ahnen, daß man ihn diesmal schlicht und einfach hinters Licht geführt hatte. Im übrigen darf man die Bedeutung „tückischer Ratgeber“ nicht übertreiben, denn betrogen wird meist nur, wer betrogen werden will. Aber der russische Präsident, der zwar den Direktor eines städtischen Marktes, aber keinen einzigen Doktor der Wissenschaften in sein Kabinett aufgenommen hatte, stand Jakubowitsch und seiner Mannschaft „sozial nahe“, wie man früher zu sagen pflegte.

Der Präsident war zutiefst verstimmt. „Was heißt ‚noch entschlossener unterstützen’?“ fragte er irritiert.

„Wir verfügen über Reserven zur Stärkung unserer Position; ich kann Ihnen eine ganze Reihe von Vorschlägen unterbreiten.“ Der „Ideengenerator“ legte einige Blätter auf den Tisch. „Sehen Sie sich das mal an...“

Die Bibliothek des exklusiven Klubs in London war mit dunklen Möbeln aus Eichenholz ausgestattet und wirkte durch und durch antiquarisch. Die Einrichtung mochte ja stilisiert und längst nicht so alt sein, wie sie aussah, hatte aber jedenfalls eine Menge Geld gekostet. Die grünen Überzüge der Stühle und Polster, die schweren, dunkelgrünen Bilder sowie die bronzenen Kerzenständer paßten perfekt zu dem dunklen Eichenholz.

Die beiden Männer, die an dem kleinen Schreibtisch saßen, wiesen eine vage, aber unübersehbare Ähnlichkeit miteinander auf. Beide verkörperten jenen Typ reifer, energischer Männer ohne Alter, die ihre ungesunde, aufreibende Arbeit sowie die Perioden stürmischer, doch nicht minder ungesunder Entspannung im Fitness-Center, im Schwimmbad, in der Sauna, durch Massagen und durch Vitaminkuren zu kompensieren pflegen.

Einer der beiden erweckte den Eindruck, als sei er etwas älter als sein Gesprächspartner oder stehe zumindest in irgendeiner Hierarchie rangmäßig über ihm. „Wie beurteilen Sie die letzten Schritte des russischen Präsidenten hinsichtlich der Entwicklung in der Ukraine?“ fragte er.

„Mir scheint, er hat mit seinem Verhalten seine Unfähigkeit und, wie ich sagen würde, seine Unzuverlässigkeit unter Beweis gestellt.“

„War er denn je zuverlässig?“

„Alles ist relativ...“

„Sie sind ja ein zweiter Einstein!“

„Wenn das ein Kompliment sein soll, dann...“

„... ist es ein fragwürdiges. Das wollten Sie doch sagen, oder?“

„Aber ich bitte Sie! Wie kann man denn ernstlich an der Genialität des gewaltigsten Menschen des vergangenen Jahrhunderts zweifeln!“

„Lassen Sie doch die Faxen, Henry. Sie brauchen sich hier bei keinem Publikum anzubiedern.“

Der Mann, der Henry hieß, lächelte säuerlich.

„Kehren wir zu unserem Thema zurück, Sir.“

„Einverstanden. Wissen Sie, diese Emporkömmlinge aus dem Parteiapparat und den Geheimdiensten des früheren Ostblocks sind mir stets unzuverlässig vorgekommen.“

Nach einer kurzen Pause fuhr er fort:

„Natürlich sind sie alle korrupt bis ins Mark und, zurückhaltend ausgedrückt, Kompromissen nicht abgeneigt.“

„Besonders diejenigen, deren Tätigkeit man nur mit Begriffen aus dem Strafrecht charakterisieren kann“, hakte Henry ein.

„Und auf welchen Mann aus diesen Kreisen träfe diese Definition nicht zu?“

„Da haben Sie recht, Sir.“

„Kompromißbereitschaft und Manipulierbarkeit sind keine Synonyme für Zuverlässigkeit, mein lieber Henry. Ihre offensichtliche Abhängigkeit von uns hindert diese Leute nicht daran, gelegentlich störrisch zu werden, und dieser permanente Zwiespalt treibt die meisten von ihnen früher oder später zu unberechenbaren Handlungen. Unberechenbarkeit ist oft gefährlicher als offene Unbotmäßigkeit.“

„Nicht nur oft, sondern immer.“

„Einverstanden.“

„Aber wen soll man denn in diesen Ländern an ihre Stelle setzen, Sir? Könnten Idealisten nicht noch gefährlicher werden als die nervenschwachen Feiglinge, die wir an unseren Fäden tanzen lassen?“

„Ich will nicht verhehlen, daß dieses Problem tatsächlich existiert, aber gegenwärtig sind Idealisten für uns tatsächlich die bessere Alternative.“

„Ich würde es anders formulieren: Nicht Idealisten, sondern Pragmatiker, die sich als solche ausgeben.“

„Solche Leute sind dünn gesät. Entweder zeigen sie schon sehr bald ihr wahres, ganz und gar nicht idealistisches Gesicht, oder aber sie sind tatsächlich mehr Idealisten als Pragmatiker.“

„Dann sind Idealisten Ihrer Ansicht nach also tatsächlich vorzuziehen? Und besteht nicht die Gefahr, daß sie sich letzten Endes als genau so unzuverlässig entpuppen wie die Halsabschneider, die heute am Ruder sind?“

„Wohl kaum. Gerade Idealisten sind ziemlich berechenbar. Gewiß, leicht hat man es mit diesen Leuten nicht, da muß ich Ihnen recht geben. Doch wenn der Übergang von den Politkriminellen zu den Idealisten noch mit einem

Machtverlust der betreffenden Länder Hand in Hand geht, sind letztere für uns eindeutig das kleinere Übel.“

„Glauben Sie nicht, daß ein solcher Machtverlust lediglich temporärer Art ist? Heute mögen diese Länder schwächer werden, doch schon morgen können sie wieder erstarken. Idealisten verstehen manchmal eine ganze Menge von Politik, Wissenschaft, Technik und Wirtschaft, während ein Regime von Politkriminellen bei all seiner demonstrativen Militarisierung in jeder Hinsicht ineffizient ist und aus diesem Grund auch keinen Machtzuwachs verzeichnen kann.“

„An dem, was Sie sagen, ist viel Wahres. Doch betrachten wir das Problem einmal von einem anderen Standpunkt aus. Können wir diese Herrschaften in ihren Ländern auf Dauer an der Macht halten? Meiner Ansicht nach lautet die Antwort nein. Hinter den Galgenvögeln, die heute das Zepter schwingen, stehen Vertreter ein und desselben Menschenschlages. Diese Leute sind noch viel hysterischer und unberechenbarer als die gegenwärtigen Machthaber und zugleich weit weniger von uns abhängig. Die Wahrscheinlichkeit, daß die heutigen, ‚nicht allzu schlechten’ Führer durch bedeutend unappetitlichere Gestalten von der Macht verdrängt werden, wächst von Tag zu Tag.“

„Gilt der Grundsatz ‚Er ist zwar ein Hundesohn, aber unser Hundesohn’ denn plötzlich nicht mehr?“

„Das Problem besteht darin, daß die heute regierenden ‚nicht allzu schlechten Kerle’ durchaus nicht unsere Leute sind und daß die weitaus anrüchigeren Typen, die in den Startlöchern lauern, es noch viel weniger sein werden. Diese Leute sind eine raffinierte Verkörperung eines abstrakten Bösen, nicht nur für die Außenwelt, sondern auch für ihr eigenes Volk.“

„Brauchen wir uns deswegen schlaflose Nächte zu machen?“

„Im Prinzip nein, aber es lohnt sich, darauf hinzuweisen. Dies gilt ganz besonders für unsere Beziehungen zu den verschiedenen politischen Kräften in den Ländern des postsowjetischen Raums. Die Frage lautet also, durch wen wir die heutigen, ‚nicht allzu schlechten’ Kerle, die dort an den Schalthebeln der Macht sitzen, ersetzen wollen. Die einzigen möglichen Kandidaten sind Idealisten, zumal diese zumindest mittelfristig für uns in jeder Hinsicht akzeptabler sind.“

„Nicht mittelfristig, sondern allenfalls kurzfristig, Sir.“

„Betreiben wir doch keine Wortklauberei, Henry. Sie haben ja erst vor ein paar Minuten selbst gesagt, daß alles relativ ist. Unsere Aufgabe ist es, unter den Idealisten jene herauszufinden und zu rekrutieren, die für uns am annehmbarsten sind – Leute nämlich, die selbst, mit eigenen Händen und zwecks Verwirklichung ihrer eigenen Ideale, das tun, was wir anstreben, aber selbst nicht verwirklichen können.“

„In anderen Worten: Der Himmel muß sich über ganz Rußland orangenrot färben?“

Henry spielte auf die „orangenfarbene Revolution“ in Kiew sowie das Signal „Über ganz Spanien wolkenloser Himmel“ an, das bekanntlich den Auftakt zur Meuterei General Francos bildete.

„Sie sind ein Scherzkeks, Henry, aber Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen.“

„Freilich fürchte ich, daß es für uns schwierig sein wird, in Rußland Idealisten zu finden. Es wird uns nichts anderes übrig bleiben, als uns auf die Liberalen zu stützen, die man nur schwerlich als Idealisten bezeichnen kann.“

„Zumindest in der ersten Phase werden wir in der Tat kaum ohne die Liberalen auskommen. Trotzdem lohnt es sich, in marginalen politischen Kreisen nach echten Idealisten Ausschau zu halten.“

„Und dann?“

„Und dann werden wir ihnen helfen, die heute regierenden Politkriminellen in die Wüste zu schicken.“

„Aber werden diese Idealisten unsere Hilfe überhaupt annehmen?“

„Wir müssen eben solche finden, die sie annehmen werden, ohne dadurch in Widerspruch zu ihren Idealen zu geraten.“

„Das wird schwierig sein.“

„Einverstanden, aber schwierig heißt nicht unmöglich.“

„Sehen Sie, Sir, alles in allem bin ich mit Ihnen einverstanden. Meiner Ansicht nach besteht freilich ein gewisses Risiko. Das Ganze könnte nur allzu leicht aus den Fugen geraten.“

„Ich will nicht verhehlen, daß ich diese Befürchtung teile. Doch die Dinge so zu belassen, wie sie sind, ist völlig unannehmbar. Stimmen Sie mir zu?“

„Ja, aber werden Ihnen auch unsere Kollegen jenseits des großen Teiches zustimmen?“

„Ich glaube schon.

Kapitel 6. Niederlagen und Siege

Sie erwachten alle fast zur gleichen Zeit, und zwar recht spät, gegen elf Uhr. Die stürmische Nacht, nach der es sich so süß schlief, hatte ihren Tribut gefordert. Obwohl sie längst nicht mehr im zarten Jugendalter standen, blickten Lena und Marina ein wenig verlegen drein, aber das machte sie nur noch süßer. Keine Spur von Verlegenheit ließ hingegen die schalkhafte Soja erkennen.

Pjotr bereitete in aller Eile ein leichtes Frühstück zu. „Wer will Kaffee, wer Tee?“ fragte er seine Gäste, die sich bereits zu Tisch gesetzt hatten. Sie entschieden sich für Kaffee, während er sich selbst einen kräftigen Tee braute.

So saßen sie bei Tisch, tranken Kaffee oder Tee und plauderten lässig. Schon bald gerieten sie kräftig in Fahrt und lebten auf. Ungeachtet seines trügerischen Aussehens, das an einen schläfrigen Bären gemahnte, war Jura als erster wieder voll und ganz munter.

„Petrowitsch, sollten wir uns nicht kundig machen, wie wir bei den Wahlen abgeschnitten haben?“

„Ist denn bereits mit dem Vorliegen der Ergebnisse zu rechnen?“ fragte Tschugunow naiv und in immer noch schläfrigem Ton.

Jura lachte. „Heute ist Montag.“

„Glückliche Menschen kümmern sich nicht um solche Dinge wie Datum und Uhrzeit“, stichelte Soja.

Tschugunow schüttelte den Kopf und schritt zum Telefon.

„Petrowitsch, erwache doch endlich! Rufe lieber Wasilij von Handy zu Handy an.“

Wasilij Wasiljewitsch, ein Vertrauter Tschugunows, meldete sich sofort.

„Wie sind die Resultate?“ wollte Pjotr wissen.

„Wir haben genau 642 Stimmen bekommen und sind auf dem vorletzten Rang gelandet.“

„Verflixt und zugenäht!“ fluchte Tschugunow. Er hatte ja nicht mit dem Sieg gerechnet, aber dieses Ergebnis war eine Blamage sondergleichen. Die Nachricht hatte ihn mit einem Schlag wachgerüttelt. Alle blickten ihn erwartungsvoll an.

„Es ist höchste Zeit für den Frühschoppen“, brummte er. „Siegfried, gieß uns ein.“

Während Siegfried die Gläser füllte, wandte sich Jura abermals an Pjotr. „Nun, wie sieht es aus?“

„Himmeltraurig. Wir haben nur etwas über sechshundert Stimmen bekommen. Ein richtiges Fiasko.“

„Sechshundert Stimmen von wie vielen?“ fragte Soja spöttisch.

„Wer zuviel weiß, wird früh alt“, erwiderte Pjotr bissig. Das Ganze war ihm ausgesprochen peinlich. In diesem Moment läutete das Handy.

„Mein Glückwunsch!“ ertönte die Stimme eines seiner Sponsoren, eines stets außerordentlich gut informierten, hochintelligenten Mannes.

„Wozu?“ fragte Pjotr.

„Zu deinem großartigen Erfolg.“

Der Sponsor war – zumindest gegenüber Tschugunow – ein umgänglicher und wohlwollender Mensch, und faule Witze entsprachen nicht seinem Stil.

„Vitali, ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst. Worum geht es denn?“

„Du bist Dritter geworden. Den ersten Rang belegt der Jabloko-Mann, den zweiten der Vertreter von ‚Gegen alle’, den dritten du. Fast ebenso bemerkenswert ist aber, daß ihr alle recht nahe beieinander liegt. Der von Jabloko hat knapp 21.000 Stimmen eingeheimst, der von „Gegen alle“ 19.000 und du 18.500.“

„Aber...“

„Elektronische Stimmenzählung. Geht dir nun endlich ein Licht auf?“

„Hochinteressant. Und wie lauten die offiziellen Resultate?“

„Der Mann von ‚Einiges Rußland’ hat offiziell gewonnen, obgleich er in Wirklichkeit nur Vierter geworden ist. Auf dem zweiten Rang liegt dieser Oberst, von dem wir herausgefunden haben, daß er ausgerechnet in jener Abteilung gearbeitet hat, wo die Stimmen ‚ausgezählt’ werden. Die Stimmbeteiligung war genügend hoch und die Wahl somit gültig, doch von oben kam der Befehl, dem Hampelmann des Bürgermeisters von Moskau einen Sitz im Parlament zu verweigern. Darum hat man ihm zwar den ersten Rang zugeschanzt, aber die Wahlbeteiligung so heruntergeschraubt, daß die Wahlen ungültig sind.“

„Und was bedeutet das für uns?“

„Darüber unterhalten wir uns später. Ruf zunächst einmal diesen Jabloko-Vogel an, falls du seine Nummer hast, und richte ihm aus, für eine angemessene Summe könne er eine Kopie des Ausdrucks mit den tatsächlichen Wahlergebnissen kaufen.“

Tschugunow konnte sich eine bissige Replik nicht verkneifen:

„Der König war so arm, daß er, um seinen Hofstaat aufrechterhalten zu können, dem potentiellen Feind die Mobilisierungspläne seines eigenen Generalstabs verkaufen mußte.“

Der Sponsor lachte herzhaft. „Ja, ungefähr so ist es.“

Die am Tisch Sitzenden lauschten dem Gespräch gebannt. „Ändert sich das Bild?“ fragte Jura.

„Wie du siehst“, entgegnete Pjotr kurz und wählte die Nummer seines demokratischen Konkurrenten.

Zu den Merkwürdigkeiten dieser Wahlkampagne hatte gehört, daß es Pjotr gelungen war, geradezu herzliche Beziehungen zu all seinen Konkurrenten herzustellen. Sogar die üblicherweise hysterischen und aggressiven Schirinowski-Leute begegneten ihm mit aufrichtigem Wohlwollen. Ein noch wärmeres Verhältnis entwickelte er zu dem klugen und höflichen Kandidaten der Jabloko-Bewegung. Den Grund dafür vermochte Pjotr selbst nicht zu begreifen, da er sich selbst stets für schwerfällig im Umgang mit anderen Menschen gehalten hatte. Wahrscheinlich hatte er dies seiner Ehrlichkeit sowie dem völligen Fehlen von Grobheit – auch auf der Ebene des politischen Kampfes – zu verdanken.

„Da haben Sie einen waschechten Idealisten vor sich, Henry“, hätte das hohe Tier aus dem exklusiven Londoner Klub wohl zu seinem Gesprächspartner gesagt, wenn er Tschugunow und dessen Aktivitäten gekannt hätte.

Aus welchen Gründen auch immer hatte der Jabloko-Kandidat Pjotr die Nummer seines Mobiltelefons gegeben, was letzterem jetzt zustatten kam. „Viktor Sergejewitsch?“ fragte er.

„Am Apparat.“

„Hier spricht Tschugunow.“

„Guten Morgen, Pjotr Petrowitsch.“

„Was sagen Sie zu den Ergebnissen?“

„Meiner Ansicht nach sind sie gefälscht.“

„Sie irren sich nicht. Ich kenne die echten Resultate. Sie haben gewonnen, und die Wahl ist gültig.“

Pjotr berichtete dem Jabloko-Mann alles, was er wußte.

„Das ist ja eine Bombe. Was Sie sagen, wirkt völlig plausibel. Aber können Sie Beweise auf den Tisch legen?“

„Ja, aber das wird Geld kosten, und zwar einen ganzen Haufen.“

„Ich bin nicht in der Lage, Ihnen sofort zu antworten.“

„Viktor Sergejewitsch“, beschwor Pjotr seinen Gesprächspartner in geradezu flehentlichem Ton, „man muss das Eisen schmieden, so lange es heiß ist! Ihnen bietet sich jetzt eine einmalige Chance, diesen Strolchen einen Schlag zu versetzen, von dem sie sich nicht so leicht erholen werden. Mir ist diese Möglichkeit verwehrt, und habe auch gar kein persönliches Interesse daran, denn ich kämpfe für eine Idee. Ihrer Partei verfügt über alle Voraussetzungen, um diesen Skandal auffliegen zu lassen, und sie hat ein handgreifliches Interesse daran, denn immerhin haben Sie ja gewonnen.“

„Ich verstehe Sie sehr gut, Pjotr Petrowitsch, aber...“

„Kurz und gut: Können Sie mir so bald wie möglich eine grundsätzliche Antwort erteilen? Über die Summe und die Einzelheiten reden wir dann später. Ich muß aber wissen, ob Sie gewillt sind, den Kampf aufzunehmen. Ja oder nein?“

„Rufen Sie später zurück.“

„Ich rufe Sie in einer halben Stunde wieder an. Keine Antwort bedeutet nein. Entschuldigen Sie meine Hast, aber auch mein Idealismus hat gewisse Grenzen. Der Entscheid liegt allein bei Ihnen.“

„Ich werde mich bemühen, Ihnen zu antworten.“

„Na gut.“

Jura blickte Tschugunow erwartungsvoll an.

„Hast du begriffen, wie der Hase läuft?“ fragte Pjotr.

„Alles in allem sehr gut. Interessant, nicht wahr?“

„Mehr als interessant. Zum allerersten Mal liegen uns handgreifliche Beweise für einen massiven, unverschämten Wahlbetrug vor. Fortan wird es in Rußland überhaupt keine Wahlen mehr geben. Die da oben machen so oder so, was sie wollen, ganz egal wie das Volk wählt. Das heißt, daß die Politik bei uns am Ende ist.“

„Und was bleibt dann noch übrig?“

„Wer leben will, wer fröhlich ist, wer kein Waschlappen ist, der rüste sich zum Handgemenge.“ Tschugunow sang diese bekannten Zeilen von Wyssozki mit dröhnender Stimme, aber leider völlig falsch.

„Und was wird aus denen, die keine Lust haben, sich an diesem Handgemenge zu beteiligen?“ fragte Marina, die zuletzt geschwiegen hatte.

„Die Ratten verlassen den sinkenden Kahn, machen Platz dem zum Streite bereiten Mann“, grölte Pjotr die Fortsetzung des Liedes.

„Kinder, ihr seid ja Extremisten, wie sie im Buche stehen.“

„Im Kampf für eure Zukunft, liebe Damen, sind wir tatsächlich Extremisten, aber nur dort. Auf die anwesenden Damen!“

Er sprang auf und leerte stehend ein großes Glas Honigschnaps, der aus fünfzigprozentigem Alkohol, Honig und allerlei Kräutern bestand.

„Und trotzdem, Jungens...“

„Nachher, Marina, nachher.“

Er griff abermals zum Handy. „Viktor Sergejewitsch?“

„Ja, Pjotr Petrowitsch. Leider können wir Ihr Angebot nicht annehmen.“

„Schade. Alles Gute.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, legte er auf und wählte die Nummer seines Sponsors.

„Sie haben nein gesagt.“

„Das war auch zu erwarten.“

„Und was nun?“

„Vergnügt euch weiter“, kicherte Vitali vergnügt. „Übrigens, grüß mir Jura.“

„Tu ich. Trotz allem – was hat uns dieses ganze Wahltheater eigentlich gebracht?“

„Sehr viel. Eine ganze Menge von Leuten kennen die tatsächlichen Resultate...“

„Der König war nicht nur arm, sondern geradezu bettelarm. Darum verkaufte er die Mobilisierungspläne seines Generalstabs nicht nur an einen Gegner, sondern...“

„Sondern an ungefähr hundert. Aber diese...“

„Schweigen alle wie das Grab. Das wolltest du doch sagen, du Witzbold“? brüllte ein sichtlich nicht mehr ganz nüchterner Tschugunow in den Hörer.

Vitali brach in wieherndes Gelächter aus.

„Alles in allem können wir mit unseren Ergebnissen mehr als zufrieden sein. Bei einem Vergleich zwischen Aufwand und Leistung hast du von allen Kandidaten weitaus am besten abgeschnitten. Darum kannst du auch weiterhin auf finanzielle Unterstützung für deine literarischen Werke rechnen.“ (Er sprach das Wort „literarischen“ absichtlich langsam und gedehnt aus.)

„Ich diene dem Weißen Haus, dem Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Koreas und Al Khaida zugleich!“ heulte Pjotr, der bereits das nächste Glas in der Hand hielt.

„Abtreten! Weitermachen mit der Zecherei!“ lachte Vitali, als sehe er die Szene vor seinen geistigen Augen.

„Zu Befehl!“ quittierte Juri und stieß das leere Glas mit der Linken um.

Kapitel 7. Hochfliegende Pläne

„Ihr zeichnet euch ja nicht gerade durch Prinzipienfestigkeit aus, ihr Streiter für hehre Ideale“, bemerkte Marina.

„Bitte geruhen Sie diese Ihre Behauptung zu begründen, Madame“, sagte der angetrunkene Pjotr mit gestelzter Liebenswürdigkeit.

„Was gibt es denn da noch zu begründen? Du hast ja selbst gesagt, daß ihr bereit seid, euch dem erstbesten in die Arme zu werfen, vom Weißen Haus bis hin zu Al Khaida, sofern...“

„Bitte fahren Sie fort, Madame.“

„Ich finde nicht die richtige Formulierung.“

„So so. Die richtige Formulierung würde Ihrer Ansicht nach wohl lauten: ‚Sofern wir unseren Kampf fortsetzen und gewinnen können.’ Aber wir kämpfen nicht für uns selbst. Es geht uns nicht um einen Platz am Futtertrog oder einen Mercedes oder einen Urlaub auf den Kanarischen Inseln. Wir kämpfen für das Überleben und Wohlergehen des russischen Volkes.“

„Und des russischen Staates?“

„Frau Lehrerin, am besten vergessen Sie alles, was man Ihnen

im Seminar über das große russische Reich eingetrichtert hat. Der russische Staat ist der Todfeind des russischen Volkes. Den Staat verteidigen wollen die Patrioten, aber wir...“

„... sind keine Patrioten, sondern Nationalisten“, fiel ihm Jura bedeutungsvoll ins Wort.

„Und um das Volk gegen den Staat zu verteidigen, nehmen wir Nationalisten Hilfe von jeder beliebigen Seite entgegen. Wenn es sein muß, verkaufen wir unsere Seele dem Teufel. Im übrigen ist das Leitmotiv der russischen Geschichte nicht etwa die Verteidigung des Staates durch das Volk, sondern im Gegenteil der Kampf des Volkes gegen diesen Staat. Weißt du beispielsweise, daß die Heere Peters des Grossen im Nordischen Krieg nach der Eroberung des Baltikums mehr als zehn Jahre lang einen Partisanenkrieg gegen Russen ausfechten mußten, die in jenen Gebieten ansässig und Untertanen des schwedischen Königs waren? Diese russischen Partisanen, Nachfahren der Nowgoroder, haben Scheremetjewos Armeen weit größere Verluste beigebracht als die regulären schwedischen Truppen, wie Zar Peter von Scheremetjewo selbst erfuhr. In den Archiven liegen Dokumente, die das erhärten. Und nachdem die Russen das Baltikum unter ihre Kontrolle gebracht hatte, rettete sich nach Schweden, wer nur konnte.“

„Interessant“, bemerkte Marina. „Woher weißt du das alles bloß?“

„Kann eine Literaturlehrerin wirklich nicht erraten, woher ich das weiß? Aus Büchern natürlich.“

„Ja, Marina, die Jungens haben gar nicht so unrecht“, mischte sich Lena ins Gespräch. „Wie lange sollen wir uns eigentlich noch piesacken lassen? Noch vor dreieinhalb Jahren konnte man in diesem Städtchen mit dreieinhalbtausend Rubeln monatlich durchkommen, aber heute reichen selbst zehntausend nicht aus. Und die Medizin... Die Fritzen von den Krankenkassen sahnen so gründlich ab, daß die Ärzte mitsamt den Patienten demnächst vor die Hunde gehen werden. Die Ärzte kommen mir ihren Hungerlöhnen nicht über die Runden, und die Kranken machen reihenweise den Schirm zu, weil sie keine ärztliche Behandlung mehr bekommen.“

„Stimmt haargenau“, pflichtete ihr Jura bei. „Die da oben brauchen die Nation nicht. Sie brauchen ein Territorium ohne russische Menschen.“

„Dabei schwenken sie weiterhin eifrig ihre angeblich russischen Fahnen und schmücken sich mit allerlei Dingen, die angeblich ihren Stolz auf ihre Nation symbolisieren“, fügte Pjotr hinzu. „Uns hingegen ist es ganz egal, welche Farbe die Flagge hat. Uns beschäftigt die Frage, wie die Kinderärzte leben. Ein anschaulicher Beweis dafür, wie himmelweit die Interessen des Staates und jene der Nation auseinanderklaffen.“

„Na ja, du hast eben ein höchst persönliches Interesse am Wohlergehen der Kinderärzte und vor allem der Kinderärztinnen“, stichelte Marina.

„Und wenn dem so ist? Letzten Endes besteht das Interesse des Volkes aus einer Summe von persönlichen Interessen. Doch aus irgendwelchen Gründen sind die einen persönlich daran interessiert, daß es den meisten Menschen dreckig geht, während die anderen wollen, daß es ihnen gut geht. Darum ist meine Liebe zu meiner Tigerin lediglich ein Zeichen der Götter, die mir damit zeigen, daß ich auf dem richtigen Weg bin.“

„Nun bringst du auch noch die Götter ins Spiel.“

„Er braucht sie nicht ins Spiel zu bringen“, wies Siegfried sie zurecht. „Sie existieren wirklich.“

„Und helfen sie auch?“

„Zweifellos“, sagte Siegfried in so überzeugtem Ton, daß niemand unter den Anwesenden das Bedürfnis verspürte, ihm zu widersprechen.

„Na gut, ihr Jungens. Aber ist es nicht allmählich an der Zeit, daß wir uns auf die Socken machen?“

Es war ihr unversehens langweilig geworden. Auch Soja machte kein Hehl daraus, daß sie sich inzwischen langweilte und daß sie nicht das geringste Bedürfnis verspürte, sich den ganzen Tag kluge Gespräche anhören zu müssen. Schließlich konnte sie ja gegen Abend zurückkehren und eine zweite aufregende Nacht mit dem stattlichen Hünen Siegfried verbringen.

Nur Lena war bereit, den ganzen Tag solchen Gesprächen zu lauschen. Und dann... Dann würde die nächste Liebesnacht folgen und hoffentlich nie zu Ende gehen. Doch jetzt konnte sie ihre Freundinnen nicht alleine gehen lassen.

„Bringt ihr uns in die Stadt?“ fragte sie.

„Wir rufen ein Taxi“, antwortete Tschugunow. „Wenn die Kerle meine Höhle verlassen, kehren sie nicht mehr dorthin zurück.“

„Bist du denn sicher, daß wir ein Taxi kriegen?“

„Ich gebe zweihundert Rubel Trinkgeld.“

An und für sich waren Taxis in dieser Kleinstadt sehr billig, und selbst eine Fahrt an den äußersten Stadtrand kostete nicht mehr als siebzig Rubel, doch erst nach langen Verhandlungen am Telefon vermochte Tschugunow einen Wagen zu bestellen. Wie es der Etikette entsprach, begleiteten die Männer die drei liebenswerten Damen zum Taxi, gaben aber mit keinem Wort zu erkennen, daß ihnen an einer Fortsetzung des Banketts gelegen war. Nur Tschugunow tauschte vor dem Abschied zärtliche Blicke mit seiner Tigerin aus, denn immerhin unterhielten die beiden eine feste Beziehung, deren Fortsetzung nicht davon abhing, ob sie sich diesen Abend wiedersehen würden.

Der Rausch des Frühschoppens war inzwischen verflogen. Jura und Pjotr waren sichtlich gereizt und nervös.

„War das denn nötig? Wir haben sie ja regelrecht rausgeworfen“, murrte Siegfried.

„Du hast wohl nicht kapiert, worum es geht“, konterte Pjotr rüde. „Wir haben unseren Spaß gehabt, und damit hat es sich. Wir müssen schon bald nach Hause, und bis es soweit ist, gibt es noch eine Menge zu besprechen. Ohne Zeugen, versteht sich. Wir kennen uns schon weiß der Kuckuck wie lange, aber Zeit für ein Gespräch unter uns haben wir kaum je gefunden. Doch wenn ich richtig verstanden habe, hat sich die Lage mittlerweile grundlegend geändert. Gehen wir also an die Säcke, meine Herren!“

„Na schön. Und womit beginnen wir?“ fragte Tschugunow.

„Am besten mit einem kurzen Situationsbericht aus deinem Mund. Schließlich bist du über die Entwicklungen in der Hauptstadt besser informiert als wir.“

Bei diesen Worten wurde Pjotr wieder einmal bewußt, daß sie alle drei ihren Gesichtskreis beständig erweiterten und reifer wurden. Noch vor drei Jahren hätte der glühende Petersburger Lokalpatriot Jura Moskau nie und nimmer als „Hauptstadt“ bezeichnet. Doch inzwischen stellte er die Interessen der Nation über alles und pfiff auf jede Form von kleinkariertem Lokalpatriotismus. War es etwa kein Zeichen von Reife, überholte und weltfremde Stereotypen über Bord zu werfen?

„Gut. Die Entwicklung der letzten Monate läßt sich kurz wie folgt charakterisieren: Erstens haben die russische Führungsspitze insgesamt und der Präsident persönlich die Unterstützung des Westens verloren. Ich bin natürlich nicht über alle Einzelheiten im Bilde, aber das, was ich im Verlauf unseres Wahlkampfs in Erfahrung bringen konnte, sowie eine Analyse der Ereignisse in der Ukraine deuten darauf hin, daß der Westen bei uns einen Regimewechsel anstrebt.“

„Kann der Westen seinen Lakaien denn so mir nichts, dir nichts den Laufpaß geben?“ wunderte sich Siegfried.

„Genau das hat er in Georgien und in der Ukraine ja getan“, erwiderte Pjotr.

„Und was haben wir davon?“ erkundigte sich Jura.

„Eines nach dem anderen. Zum zweiten Punkt: Im Bewußtsein der Öffentlichkeit gilt der Präsident nicht länger als unangreifbar. Die Mehrheit der Bevölkerung wird ihn schon bald ins Pfefferland wünschen. Drittens ist die Politik in Rußland zu Ende. Den Gnadenstoß versetzt hat ihr groteskerweise nicht etwa eine Gouverneurswahl, sondern die lausige Wahl in unserem Bezirk. Von nun an werden die Ergebnisse sämtlicher auch nur halbwegs wichtiger Urnengänge im voraus festgelegt sein; allenfalls Lokalwahlen werden noch irgendwelche Bedeutung haben.“

„Was bedeutet das für uns?“

„Daß uns fortan kein Mensch mehr auch nur einen müden Groschen für unsere politische Agitation oder irgendwelche sonstige politische Arbeit oder auch nur für Provokationen zahlen wird“, warf Jura ein.

„Genau so ist es. Übrigens wird man nicht nur dir, Jura, den Geldhahn zudrehen, sondern auch soliden Werbeagenturen. Meinen Informationen zufolge haben in den letzten Tagen mehrere Werbeagenturen meiner ehemaligen Kollegen von ‚Nowosti’ und ITAR-TASS dichtgemacht. Und dieser Trend wird sich beschleunigen.“

Pjotr wußte, daß Jura eine kleine Nachrichtenagentur besaß.

„Dies ist noch längst nicht alles“, fuhr er fort. „Bereits in naher Zukunft wird den privaten Werbeagenturen der großen Firmen die Knete ausgehen. Heutzutage hängen die Geschäftsleute ihre Erfolge nicht etwas an die große Glocke, sondern verbergen sie nach Kräften. Es wird schon bald soweit kommen, daß sie sich nicht nur in den Medien, sondern auch im Alltagsleben bedeckt halten.“

„Das ist ihr Problem“, winkte Siegfried ungeduldig ab. „Wofür werden wir denn künftig noch von irgend jemandem bezahlt?“

„Nur für unsere Teilnahme an einer Revolution.“

„Und wer bezahlt uns dafür?“

„Die Leute, welche die Revolution in Auftrag geben“, entgegnete Pjotr. „Die Auftraggeber sitzen im Westen. Und dann wird das vierte wichtige Element der gegenwärtigen Entwicklung seine Wirkung entfalten. Schon heute unterstützen mehr als fünfzig Prozent der Gesamtbevölkerung, und zwei Drittel der Russen, die Losung „Rußland den Russen!“, auch wenn dies auf den Zerfall der Russischen Föderation hinausläuft. Folglich wird eine Revolution zwangsläufig nationalen Charakter tragen, und eine nationale Revolution kommt ohne Nationalisten nicht aus. Doch wer von den Nationalisten ist gegenwärtig bereit, sein Verhältnis gegenüber dem Westen sowie der Integrität der Russischen Föderation grundlegend zu überdenken? Von den alten Kadern und alten Organisationen nur gerade wir. Die jungen Nationalisten denken auch so, aber die sind vorderhand nicht organisiert.“

„Apropos: Aus der Provinz trifft eine wahre Lawine von Briefen ein“, bemerkte Jura. „Die Leute wollen, daß wir unsere Partei vollumfänglich reaktivieren.“

„Prima! Doch jetzt müssen wir uns Gedanken darüber machen, wer unsere potentiellen Verbündeten sind. Eine antiwestliche Position beziehen hieße unter den gegenwärtigen Umständen gegen den Wind spucken. Der Westen ist unser natürlicher Bundesgenosse im Kampf gegen die internationalistische Bande, die das morsche Imperium regiert.“

„Entschuldige, Petrowitsch“, unterbrach ihn Siegfried, „ich kann deinen Gedankengängen nicht folgen. Haben wir, die wir für die nationale Idee kämpfen, etwa die ganze Zeit über gegen den Wind gespuckt? War der Westen in den neunziger Jahren vielleicht weniger stark als jetzt? Mir scheint eher das Gegenteil der Fall zu sein. Trotzdem haben wir von allen Rednerbühnen gegen ihn und seine russischen Trabanten gewettert.“

„Jetzt bringst du verschiedene Dinge durcheinander, mein Freund. In den neunziger Jahren hofften wir, unter der herrschenden Elite Verbündete gegen Jelzin und seine Clique zu finden. Haben wir sie gefunden? Haben sie uns geholfen? Keine Rede davon: Sie haben dem Jelzin-Regime und damit letzten Endes auch dem Westen treu gedient. Und jetzt sind diese Stiefelknechte urplötzlich zu ‚Patrioten’ geworden! Aber lassen wir diese Leute einen Augenblick beiseite. Wenn ich davor warne, gegen den Wind zu spucken, heißt das nicht, daß ich den Kampf gegen einen starken Feind scheue. Manchmal hat man sogar in einer hoffnungslos erscheinenden Situation keine andere Wahl, als zu kämpfen. Doch einen potentiellen mächtigen Bundesgenossen leichtfertig vor den Kopf stoßen heißt tatsächlich gegen den Wind spucken. Darum wiederhole ich: Heutzutage versichern die Machthaber, die ihre Verpflichtungen gegenüber dem russischen Volk nicht erfüllt haben, prahlerisch, sie würden ‚die Wiedergeburt Rußlands’ bewerkstelligen. Wenn ihnen das gelingt, wird der Preis für diese ‚Wiedergeburt’ der Untergang des russischen Volkes sein, und ein Rußland ohne Russen ist ja nicht das, was uns vorschwebt. Doch zu unserem Glück haben sich diese infolge ihrer Straflosigkeit frech gewordenen Parasiten jetzt mit dem Westen zerstritten. Hierdurch ist der Westen zu unserem natürlichen Verbündeten geworden. Wer nicht bereit ist, um der russischen nationalen Revolution willen selbst mit dem Teufel oder mit dem Westen zusammenzuarbeiten, gehört nicht zu uns.“

„Sollte man sich mit solch ungewohnten Losungen nicht eher zurückhalten?“ wandte Jura ein.

„Hoffe bloß nicht auf die Hilfe deiner ehemaligen Kollegen, Juri. Früher mochten sie dich noch halbherzig unterstützen, aber mittlerweile brauchen sie dich nicht mehr – nicht als Individuum, sondern als Vertreter eines bestimmten Menschenschlages. Du verstehst mich doch?“

„Und ob. Übrigens haben sie mich schon früher nicht einmal halbherzig unterstützt. Eine Kugel sitzt mir immer noch im Leib. Ich weiß also nur allzu gut, was die ‚Hilfe’ dieser Leute wert ist.“

„Gut, daß du dich keinen Illusionen hingibst. Im übrigen weise ich dich darauf hin, daß du das beste Pferdchen in unserem Stall bist. Jedem beliebigen anderen Politiker kann man aus prowestlichen Aussagen einen Strick drehen, jedoch dir nicht, denn du bist immerhin ein Held der Serbischen Republik und ein verdienstvoller Veteran des Russischen Widerstandes. Wenn die Stunde X schlägt, müssen wir unser ganzes politisches Kapital in die Waagschale werfen. Wie groß dieses Kapital ist, spielt keine entscheidende Rolle. Wenn wir alles auf eine Karte setzen, haben wir eine reelle Siegeschance. Eine zweite Chance wird sich uns nicht bieten!“

„Richtig, übertriebene Vorsicht bringt uns gar nichts!“, dröhnte Siegfried. „Unsere Anhänger im Ural rufen bereits nach einer russischen Republik Ural. Überall hat man eine Stinkwut auf den Kreml und die Kanaken. Vom Westen redet kaum noch jemand. In diesem Punkt hast du vollkommen recht. Ich habe das schlicht und einfach übersehen, aber nach deinen Ausführungen sind mir die Schuppen von den Augen gefallen.“

„Das freut mich aber“, sagte Tschugunow.

„Meine Herren Gelehrte und Revolutionäre“, spöttelte Jura, „Ihre Einschätzung der Situation und der im Volk vorherrschenden Stimmung ist zweifellos richtig. Doch wie sollen wir dies alles konkret für unsere Ziele nutzen?“

„Wir müssen mobile Kampfgruppen gründen, die besonders widerliche Typen aus dem Verkehr ziehen“, antwortete Siegfried martialisch. „Heute müssen wir hier zuschlagen und morgen dort. Wenn das Volk sieht, daß die herrschende Clique längst nicht so fest im Sattel sitzt, wie sie tut, wird es Mut fassen und, zunächst mittels Massendemonstrationen, aktiv werden.“

„Dies wäre eine Wiederholung der sowjetischen Taktik mit den fliegenden Stosstrupps“, bemerkte Tschugunow. „Ziemlich effizient. Aber...“

„Als ehemaliger Angehöriger einer Elitetruppe kann ich euch jetzt schon garantieren, daß das ein riesiger Reinfall wird“, meinte Jura. „Zur Schaffung solcher Sturmtrupps braucht es nämlich Ausbildungslager, Stützpunkte, eine perfekte Abschirmung gegen Geheimdienste und noch vieles andere mehr.“

„Und das alles kostet ein Heidengeld“, ergänzte Tschugunow.

„Du sagst es. Und wir haben nicht einmal Geld genug für neue Hosen. Soviel zu deinen Wunschträumen, Siegfried.“

„Ganz so hoffnungslos ist die Lage nicht, meine Herren“, beschwichtigte Pjotr. „Siegfried hat lediglich den teuersten Teil des revolutionären Projekts zur Sprache gebracht. Dazu ist es vorderhand noch zu früh, denn so schnell schießen die Preußen nicht, aber unsere Bereitschaft zu einer anti-imperialen orangeroten Revolution müssen wir überall verkünden. Auf unseren Veranstaltungen, die du, Jura, organisierst, bei meinen ‚literarischen’ Projekten und bei jeder sich bietenden Gelegenheit.“

„Und was bringt uns das?“ fragten Jura und Siegfried mit einer Stimme.

„Geld von den Sponsoren. Mit diesem Geld können wir unser Potential steigern, und dann kriegen wir die nächste Portion Geld. Und so weiter.“

„Aber wenn sie uns keines geben? Sie geben uns heute ja auch keines“, wandte Jura skeptisch ein.

„Du Schwarzseher, erstens hat sich die Lage in den letzten Wochen grundlegend geändert, als wir uns bei unseren Demonstrationen die Zehen abfroren und uns mit den Wahlkommissionen herumschlugen. Zweitens brauchen wir uns nichts vorzumachen: Mit solch unverblümten Losungen wie bei dieser Wahlkampagne sind wir bisher noch nie in Erscheinung getreten. Es braucht ein wenig Zeit, bis diese Losungen populär werden. Übrigens finden diese nicht nur bei unseren westlichen ‚Genossen’ Zustimmung, sondern auch bei den muselmanischen und den chinesischen. Aus diesen Gründen sollten wir uns bei unseren Propagandaaktivitäten davor hüten, potentiellen Sponsoren auf die Füße zu treten. Unser einziges Angriffsziel ist das morsche Imperium, welches das russische Volk daran hindert, ein normales Leben zu führen.“

„Diese verdammten Bullen“, murmelte Siegfried zwischen den Zähnen.

Jura sah ihn mißbilligend an und sagte:

„Und wenn sie uns trotzdem kein Geld geben?“

„Jeder, der das Leben auf die Lippen küßt, muß das, was ihm gebührt, zahlen. Und ohne sich zu beschweren die Zähne zusammenbeißen, schweigend, standhaft weggehen“, zitierte Pjotr.

„Wir müssen also weggehen“, fügte er hinzu. „Ich jedenfalls sehe keine anderen Varianten.“

Kapitel 8. Der Planet Nemesis

Wenn wir in die unermeßliche Tiefe schauten, schaue die unermeßliche Tiefe auf uns, hat der geniale Nietzsche einmal gesagt.

Die unermeßliche Tiefe des Kosmos schaute auf das Sonnensystem. Und aus dieser Tiefe näherte sich langsam – nach kosmischen Maßstäben wohlverstanden – ein irrender Planet. Nach welchen Gesetzen der Himmelsmechanik sich sein periodisches Erscheinen am Rand des Sonnensystems erklären ließ, darüber zerbrachen sich die Astronomen des Planeten Erde seit geraumer Zeit die Köpfe.

Anhand gewisser Indizien hatten manche Wissenschaftler anfangs die Hypothese verfochten, die Laufbahn dieses Planeten befinde sich in der äußersten Peripherie unseres Sonnensystems, doch später mehrten sich die Hinweise darauf, daß sein Verhalten dem eines Kometen ähnelt. Bald entfernt er sich von der Sonne und ist einige Jahrtausende lang unsichtbar, bald nähert er sich ihr wieder, verbleibt jedoch außerhalb der Laufbahn des Planeten Pluto.

Noch größere Rätsel gab den Wissenschaftlern das geheimnisvolle Verhalten einer amerikanischen kosmischen Sonde auf, die, nachdem sie außerhalb der Laufbahn des Pluto angelangt war, urplötzlich die absonderlichsten Bahnen zog. Dieses Phänomen ließ sich noch am ehesten mit der Hypothese erklären, daß die Schwerkraft außerhalb des Sonnensystems ihr Wesen ständig ändert.

Vom Standpunkt der modernen Physik aus schien dies eine reine Absurdität. Doch Fakten sind Tyrannen – gegen sie gibt es keine Argumente. Und wenn man von der Richtigkeit der eben erwähnten Hypothese ausging, ließ sich der Zeitpunkt, zu dem sich dieser rätselhafte Planet dem Sonnensystem das nächste Mal nähern würde, ebenso wenig voraussagen wie sein künftiges Verhalten.

Doch wer weiß, ob diese Gäste aus dem Kosmos das nächste Mal noch den gebührenden Abstand von uns einhalten oder vielmehr den Drang verspüren werden, uns ein wenig näher zu kommen? Letzteres zöge für die Bewohner des Planeten Erde mit unheilschwangeren Folgen nach sich.

Dies war der Grund dafür, daß die Astronomen, die zwar um die Existenz dieses mysteriösen Planeten wußten, sein Verhalten jedoch erst sehr unvollkommen begriffen, ihn nach der Göttin der Vergeltung Nemesis nannten.

In jenem Jahre schlug die Nemesis ihre ferne Bahn entschlossen ein und zeigte sich den irdischen Beobachtern offen. Manche werden einwenden, Begriffe wie „entschlossen“ und „offen“ ließen sich auf die Bewegungen eines Himmelskörpers nicht anwenden. Wie dem auch sein, irgend etwas bewog die Astronomen dazu, von der Nemesis so zu reden, als sei sie ein belebtes Objekt. Und die Seele dieses – mit Verlaub – Gegenstandes loderte vor Zorn.

Die großen russischen Denker Wernadski und Tschischewski waren mehr als nur Wissenschaftler. In früheren Zeiten hätte man sie als Propheten bezeichnet. Und diese prophetischen Wissenschaftler hatten den Einfluß der kosmischen Entwicklungen auf die irdischen Dinge unwiderlegbar nachgewiesen. Unwissende Menschen lasen ihre Prophezeiungen so, als seien sie lediglich Erzeugnisse der Science-Fiction-Literatur und als hätten sich diese beiden verdienten Gelehrten die Freiheit genommen, unter dem wohlwollenden Schmunzeln ihrer akademischen Kollegen ihrer Phantasie einmal die Zügel schießen zu lassen. Mit dieser Annahme waren die Betreffenden jedoch gründlich auf dem Holzweg.

Der Kosmos kochte vor Grimm auf die abgestumpfte menschliche Biomasse. Noch ehe die Nemesis ihre Bahn eingeschlagen hatte, wirkte sie mittels Fluiden, die den Erdenbewohnern vorderhand noch unbekannt waren, massiv auf deren Leben ein.

Gewaltige Erdbeben im Indischen Ozean erzeugten Tsunamis, die über die Küsten Thailands und Indonesiens hinwegbrausten. Zehntausende träger Erdenbewohner, die in diesen Ländern ihr Geld verpraßten, fanden einen jähen Tod in den gigantischen Wogen.

Die Erdachse verlagerte sich. In Europa brach eine Kältewelle herein, und dichte Schneemassen fielen vom Himmel. Neapel und München erfroren schier, selbst in Tunesien schneite es. Viele Europäer, die das Denken noch nicht verlernt hatten, wurden sich jäh bewußt, was für Helden ihre russischen Nachbarn sind, die Winter für Winter unter solchen für den Rest Europas verheerenden Umständen verbringen.

Die Welt hätte sich dringend Gedanken darüber machen müssen, was diese Entwicklungen bedeuteten. Aber vorderhand begriff die Welt noch nichts.

Inzwischen schlug die Nemesis ihre Bahn ein und betrachtete die Erde mit ihren Augen aus gefrorenem Methan.

Doch die Götter, die Beschützer der arischen Völker, begriffen diesen Blick.

„Wir müssen unseren Kindern helfen“, sagte der Schirmherr der Slawen, Swarog, der zu Lebzeiten Schmied gewesen war und den Menschen das Geheimnis des Eisens offenbart hatte.

Sein germanischer Kollege Thor war skeptisch.

„Aber wie sollen wir ihnen denn helfen, wie?“ rief Swarog leidenschaftlich aus. „Verstehen sie denn nicht, weshalb die Nemesis gekommen ist? Begreifen sie nicht, wer von den Tsunami dahingerafft wurde, und warum? Und will es ihnen wirklich in den Kopf, was die arktische Kälte in Europa bedeutet? Damit wir ihnen helfen können, dies alles zu verstehen, müssen sie wieder an uns glauben.“

„Wer ist denn schon noch bereit, an uns zu glauben? Wer?“ wandte Thor ein.

„Wahrscheinlich gibt es noch solche Menschen“, erwiderte Swarog.

„Du mit deiner slawischen Traumtänzerei“, kanzelte ihn Thor grob ab. „Wenn es wirklich solche Menschen gäbe, hätten sie ihren Glauben schon längst bekundet. Und zwar so, wie es echten Ariern gebührt.“

„Und du mit deiner germanischen Sturheit“, versetzte Swarog. „Gibt es unter diesen Rindviechern denn nicht auch Leute, die sich mit Herz und Seele zu uns bekennen? Denke doch nur an deinen und meinen Neffen Siegfried und seine Freunde! Wir müssen ihnen helfen, das zu verwirklichen, worauf wir schon lange warten.“

„Den Weltenumsturz?“ mischte sich ihr iranischer Kollege ins Gespräch, der legendenumrankte Kowa.

„Jawohl, den Weltenumsturz. Den Umsturz, der den verhängnisvollen Fehler ausbügelt und das Krebsgeschwür der ihrer Natur nach semitischen Staaten auf Erden ausmerzt, der die Erde abermals zum Planeten von Schöpfern und nicht von Krämer- und Beamtenseelen macht, der dem Menschengeschlecht den Sinn des Lebens wiedergibt, um dessen willen es vom Allerhöchsten geschaffen worden ist.“

„Na gut, ihr Schmiede, es besteht kein Grund, Trübsal zu blasen. Doch meiner Meinung nach sind diese Menschen trotzdem recht schwach, und ich wüßte nicht, wie man ihnen helfen kann.“

„Nur die Liebe kann ihnen helfen“, sagte Swarog.

„Die Liebe?“ wunderte sich Thor.

„Denke doch an dich selbst, Brüderchen“, spottete Swarog. Thor verstummte jäh. Sein Blick wurde träumerisch, denn schließlich ist das germanische Genie nicht nur hart, sondern auch sentimental.

„Ich habe allen schon immer gesagt, daß ich nicht irdischer Natur bin. Alle meinen, ich leide an Größenwahn. Nur du hast alles von selbst begriffen. Und jetzt sind wir beide nicht mehr irdisch. Ich habe dich mit dieser Krankheit angesteckt. Ich liebe dich über alle Massen. Deine unirdische Marsfee.“

„Die Kraft der Liebe läßt sich nicht ermessen, man kann sie lediglich fühlen. Doch die Kraft meiner Liebe kann Himmel und Erde in Bewegung setzen.“

„Sie werden Himmel und Erde in Bewegung setzen. Sie vermögen dies“, sagte Swarog rauh, und sein Blick kreuzte sich mit dem seines Freundes. Seine Augen waren von stahlgrauer Farbe – von der Farbe jenes Metalls, das er seinen Kindern geschenkt hatte.

Kapitel 9. Wissenschaft und Revolution

Der Winter verstrich ungenutzt. Die nahenden Feiertage sorgten eher für Gereiztheit als für Freude; Tschugunow und seine Gefährten hatten mit vielen kleineren Problemen zu ringen. Pjotr selbst ärgerte sich insbesondere darüber, daß er gezwungen war, um seines Einkommens willen in Moskau zu wohnen. Seiner ganzen Mentalität nach war er längst zum Provinzmenschen geworden und begriff mittlerweile – nicht mit dem Verstand, sondern mit dem Instinkt –, wie sehr der Rest Rußlands die Hauptstadt haßte.

Ab und zu rief er Siegfried oder Jura an. „Was denken sich unsere Sponsoren eigentlich“, ereiferte sich Jura mit für ihn untypischer Erregung immer wieder, „die Empörung des Volkes über die unerträglichen Lebensbedingungen wächst immer mehr. Diese Empörung könnte man jetzt kinderleicht in politisches Kapital ummünzen. Aber kein Mensch rührt auch nur einen Finger!“

Jura hatte recht. Die Stimmung im Volk schlug zusehends um. Daß den Präsidenten selbst in dem von ihm abgöttisch verehrten St. Petersburg eine feindselige Menschenmenge mit Plakaten wie „Du bist schlimmer als Hitler“ begrüßte, mußte ihm als Zeichen an der Wand vorkommen, denn immerhin lebten in der nördlichen Hauptstadt noch viele Menschen, welche die Blockade überlebt hatten und sich noch sehr genau daran erinnerten. Doch vorderhand bemühte sich niemand, diese Welle von Protesten politisch auszuschlachten.

Tschugunow war, zu Recht oder zu Unrecht, der Ansicht, die Politik in Rußland sei am Ende, und deshalb sei es sinnlos, den Unmut im Volk mit legalen politischen Mitteln kanalisieren zu wollen. Dies versuchte auch gar niemand mehr, und auf die Idee, die gärende Stimmung im Volke zur Inszenierung einer nationalen Revolution auszunutzen, war – jedenfalls in Rußland – bisher noch niemand verfallen. Zumindest äußerlich nicht, denn in vielen Köpfen nahmen solche Ideen bereits seit geraumer Zeit immer konkretere Form an.

Veranstaltungen im Alexanderhaus haben sich seit jeher durch ihre Respektabilität ausgezeichnet. Auch diesmal gab sich ein erlauchtes Publikum ein Stelldichein, um sich Vorträge über die Aussichten von Innovationen im Lande anzuhören und darüber zu diskutieren. Die breite Masse – wenn man einen solchen Ausdruck in diesem Zusammenhang überhaupt verwenden darf – der Teilnehmer bestand aus gewöhnlichen Doktoren und Professoren, doch auch Akademiker, Direktoren und stellvertretende Direktoren großer Institute sowie Vertreter großer Firmen waren in großer Zahl vertreten. Selbst Minister gaben sich die Ehre, allerdings nur ehemalige. Schließlich fehlte es auch nicht an Provinzpolitikern der zweiten Garnitur, unter denen insbesondere einige Vizegouverneure hervorstachen.

Daß sich Tschugunow an dieser Veranstaltung beteiligte, war an und für sich nur logisch. Schließlich konnte er hier mit professionellem Sachverstand die wechselseitigen Beziehungen zwischen Wissenschaft, Produktion, Ökologie und Gesellschaft beobachten. Dennoch war es einer unsichtbaren Hand zu verdanken, daß er sich hier einfand – einer Hand, die ihn unmerklich und sanft in eine ganz bestimmte Richtung geschoben hatte.

In der berühmten Halle des Alexanderhauses, die an ihren Flanken von durchsichtigen Liftschächten umrahmt war, drängte sich eine große Menschenmenge. Pjotr erblickte etliche Bekannte, verzichtete jedoch darauf, sie in ein Gespräch zu verwickeln. Ihm schien, er trage das Zeichen eines Bewohners der Wälder um Wladimir, die diesem Publikum gänzlich fremd waren. Merkwürdigerweise hatte nicht nur er selbst dieses Gefühl. In jeder beliebigen Versammlung von Provinzarbeitern wirkte Professor Tschugunow wie ein Einheimischer, und wäre jemand auf den Gedanken verfallen, ihn für die Rolle eines „Volksführers“ zu küren, so wäre ihm seine angeborene Schlichtheit vermutlich sehr zustatten gekommen. Doch bei Veranstaltungen wie dieser schien sie etwas fehl am Platz.

Zu seiner Erleichterung forderte man die Anwesenden schon bald auf, sich in den Saal zu begeben. Die Referate begannen, und was Tschugunow zu hören bekam, raubte ihm schier den Atem.

Fast niemand redete von Innovationen. Alle sprachen von der unvermeidlichen Revolution. Besonders beeindruckt war Tschugunow vom Auftritt des stellvertretenden Direktors eines gewissen Instituts.

„Eine Revolution in Rußland ist unvermeidlich“, sagte er in ruhigem Ton, als bekräftige er lediglich eine allgemein bekannte Tatsache. „Falls sie in den kommenden anderthalb bis zwei Jahren stattfindet, wird sie unblutig – oder fast unblutig – verlaufen. Bricht sie hingegen erst in drei oder vier Jahren aus, so werden Ströme von Blut fließen; möglicherweise wird die ganze heutige Elite dabei der physischen Vernichtung anheimfallen.“

Das Publikum, unter dem sich auch Spitzenfunktionäre befanden, hörte sich diese Ausführungen ruhig an. Jeder der Anwesenden machte sich Gedanken über die vom Referenten vertretene These und versuchte sich zu vergegenwärtigen, was sie konkret bedeutete.

Natürlich brachten manche Redner auch das Thema der Innovationen zur Sprache, jedoch lediglich um zu verdeutlichen, daß solche im heutigen Rußland prinzipiell keine Chance hatten. Dies war ihrer Auffassung nach auch der Grund dafür, daß dieses Regime unfähig war, den Wohlstand des Volkes zu mehren; sein Grundsatz lautete vielmehr: „Wegnehmen und teilen.“ Ein solches Regime konnte nicht reformiert, sondern nur zerstört werden.

Der Diskussionsleiter nahm die Ausführungen der Referenten gelassen, ja humorvoll, hin, bemerkte jedoch:

„Kollegen, ich möchte Sie bitten, sich an das Thema unserer Veranstaltung zu halten. Was ist Ihrer Ansicht nach eigentlich der Grund dafür, daß Innovationen unter den gegenwärtigen Umständen von vorne herein zum Scheitern verurteilt sind? Anders gesagt, wer will solche Innovationen durchführen, und wer legt ihnen Steine in den Weg? Es wäre übrigens sehr wünschenswert, einige notwendige Innovationen konkret zu nennen.“

Nun trat Tschugunow ans Rednerpult. Zur Veranschaulichung seiner These, wonach das herrschende System seinem Wesen nach innovationsfeindlich war, führte er einige frappante Beispiele ins Feld. Er erwähnte eine Methode der kommunalen Wärmeversorgung, die um das dreißigfache billiger war als die gegenwärtig verwendeten, eine radikale Therapie zur Heilung des Krebses, militärtechnologische Methoden der Fernsteuerung von Modellen sowie geologische Daten über gigantische Erdölvorkommen in Zentralrußland. In jedem einzelnen Fall nannte er Ross und Reiter: Er wies darauf hin, wer die Einführung dieser neuen Methoden blockierte, und nannte die Höhe der Schmiergelder, mit denen man die bürokratischen Hindernisse beseitigen konnte. Zum Abschluß seiner Darlegungen sagte er:

„Ich habe dem Wunsch des verehrten Vorsitzenden stattgegeben und Möglichkeiten konkreter Innovationen genannt. Auf welchem Wege könnten diese verwirklicht werden? Auf dem Wege der Privatinitiative, wobei diese von Forschern entfaltet wird, die nur sehr geringe Unterstützung seitens staatlicher Institute genießen, im Fall der Flugzeugmodelle sogar überhaupt keine, nicht einmal symbolische. Und wer blockiert diese Innovationen? Der Staat der Russischen Föderation, der Hauptfeind des russischen Volkes und der russischen Zivilisation.

Erwarten Sie nun von mir, daß ich das Thema der Revolution aufgreife? Ich werde dies nicht tun. Ich habe mich, angefangen bei meiner Tätigkeit in der Gesellschaft PAMJAT, für die Verwirklichung einer nationalen Revolution zur Befreiung Rußlands abgerackert, während andere, die sich heute als Revoluzzer gebärden, als Minister in der volksfeindlichen Regierung hockten.“

Nach Abschluß der Diskussionen strömten die Anwesenden in der bekannten gläsernen Halle des Alexanderhauses zum Büffet. Tschugunow versuchte sich mühsam einen Weg zu den Tischen zu bahnen, doch umringte ihn eine dichte Menschenmenge. Die einen stellten ihm Fragen, die anderen überreichten ihm Visitenkarten, wieder andere baten ihn, seine eigenen Bücher zu signieren.

Eitelkeit gehörte nicht zu Tschugunows Lastern, und zudem hatte er einen Bärenhunger. Deshalb schmeichelte ihn die Aufmerksamkeit, die man ihm entgegenbrachte, nicht etwa, sondern ging ihm vielmehr auf die Nerven. So kämpfte er sich entschlossen zu einem Tisch vor, auf dem sich köstliche Fischgerichte – seine Leibspeise - türmten, doch als er schon fast am Ziel war, buchstäblich am Rand des Tisches, sprach ihn jemand an.

„Entschuldigen Sie, aber Sie haben eine Methode zur Krebsheilung erwähnt?“

„Ja.“ Der nagende Hunger steigerte Pjotrs Gereiztheit.

„In unserer Organisation“ – der Fremde überreichte ihm eine Visitenkarte mit den Requisiten einer höchst soliden halbregierungsamtlichen Organisation – „bekleidet ein hochangesehener Mann die Position des stellvertretenden Direktors. Es handelt sich um einen ehemaligen Oberst des Geheimdienstes. Unlängst hat man bei ihm Krebs im Endstadium diagnostiziert. Können Sie mir die Koordinaten der Mediziner geben, welche die von Ihnen erwähnte Methode entwickelt haben?“

„Diese Methode ist in Rußland formell verboten worden, und zwar vom Minister persönlich.“

„Wir können ihn ohne weiteres in irgendein GUS-Land ausfliegen und dort behandeln lassen?“

„Und was ist mit denen, die das nicht können? Mit jenen, die sich hier behandeln lassen könnten, doch keine Möglichkeit haben, in die Ukraine oder nach Weißrußland zu fliegen und dort eine Klinik aufzusuchen?“

„Was soll dieser Einwand? Ich kann Sie zwar an und für sich verstehen.“

„Nein, Sie verstehen mich nicht. Aber ich will Ihnen die Koordinaten der betreffenden Mediziner geben und diese ersuchen, Ihre Bitte wohlwollend zu prüfen...“

„Ich danke Ihnen.“

„Danken Sie mir nicht zu früh. Ich tue dies nämlich nur unter einer Bedingung. Ihr Oberst, der offenbar nichts mehr zu verlieren hat, soll auf seinem Spezialgebiet tätig werden.“

„Wie bitte?“

„Er soll den Gesundheitsminister, der die Einführung dieser Heilungsmethode blockiert hat, umlegen lassen.“

„Und wie soll er das anstellen?“

„Das muß er als Profi selbst am besten wissen.“

„Sie machen wohl Witze.“

„Durchaus nicht. Ich will in diesem Land leben, wo ich geboren bin und wo meine Ahnen geboren sind. Ich will hier leben und nicht im Westen, aber in einer modernen, demokratischen und zivilisierten Gesellschaft, und ehe wir sämtliche heute amtierenden Minister mitsamt ihren Stellvertretern um einen Kopf kürzer gemacht haben, wird das nicht möglich sein. Genau das haben ja heute viele Vortragsredner sehr überzeugend dargelegt. Aber wer kann das besorgen? Nur Profis, und zwar am besten solche, die nichts mehr zu verlieren und mit dem einen oder anderen dieser Minister eine Rechnung zu begleichen haben. Ihr Oberst beispielsweise hat wohl wirklich keinen Grund, dem heutigen Gesundheitsminister grün zu sein.“

„Sie sind offenbar gereizt und im Moment nicht zu einem seriösen Gespräch bereit. Ich hoffe aber, wir können unsere Diskussion ein anderes Mal fortsetzen.“

„Ganz unrecht haben Sie nicht, aber ich habe in vollem Ernst gesprochen. Vielleicht war meine Ausdrucksweise zu schroff. Übrigens bin ich nicht gereizt, sondern hungrig, und der heiße Stör ist fast schon alle.“

Der Unbekannte sah Tschugunow an, als habe dieser den Verstand verloren, und trat zur Seite. Pjotr gelang es nun endlich, seinen Teller mit einem Stör-Steak und Lachs zu füllen, worauf er sich, fast wie ein Kater schnurrend, auf einen Stuhl setzte.

„Sie sind ja wirklich ein Scherzkeks, Pjotr Petrowitsch“, sagte ein alter Bekannter und trat an ihn heran.

„Ah, Michail Sergejewitsch, was tun Sie denn hier? Diese Veranstaltung hat doch auf den ersten Blick nichts mit Politik und Public Relations zu tun.“

Michail Sergejewitsch hatte früher ebenfalls bei ITAR-TASS gearbeitet, war aber mittlerweile Eigentümer einer Werbeagentur.

„Pjotr Petrowitsch, mit Public Relations locken Sie heute in Rußland keine Maus mehr hinter den Ofen hervor. Damit ist es Schluß, genau wie mit der Politik.“

„Dann gehören Sie also zu den Befürwortern einer orangenroten Revolution?“

Der Kollege des „Ideen-Generators“ aus dem Kreml warf Tschugunow einen schiefen Blick zu. Dieser ehemalige „Dissident“, der in Wirklichkeit als KGB-Spitzel gearbeitet hatte und aussah wie eine Kröte, vertrat heute die Losungen der Konterrevolution. Er war nie etwas anderes gewesen als ein serviler Speichellecker der jeweiligen Machthaber. Doch seitdem er satte 50 Millionen Dollar dafür eingestrichen hatte, daß er sich beim russischen Präsidenten für die Unterstützung des ukrainischen Präsidentschaftskandidaten und Günstlings der bürokratischen Mafia Jakubowitsch stark machte, hatte er eine Heidenangst, begriff er doch, daß eine neue Regierung ihn über die Klinge springen lassen würde. Deshalb setzte er sich nach Kräften dafür ein, jede Revolution in Rußland im Keim zu ersticken.

Seine fette, talgige Visage verschwand kaum je vom Fernsehschirm. Die flache, längliche Brille glänzte unheilschwanger auf seiner dicken Nase. Wenn er mit öliger Stimme Drohungen gegen jene ausstieß, die nicht länger unter menschenunwürdigen Bedingungen in einem morschen Imperium dahinvegetieren wollten, wackelte sein feister Wanst, und ein tückisches Grinsen verzerrte sein Gesicht.

Er war es gewöhnt, daß man Widerspruch allenfalls vorsichtig und in gewundener Form äußerte. Als er die laute Stimme Tschugunows hörte, der ungeniert von einer orangenroten Revolution sprach, zitterte dieser Polit-Mafioso vor Hass und Furcht. Tschugunow musterte den erbärmlichen Wicht mit dem Blick eines normalen, gesunden Menschen, der sich seiner moralischen Überlegenheit bewußt ist. Der Kreml-Funktionär schlug den Blick nieder und machte sich aus dem Staub.

Michail Sergejewitsch, der die Szene beobachtet hatte, lächelte nur. „Ich bin kein solcher Draufgänger wie Sie, Pjotr Petrowitsch. Ich packe alles gerne ruhig an.“

„Nun, ruhig ist es bei dieser Veranstaltung ja wirklich nicht zugegangen...“

„Da haben Sie recht. Diese Veranstaltung hat gezeigt, daß es in Rußland trotz allem noch eine ungeheure Menge an Know-how gibt, das aber nicht genutzt wird. Dieses Know-how sowie potentielle Käufer dieser intellektuellen Ware ausfindig zu machen, ist eine Aufgabe, die starke Ähnlichkeit mit dem Journalismus aufweist, denn auch bei diesem steht die Suche nach Informationen und Menschen im Vordergrund. Darum schließe ich meine Agentur und halte nach soliden Partnern Ausschau, mit denen zusammen ich eine entsprechende Firma gründen kann. Dabei wäre ich in höchstem Masse an einer Zusammenarbeit mit Ihnen interessiert. Sie verfügen nicht bloß über vielfältige Erfahrungen sowohl auf wissenschaftlichem als auch auf organisatorischem Gebiet, sondern sind zudem auch noch ein gewiefter Werbefachmann und Analytiker. Dies heißt, daß sie sich sowohl in die Lage des Auftraggebers als auch in die des Lieferanten hineindenken können.“

„Michail Sergejewitsch, ich sehe, daß Sie ihr Projekt gründlich durchdacht haben und nicht zu mir gekommen sind, um unverbindliche Phrasen zu dreschen. Gibt es Probleme, die sie am liebsten schon jetzt erörtern möchten?“

„Sie besitzen eine rasche Auffassungsgabe, Pjotr Petrowitsch. Ehe ich endgültige Entscheidungen fällen und in Kontakt mit potentiellen Partnern treten kann, muß ich eine Frage klären.“

„Und das wäre?“

„In Rußland läuft gegenwärtig ein wohlorganisierter Feldzug gegen die Entwickler und Träger von Know-how ab. Diese kriminelle Kampagne gegen verdiente Wissenschaftler verfolgt nicht nur das Ziel, Druck auf die Bannerträger des wissenschaftlich-technischen Fortschritts auszuüben, sondern soll gleichzeitig verhindern, daß Innovationen ungehindert auf den Markt kommen, denn...“

„... denn die praktische Verwertung von Innovationen unterliegt der Kontrolle der bürokratischen Mafia. Eine Struktur, die über eigene Gelder verfügt und sich nicht von korrupten Staatsbeamten erpressen läßt, wäre für den Gangster-Staat, in dem wir leben, eine tödliche Gefahr.“

„Sie formulieren es sehr scharf, treffen aber den Nagel auf den Kopf. Darf ich Sie fragen, was man denn in dieser Situation tun sollte?“

„Elementary, my dear Watson, wäre man da versucht zu antworten.“

Tschugunows Gesprächspartner lachte herzlich.

„Wenn es so elementar ist, dann sagen Sie es doch. Klären Sie mich auf.“

„Gerne. Was wollen die Auftraggeber kaufen? Das Know-how, das in einigen halbstaatlichen Organisationen entwickelt wird. Die Pläne zu seiner Entwicklung sind ganz offiziell abgesegnet worden, und die Gelder dafür sind zumindest teilweise aus der Staatskasse gekommen. Den Staatsbeamten bieten sich hier allerlei Möglichkeiten, um bei den Verkäufern dieses Know-how abzusahnen, zumal diese selbst Mitarbeiter der Organisation sind, die es produziert.“

„Dies stimmt, heißt aber noch lange nicht, daß man den Verkauf jedes beliebigen Know-how einfach blockieren kann.“

„Oh doch! Haben Sie bei der heutigen Veranstaltung denn nicht mitbekommen, daß es jede Menge Know-how gibt, das im Rahmen der Privatinitiative entwickelt worden ist und keiner Gesetzgebung untersteht? Formal gesehen existiert es überhaupt nicht.“

„Trifft dies auf einen großen Teil des neu entwickelten Know-how zu?“

„Auf den größten Teil! Dies gilt erstens für in privatem Rahmen und unabhängig von irgendwelchen staatlichen Institutionen entwickeltes Know-how und namentlich für sämtliche von mir in meinem Referat erwähnten Beispiele. Zweitens trifft es auf jenes Know-how zu, das zwar unter der Aegide staatlicher oder halbstaatlicher Organisationen entstanden ist, jedoch über den Rahmen des ursprünglich Geplanten hinausgeht.“

„Können Sie das anhand eines Beispiels erläutern?“

„Bitte sehr. Eine Organisation arbeitet an der Konstruktion eines Jägers der fünften Generation, während ein junges Genie gleichzeitig bereits einen Jäger der sechsten Generation austüftelt. Einerseits gehört dieser Wissenschaftler einer Gruppe an, die dasselbe Ziel verfolgt wie er und die ihn mit Ideen und Wissen beliefert. Andererseits verschmäht es diese Gruppe, seine kühnen wissenschaftlichen oder technischen Phantasien in einem ihrer Projekte zu berücksichtigen, weil der Jäger der fünften Generation noch nicht fertig entwickelt ist.“

„Und wie sollen wir all dieses Know-how aufstöbern und es dann zum Verkauf anbieten? Und wie sollen wir es exportieren?“

„Den Rahm können wir sofort abschöpfen, zumindest im Fall der Beispiele, die ich persönlich kenne. Und wenn ich noch meine Kollegen hinzuziehe, kann man allein schon in informellen Gesprächen Kenntnis von rund fünfzig vielversprechenden Innovationen erlangen. Die potentiellen Partner sollen von diesen ruhig ein rundes Dutzend besonders profitable aussuchen. Die im Rahmen privater Initiativen, jedoch von Mitarbeitern staatlicher Institutionen entwickelten Innovationen soll man gemeinsam mit ihren Erfindern außer Landes bringen.“

„Wie stellen Sie sich das denn vor?“

„Wir könnten beispielsweise ein privates Institut in der Ukraine gründen.“

„Weshalb gerade dort?“

„Weil unsere Wissenschaftler dort Arbeitsbedingungen vorfinden werden, die den unseren ähneln. Es gibt keine Sprachbarriere, und zudem ist die Versorgung mit den notwendigen Dingen billiger als in Deutschland oder Frankreich. Dieses Privatinstitut heuert also Wissenschaftler an, die über begehrte Kenntnisse auf diesem und jenem Gebiet verfügen. Sie kündigen ihre jetzigen Stellen bei ihren Instituten und setzen ihre Arbeit jenseits der Grenzen Rußlands fort, wo sie dem Zugriff unserer geldgierigen Beamten und Politiker entzogen sind. Wenn sie das Bedürfnis danach empfinden, können sie ja ohne weiteres in der Heimat Urlaub machen und sich bei einem Bier mit ihren ehemaligen Kollegen unterhalten.“

„Sie sind ja ein Genie der Wirtschaftsspionage!“

„Ach was, das hat mit Spionage nicht das geringste zu tun. Es geht einfach darum, den besten Teil des russischen Volkes, die russischen Intellektuellen, zu retten.“

„Nehmen wir einmal an, wir haben den Rahm abgeschöpft. Und was dann?“

„Und dann muß man ungewöhnliche Wege einschlagen. Es versteht sich von selbst, daß man keine Agenturen eröffnen darf, die in aller Öffentlichkeit irgendwelche wissenschaftlichen Wettbewerbe ausschreiben und die Arbeiten der Sieger dann aufkaufen. Die Agentur muß inoffiziellen Charakter tragen und kann beispielsweise ‚Verband der russischen Ingenieure’ heißen. Dort werden junge Vertreter der Intelligenz bei einem Bier auf die Bürohengste und die alten Knacker schimpfen und erzählen, was für geniale Erfindungen sie machen können. Diese Gespräche fassen wir dann zusammen, lassen sie durch unser Expertengremium analysieren und entwickeln die vielversprechendsten Projekte in unserem Privatinstitut außerhalb der russischen Landesgrenzen.“

„Genial!“

„Sagen Sie das bitteschön auch Ihren potentiellen Partnern!“

„Und wenn bereits formell verwirklichte Innovationen von Interesse sind?“

„Kein Patentklau, bitte! In Wissenschaft und Technik gehen bahnbrechende Erfindungen regelmäßig auf das Konto junger Menschen. Schmerbäuchige Gruftis und das, was sie irgendwelchen Kommissionen vorgelegt haben, brauchen wir nicht. Die jungen Wissenschaftler, auf die wir ein Auge geworfen haben, kündigen ihre Stellungen und treten ohne Visen und Auslandspässe einen Urlaub auf der Krim an. Dort machen sie sich dann auf unbestimmte Zeit dünn. Ich hoffe, daß die gegenwärtige ukrainische Regierung ihnen keine Schwierigkeiten bereiten wird, um so mehr, als unsere Partner solide sein und über einen guten Ruf im Westen verfügen werden, zu dem die Ukraine jetzt gehören will, nachdem sie sich von den verfaulenden Überresten des Sowjetsystems befreit hat. Auch potentiell interessante junge Wissenschaftler und Techniker werben wir am besten durch einen informellen Ingenieursverband an. Nun, habe ich Sie überzeugt?“

„Und ob! Nun zur Sache. Welche Rolle sehen Sie bei diesem Projekt für sich selbst vor?“

„Die Rolle des Vorsitzenden des Verbands russischer Ingenieure.“

„Einen geeigneteren Kandidaten kann ich mir nur schwer vorstellen.“

Sie verließen das Gebäude. Tschugunow verspürte das unbändige Verlangen, seine Tigerin zu treffen und ihr von seinem Sieg zu erzählen, zweifelte er doch nicht daran, daß die Unterredung mit dem ehemaligen Kollegen einen Sieg, einen Durchbruch darstellte.

Er nahm das Handy aus der Tasche. Ein, zwei, drei SMS. Bei seinen hitzigen Diskussionen hatte er die Signale überhört.

„Grüß dich, meine bessere Hälfte. Ich fühle mich ohne dich so hundselend. Alles ist so leer und einsam, obwohl ich nicht alleine bin. Ich liebe meine Arbeit. Sie hält mich davon ab, in Depressionen zu versinken.“

„Warum schweigst du, mein unartiger Hase? Ich habe dich aber trotzdem sehr lieb.“

„Pjotr, selbst wenn die Umstände stärker sein werden als unsere Liebe oder ein finsteres Geschick uns trennt, macht das nichts aus. Du wirst für mich immer das größte Geschenk meines Lebens sein, mein kostbarstes Kleinod, das mein Leben verschönert und mit neuem Licht erfüllt.“

Großer Gott, sie hat sich wegen meines Schweigens die größten Sorgen gemacht und rechnet fast schon damit, mich nicht wiederzusehen! Was bin ich doch für ein herzloser Unmensch!“

Er schickte ihr sofort folgendes SMS:

„Der Mensch denkt, und Gott lenkt. Gott der Herr ist unser unfehlbarer Pilot! Das Unmögliche zu verwirklichen ist unser Beruf! Alles in Butter. War vollauf beschäftigt. Entschuldige mein Schweigen. Bald sehen wir uns wieder. Vielen Dank für die SMS.“

Nach der Fahrt mit der Untergrundbahn, schon ganz in der Nähe seiner ungeliebten Wohnung, traf die Antwort ein:

„Mein Schatz, mein Liebling, mein Herzkäfer. Ich küsse dich. Viel Erfolg. Ich warte. Danke für alles. Gute Nacht.“

Nachdem er diese Worte gelesen hatte, betrat er seine Wohnung, wusch sich eilig, putzte sich die Zähne und ging zu Bett.

Im Traum sah er ein Ritterschloß. Nein, es war kein Schloß, sondern ein heidnisches Kloster. Krieger-Mönche und Opferpriester umringten einen flammenden Altar. Dann träumte ihm, er höre einen Eidschwur, der mit irgendeinem Ritual zusammenhing. Er mußte eine schmerzhafte Einweihungsprozedur über sich ergehen lassen. Doch fürchtete er sich nicht, sondern packte den rotglühenden Dolch mit bloßen Händen und stieß ihn mit voller Kraft in seine Flanke.

Ihn durchdrang ein brennender Schmerz, doch dann ließ dieser nach, und Pjotr versank in tiefen, ruhigen Schlaf.

Kapitel 10. Das Klirren der Gläser

Als er erwachte, empfand er sogleich unbändigen Tatendrang. Wieder überkam ihn das Gefühl, daß ein Durchbruch in greifbare Nähe gerückt war. Das alte Sprichwort „Ein Unglück kommt selten allein“ hat nämlich eine erfreuliche Kehrseite: Auch der Erfolg kommt selten allein. Mit dieser Einschätzung lag er goldrichtig.

Schon bald rief Vitali an: „Unser Plan beginnt Konturen anzunehmen. Komm zu mir ins Büro.“

„Ich werde mich sputen“, versprach Tschugunow.

„Wie verkaufen sich eigentlich deine Bücher?“ wollte Vitali wissen.

„Saumäßig schlecht.“ Pjotrs Ausdrucksweise entsprach nicht gerade dem eines Professors. „Es ist immer das gleiche Lied. Anfangs findet jedes Buch reißenden Absatz, und alles deutet darauf hin, daß die erste Auflage im Handumdrehen ausverkauft sein wird, aber dann gerät der Verkauf über Nacht ins Stocken, und zwar ganz unabhängig von der Anzahl der gedruckten Exemplare. Sobald die ersten fünftausend oder vielleicht auch achttausend Stück weg sind, tut sich plötzlich nichts mehr.“

Vitali hörte ihm zu und lächelte fast unmerklich.

„Was da vorgeht, entspricht einem altbewährten Strickmuster. Mit deinen Büchern trittst du gewissen Leuten empfindlich auf die Zehen. Dich selbst aus dem Weg zu räumen, würde ihnen allzu viele Scherereien einbrocken, denn erstens kostet so eine Operation doch einiges an Aufwand und Geld, und zweitens wäre es überflüssige Reklame für deine Ideen. Und dieses Risiko wollen sie nicht eingehen. Darum ist es für sie einfacher, dir gewissermaßen den Sauerstoff abzudrehen und dich als erfolglosen Vielschreiber zu porträtieren, dessen Schmöker kein Mensch lesen will. Vielleicht hoffen sie auch, daß du aus lauter Gram zur Flasche greifst und als versoffenes Wrack auf der Strasse endest. Doch dies alles beweist, daß du dich auf dem richtigen Weg befindest. Dies haben gewisse Leute übrigens bereits aufmerksam zur Kenntnis genommen. Kurz und gut, sie sind an der Übersetzung deiner Bücher interessiert.“

„Und was sind das für Leute?“

„Spielt das für dich denn wirklich eine Rolle?“

„Ehrlich gesagt ist es mir völlig egal.“

„Prima. Je weniger du von diesen Dingen weißt, desto sorgloser wirst du schlafen. Schreibe mir eine Ermächtigung und beginne dann in aller Ruhe mit deinem nächsten Opus.“

„Eine bescheidene Frage: Wieviel springt dabei für mich ab?“

„Insgesamt fünfundzwanzigtausend. Dollar, wohlverstanden.“

„Wie der alte Käpten auf unserem Kutter zu sagen pflegte: ‚Pißt nach oben, Matrosen!’“

„Du Spaßvogel“, lachte Vitali.

Es vergingen einige Tage. Pjotr stellte Vitali die verlangte Ermächtigungsurkunde aus und bekam das versprochene Geld. Um ernsthaft etwas ins Rollen zu bringen, reichte diese Summe natürlich hinten und vorne nicht aus, wohl aber für den Erwerb eines bescheidenen Geländewagens russischen Fabrikats, und die Hälfte blieb noch zur Deckung seiner Alltagsbedürfnisse übrig. Vergnügt machte er sich Gedanken darüber, was für ein Auto er kaufen würde. In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Michail Sergejewitsch lud ihn zu einem Treffen mit potentiellen Partnern ein, bei dem das Projekt zur Gründung einer wissenschaftlich-technischen Agentur zur Sprache kommen sollte.

Pjotr spürte, daß die Dinge nun rasant in Fahrt kamen. So ist es oft im Leben: Nach einer langen Periode der Stagnation eröffnet einem das Leben im Nu zahlreiche neue Chancen. Es gilt nur, sie rechtzeitig zu erkennen und beim Schopfe zu packen. Mit den Jahren nimmt die Fähigkeit, sie zu erkennen, zu, doch die erforderliche Energie, um sie zu nutzen, vermindert sich immer mehr.

Tschugunow hatte in der ersten Stagnationsperiode seines Lebens unter heftigen Depressionen gelitten, doch konnte er sich zusammenreißen, und wenn er den Duft des Erfolgs witterte, wurde er mit einem Schlag jünger. Auch diesmal fieberte er dem bevorstehenden Treffen mit einem ganz bestimmten potentiellen Partner ungeduldig entgegen, begriff er doch, daß dieser gar keine Partner im herkömmlichen Sinne des Wortes war, sondern der Auftraggeber eines Projekts, bei dem sein ehemaliger Kollege die Rolle eines Juniorpartners oder vielleicht auch nur eines in alle Einzelheiten eingeweihten Mitarbeiters gespielt hatte.

Der Unterschied war letzten Endes ohnehin rein akademischer Art. Wenn Michail Sergejewitsch wirklich nur der Vollstrecker eines fremden Willens war, dann nicht des Willens eines Oligarchen, sondern jenes der arischen Götter, denn auf dem Weg über den Oligarchen und seine Mitarbeiter boten die Götter Tschugunow die Möglichkeit, ihren Willen zu erfüllen.

Auf dem Weg zum Büro wurde er sich plötzlich bewußt, daß er sich auf ein sehr gewagtes Spiel einließ. An und für sich jagte ihn dies nicht ins Bockshorn. In den vergangenen Jahren war er mehr als einmal am Rand des Abgrunds gewandelt, doch war er dabei stets nur Vollstrecker, Untergebener gewesen und hatte deshalb seine Ruhe bewahrt. Sein „gußeisernes“ Vertrauen in seine Führer hatte ihn furchtlos gemacht. Diesmal hatte ihm das Schicksal jedoch allem Anschein nach die Führungsrolle zugewiesen, und noch ehe er diese Bürde auf seine Schultern geladen hatte, fühlte er bereits ihr ganzes Gewicht. Was für eine Bürde eigentlich? Vorderhand gab es nichts weiter als Projekte und Vorschläge.

Das Büro seines potentiellen Partners, eines ehemaligen Oligarchen, der seine Milliarden in der Metallindustrie gemacht hatte, lag im Zentrum Moskaus. Der Oligarch hatte sein Geschäft in Rußland rechtzeitig verkauft und sein Kapital ins Ausland geschafft, ehe die große Jagd der Machthaber auf die Geschäftsleute begann. Doch zog es ihn unerklärlicherweise nach Rußland zurück. Um sich gebührend abzusichern, hatte er verschiedene Kampagnen in den Massenmedien finanziert, in denen die „Vereinigung von Geschäft und politischer Macht“ propagiert wurde. Nachdem er sich einmal auf dieses Spiel eingelassen hatte, spendete er verschiedenen Organisationen „imperialer Patrioten“ regelmäßig Geld für ihre politische Tätigkeit und Werbung. Nicht zuletzt dieser Tatsache hatte es der Oligarch zu verdanken, daß er auch nach der Liquidierung seiner Geschäfte in Rußland eine Art „Koordinationszentrum“ in Form seines Büros behalten durfte.

Tschugunow hielt die „imperialen Patrioten“ für Scharlatane reinsten Wassers. Jura Bulajew hatte ganz recht mit seiner Feststellung, diese „Patrioten“ seien lauter aufgeblasene Schwätzer, und seine Losung „Wir sind Nationalisten und keine Patrioten“ fand Tschugunows ungeteilten Beifall. Übrigens gedachte Pjotr diese Frage bei seiner Unterredung mit dem Oligarchen nicht aufs Tapet zu bringen, zumal diesem seit dem Beginn der „großen Treibjagd“ ohnehin die Augen aufgegangen waren. Mit einem Mann, der einen solchen Familiennamen trug, über russischen Nationalismus diskutieren zu wollen, wäre sowieso lächerlich gewesen.

Das Büro befand sich in einer netten, kleinen Villa, die einen recht verwahrlosten Eindruck machte, falls diese Bezeichnung überhaupt auf ein Gebäude im Zentrum Moskaus zutreffen kann. Doch schließlich ist alles relativ.

„Stumpf wurden die blitzenden Spieße, sie schrecken längst keinen mehr.“ Dieses Dichterwort ging Tschugunow durch den Kopf, als er die Villa vor sich sah, die allem Anschein nach schon bessere Zeiten gesehen hatte. Kurz entschlossen durchschritt er das Tor. Der melancholisch dreinblickende Posten verließ seine Wachstube.

„Ich bin Professor Tschugunow. Lew Borisowitsch erwartet mich.“

Ohne ihn nach seinen Dokumenten zu fragen, ließ der Posten Tschugunow in die Wohnung des ehemaligen Oligarchen.

„Sehr erfreut, Sie kennenzulernen, Pjotr Petrowitsch.“ Mit freundlichem Gesichtsausdruck erhob sich der Hausherr und kam Tschugunow entgegen.

„Ganz meinerseits, Lew Borisowitsch. Wir sind einander ja schon längst nicht mehr fremd.“

Pjotr hatte seinerzeit im Auftrag des Oligarchen einige Artikel verfaßt. Er merkte gleich, daß der ehemalige Metall-Zar Lust zu einer unverbindlichen Plauderei über Gott und die Welt verspürte. Obwohl er selbst keinerlei Bedürfnis nach einer solchen empfand, kam er nicht umhin, sich die weitschweifigen Ausführungen seines Gastgebers über aktuelle politische Fragen anzuhören, wobei er höflichkeitshalber gelegentlich eine Replik einflocht. Schließlich kam der Oligarch zur Sache.

„Mir scheint, unser Projekt zur Gründung eines wissenschaftlich-technischen Büros besitzt erhebliche gesellschaftliche Bedeutung“, sagte er.

„Mit Verlaub, ich möchte zunächst nicht den gesellschaftlichen, sondern den geschäftlichen Aspekt zur Sprache bringen. Schließlich ist die systematische Verwertung bisher ungenutzten russischen Know-hows ein Geschäft, und zwar ein außerordentlich lukratives. Gewiß, es erfordert gewisse Investitionen, aber diese sind in keiner Hinsicht mit jenen vergleichbar, die in der Produktion getätigt werden müssen. Zur Finanzierung unseres Projekts reicht eine um zwei Größenordnungen geringere Summe.“

„Wieviel?“ fragte der plötzlich nicht mehr zum Plaudern aufgelegte Oligarch schroff.

„Am besten berechnen wir das gemeinsam. Allerdings möchte ich jene Projekte, die sofort verwirklicht werden können, beiseite lassen. Ich denke hier an jene Beispiele, die ich in meinem Referat im Alexanderhaus erwähnt habe und die bei Michail Sergejewitsch auf so großes Interesse gestoßen sind.“

„Warum?“

„Weil sich meine Aufgabe in diesen Fällen darauf beschränken wird, Sie mit den betreffenden Personen in Verbindung zu setzen und diesen zu empfehlen. Letzteres ist unerläßlich, denn Forscher sind von Natur aus Skeptiker und vertrauen einzig und allein ihren bewährten Bekannten und Freunden.“

„Welche persönlichen Interessen verfolgen Sie in dieser Angelegenheit?“

„Formell keine. Doch erstens helfe ich meinen Freunden. Zweitens sorge ich dafür, daß gewisse besonders aussichtsreiche Projekte in beschleunigtem Tempo verwirklicht werden, was mich als Wissenschaftler naturgemäß schmeichelt. Drittens hoffe ich, im Falle eines Erfolgs von Ihnen Unterstützung für ein Projekt zur Suche nach Know-how ganz allgemein zu erhalten, und hier kommen ganz unleugbar meine persönlichen Interessen ins Spiel. Übrigens kann man für Geld nicht alles kaufen. Wenn Sie im Verlauf unserer Zusammenarbeit Ihr Interesse an dieser verlieren, werden auch meine Freunde nicht mehr gewillt sein, mit Ihnen zusammenzuarbeiten, selbst wenn dies für sie vorteilhaft wäre.“

„Schön und gut. Ihr Plan ist alles in allem logisch aufgebaut, und das schafft Vertrauen. Aber darf ich Sie fragen, warum Sie ihre Vereinigung ‚Verband der russischen Ingenieure’ und nicht ‚Verband der Ingenieure der Russischen Föderation’ nennen wollen?“

„Sie unterstützen also meine Idee, einen solchen Verband zu gründen?“

„Ja.“

„Dann will ich Ihre Frage beantworten. Die russische Föderation ist kein russischer Staat. Ganz im Gegenteil: Ich kann Ihnen fein säuberlich dokumentiert belegen, daß dieser Staat eine antirussische Politik betreibt. Deshalb stößt allein schon die Bezeichnung ‚Russische Föderation’ russischen Nationalisten sauer auf oder erweckt bei ihnen sogar Hassgefühle. Dies gilt namentlich für die jungen russischen Technokraten, die in ihrer übergroßen Mehrheit bewußt oder unbewußt Nationalisten sind.“

„Dann gestatten Sie mir die Frage, wie das Heimatland des russischen Volkes Ihrer Ansicht nach denn heißen sollte.“

„Ein passender Name wäre ‚Weißes Rußland’, aber es gibt ja schon ein Weißrußland. Eine treffliche Alternative ist ‚Das Lichte Russenland’.“

Dies war die Geburtsstunde des neuen Namens.

Es versteht sich von selbst, daß nationalistische Rhetorik bei einem jüdischen Oligarchen keine Begeisterungsstürme hervorzurufen vermag. Doch ist nicht auch die NSDAP von Juden mitfinanziert worden, und zwar in gar nicht geringem Umfang? Und das Projekt, das Tschugunow und sein Gastgeber erörterten, war zumindest formal überhaupt nicht politischer Art, so daß der Oligarch Pjotrs nationalistische Rhetorik als bloßes Reklamegetöse einstufte.

Andererseits empfand Lew Borisowitsch eine Mordswut auf die russischen Machthaber, die nicht daran dachten, sein Angebot und das seiner Kollegen und Gesinnungsgenossen zur Zusammenarbeit anzunehmen, sondern eine regelrechte Treibjagd auf sie entfachten. Zu deren Opfern zählten in erster Linie sozial aktive Oligarchen, unabhängig davon, welche Geschäfte sie betrieben. Man verwies sie grob und mit polizeistaatlicher Taktlosigkeit in die Schranken.

Wer diesen Wink mit dem Zaunpfahl nicht begriff, gegen den zog das Regime noch ganz andere Saiten auf. Damit trieben die Herren „Staatspatrioten“ freilich ein riskantes Spiel, denn ein bis zum äußersten gereizter Gegner, der nichts mehr zu verlieren hat, kann außerordentlich gefährlich werden. So dachte – oder fühlte – wohl auch Lew Borisowitsch, der sogleich begriff, daß der Verband russischer Ingenieure seine Aufgabe kaum in der intellektuellen Ausplünderung Rußlands sehen würde. Streng genommen war zwar genau dies Tschugunows Absicht. Aber ist es wirklich Plünderung, wenn man sich das, was man selbst geschaffen hat und was einem von Rechts wegen gehört, zurückholt? Diese Frage ist gewiß sehr interessant, doch Tschugunow hatte sie für seinen Teil bereits beantwortet und war nicht gewillt, mit Lew Borisowitsch darüber zu diskutieren.

Wie dem auch sei, der Oligarch hielt sein Wort. Das Projekt nahm greifbare Gestalt an, und ein wichtiger Bestandteil davon war die Finanzierung der apolitischen Organisation „Verein russischer Ingenieure“. Die restlichen Teile des Projekts interessierten Tschugunow nicht oder zumindest nur nebenbei; für ihn hatte die Gründung des Vereins absolute Priorität.

Was seine Beziehungen zu dem Oligarchen betraf, packte er den Stier sogleich bei den Hörnern und erhielt anfangs eine gewisse Summe für die Entrichtung der Schmiergelder, die erforderlich waren, um den Verein binnen kürzester Zeit offiziell registrieren zu können. Anschließend brachte er den Oligarchen dazu, dem Verein seine Villa langfristig zu vermieten. Lew Borisowitsch hatte anfangs vorgeschlagen, das Gebäude dem Verein ohne rechtliche Verpflichtungen für beide Seiten „zur Verfügung zu stellen“, aber Pjotr hatte auf den Abschluß eines ordnungsgemäßen Mietvertrags beharrt, und zwar nicht zuletzt darum, weil das Haus praktisch nicht benutzt wurde. Geschäftlichen Aktivitäten irgendwelcher Art huldigte der ehemalige Metall-Zar in Rußland längst nicht mehr, und auch als „Koordinationszentrum“ fand das Gebäude nur alle Jubeljahre Verwendung.

Natürlich hätte der Oligarch das Haus verkaufen oder an jemand anderen vermieten können, und dies hätte er wohl in naher Zukunft getan, wäre es Michail Sergejewitsch und Pjotr Petrowitsch nicht gelungen, ihn für ihre Pläne einzuspannen. In diesem Fall hätte er die Tätigkeit des Verbands jedoch finanzieren müssen, und dies wäre nur mit Bargeld gegangen. Hierzu verspürte der Oligarch offensichtlich keine Lust. Er wollte sich in diesem russischen Polizeistaat von niemandem mehr Scherereien einbrocken lassen, und die Vorstellung, hier aktiv zu werden, ohne dabei in Erscheinung zu treten, tat es ihm ungemein an.

So wurde Tschugunow zugleich Gründer und Vorsitzender des Verbandes russischer Ingenieure. Einige Räume der ihm zur Verfügung gestellten Villa vermietete er, und mit den Einnahmen finanzierte er die Tätigkeit seines Verbandes. Diesem widmete er sich vom ersten Tag an mit Feuereifer, wobei er alte Verbindungen zu Ingenieuren und Wissenschaftlern erneuerte und parallel dazu neue Beziehungen anknüpfte. Besonders eifrig warb er um Studenten der technischen Fakultäten in den letzten Semestern – natürlich unter der Voraussetzung, daß diese gewisse weltanschauliche Kriterien erfüllten.

Da er alle Hände voll zu tun hatte, bot sich ihm keine Gelegenheit, Moskau zu verlasen. Nur ab und zu sandte er Lena ein SMS, und noch seltener rief er sie an. Doch sie schien seiner Schweigsamkeit keine Bedeutung beizumessen und versicherte ihn in ihren Botschaften immer wieder ihrer Liebe.

„Du hast in mir eine Frau entdeckt, die fähig ist zu lieben, mit dir zu verschmelzen und bei der kleinsten Berührung durch dich in Extase zu geraten.“

„Ich fühle die Wärme deiner Hände am ganzen Körper, wie damals, als wir das erste Mal im Bad waren und deine unartigen Fingerchen mich liebkosten.“

„Das Feenmädchen hat sich in dich verliebt und weiß nicht mehr, wo ihm der Kopf steht. Werde aber deswegen nicht zu hochnäsig. Ich habe das große Los gewonnen – dich. Ich werde nie aufhören, den klügsten, liebsten und begehrenswertesten Mann der Welt zu bezwingen und zu bezaubern.“

Bei jeder solchen Mitteilung jubelte seine Seele. Seine Energie kannte keine Grenzen, und die Glücksgöttin lächelte ihm freundlich zu. Die Nachricht von der Übersetzung seiner Bücher im Ausland versetzte Verleger und Buchhändler in sprachloses Erstaunen. Die Restauflagen seiner früheren Bücher gingen plötzlich weg wie heiße Semmeln, und man schlug ihm vor, eine Reihe davon neu aufzulegen. Inzwischen galt er nicht mehr als erfolgloser Vielschreiber, sondern als international respektierter Schriftsteller und Gelehrter, als gesellschaftlich anerkannte Gestalt, als Vorsitzender des rasch wachsenden Verbands russischer Ingenieure.

Nun war es an der Zeit für den nächsten Schritt.

Der Abend graute. Tschugunow und Siegfried saßen im Kabinett des Vorsitzenden des Verbands russischer Ingenieure. Siegfried gehörte mittlerweile dem Stab des Verbandes an und war für die Bewachung des Büros zuständig. Tschugunow hatte die notwendigen Mittel aufgebracht, um für seinen Freund und Kupferstecher eine Wohnung in Moskau zu mieten. Sie standen einander jetzt näher denn je zuvor und ergänzten einander trefflich. In bezug auf Fachwissen vermochte Siegfried seinem Kameraden freilich nicht das Wasser zu reichen, doch seine Lebenserfahrung interessierte Pjotr ungemein.

An diesem Abend saßen sie nach einem harten Arbeitstag schweigend bei einer Tasse heißem Tee. Aus dem benachbarten Gästezimmer ertönte die Stimme der Radiomoderatorin. „Sind Sie bereit zum Superspiel?“ fragte sie einen Hörer, der nun entscheiden mußte, ob er sich mit dem bereits gewonnenen Betrag zufrieden geben oder auf die nächste Frage antworten wollte, wobei er entweder alles verlieren oder eine um das Doppelte höhere Summe gewinnen konnte.

Siegfried erwachte aus seinem Halbschlaf. „Und wir, Professor? Sind wir

zum Superspiel bereit?“ fragte er.

Tschugunow schaltete den Ton mit der Fernsteuerung aus. „Interessante Frage. Was verstehst du denn unter einem Superspiel?“

„Eine nationale Revolution zur Befreiung des russischen Volkes.“

„Dann lautet meine Antwort eindeutig nein.“

Siegfried machte eine ungeduldige Gebärde.

„Immer mit der Ruhe, Freund“, mahnte Pjotr. „Haben wir in diesen vier Monaten denn wirklich schon so viel erreicht?“

„Was erreicht wurde, ist dir persönlich zu verdanken, Petrowitsch.“

Tschugunow warf zum Zeichen des Protests den Kopf hoch, doch Siegfried kam seinem Einwand zuvor und fügte hinzu:

„Du hast ja praktisch nichts für dich persönlich gebraucht und dafür vielen anderen geholfen, nicht zuletzt auch mir. Noch wichtiger ist jedoch, daß du politisches Kapital angehäuft hast; du bist jetzt eine...“

„Eine gesellschaftlich wichtige Figur“, half ihm der Professor.

„So ist es“, bekräftigte Siegfried. „Mittlerweile ist es aber an der Zeit, dieses politische Kapital zu nutzen. Du verstehst sicher auch, daß wir auf dem bisherigen Wege an die Grenzen unserer Möglichkeiten gestoßen sind. Wir haben auf der gesellschaftlichen Pyramide eine bestimmte Stufe erklommen und müssen jetzt entscheiden, ob wir auf dieser Stufe verharren und uns die Taschen mit Geld vollstopfen wollen oder...“

„...oder ob weitergehen wollen.“

„Genau so verhält es sich. Du willst ja deine Ideen verwirklichen und diese verrottete Russische Föderation in ein lichtes Russenland verwandeln.“ 

„Ja, das will ich, mein Freund. Doch bis zur Revolution ist es noch ein weiter Weg.“

„Wieso eigentlich? Im Volk gärt es doch schon seit fast einem Jahr gewaltig. Demnächst werden die Studenten rebellieren, als Reaktion darauf, daß der Kreml seit ungefähr einem halben Jahr darauf hinarbeitet, die Verordnung über die zeitweilige Freistellung der Studenten vom Militärdienst abzuschaffen. Am entscheidendsten ist aber, daß die Machthaber eine erneute Abänderung des politischen Systems planen. Du hast ja selbst gesagt, daß komplexe Strukturen zusammenbrechen, wenn sie versuchen, sich zu reformieren...“

„In vielem hast du recht. Übrigens solltest du die gebührenpflichtigen Kurse an der Management Akademie besuchen. Dort würdest du eine ganze Menge über das spezifische Verhalten komplexer Systeme lernen...“

„Das würde ich nur allzu gerne, aber schweifen wir nicht vom Thema ab.“

„Gut, bleiben wir bei dem von dir vorgeschlagenen Thema. Ich wiederhole, daß du in vielen Punkten recht hast und daß wir schon bald in die letzte Runde einbiegen werden. Auf der Zielgeraden sind wir aber noch nicht. Beachte den Unterschied!“

„Ich verstehe dich ungefähr, aber nicht ganz.“

„Wir müssen jetzt eine Idee unters Volk bringen, welche die Massen in Wallung versetzen wird.“

„Das ist gar nicht mehr nötig. Die Stimmung im Volk ist schon heute explosiv.“

„Man darf nichts übereilen. Unser Verband hat unter anderem den Vorteil, daß er eine recht weitverzweigte Struktur aufweist. Wir brauchen aber eine Organisation mit noch weit größerer Breitenwirkung, mit noch viel mehr Mitgliedern und einem wesentlich höheren Grad an Ideologisierung.“

„Eine heidnische Religionsgemeinschaft?“

„Du hast ins Schwarze getroffen. Diese Religionsgemeinschaft darf aber keinen operettenhaften, sondern muß einen kämpferischen Charakter tragen, und ihre Mitglieder müssen Kämpfer sein, keine Waschlappen. Zur Verwirklichung dieses Projekts besitzen wir mittlerweile alle Voraussetzungen: Geld, ein organisatorisches Netz sowie eine ideologische Grundlage in Gestalt meiner Bücher.“

„Na gut, wir gründen also eine heidnische Sekte oder Kirche oder wie man das immer nennen will. Wenn diese aber ‚kämpferisch’ sein soll, muß sie auch zum Kampf bereit sein.“

„Genau. Wir brauchen sie sowohl für ideologische Kämpfe als auch zur Lösung von Kaderfragen.“

„Also wieder nur eine Vorbereitung auf eine Vorbereitung?“

„Mitnichten, Freundchen. Erinnerst du dich daran, worüber du bei mir zu Hause gesprochen hast, als wir uns letztes Jahr nach den Wahlen etwas Entspannung gönnten?“

„Natürlich.“

„Und nun ist der Zeitpunkt gekommen, um dieses Projekt in Angriff zu nehmen. Aber noch nicht sofort. Solcherlei Dinge muß man gründlich vorbereiten und die Anwendung von Mitteln in Betracht ziehen, mit denen der Gegner nicht rechnet.“

„Zum Beispiel?“

„Eine Luftwaffe.“

„Jetzt trägst du aber dick auf, Petrowitsch!“

„Ich sage dies in vollem Bewußtsein meiner Verantwortung. Es gibt freilich noch allerlei Fragen zu klären, und dies erfordert ein rundes halbes Jahr. Nicht alle, aber sehr viele dieser Fragen fallen in deinen Kompetenzbereich. Rekrutiere über deine Kanäle zuverlässige Kerle, und dann beginnen wir mit ihrer Ausbildung.“

„Wo?“

„Erinnerst du dich, daß Jura damals von Stützpunkten und Lagern gesprochen hat, die die perfekt gegen alle Geheimdienste abgeschirmt sein müssen?“

„So ungefähr erinnere ich mich. Aber wie sollen wir solche Stützpunkte und Lager so einfach aus dem Boden stampfen?“

„Wir haben jetzt Geld. Zwar noch keine Riesensummen, das gebe ich zu, doch um eine Fliegerstaffel auszubilden – nicht von Null an wohlverstanden – können wir die erforderlichen Mittel durchaus zusammenkratzen. Wir brauchen also eine Anzahl zuverlässiger und körperlich gesunder Burschen, die nach vier bis sechs Monaten intensiven Trainings eine solche Fliegerstaffel bilden können.“

„Und wo soll dieses Training stattfinden?“

„Ist dir noch erinnerlich, daß Jura oft von seinen ukrainischen Freunden aus der UNA-UNSO gesprochen hat?“

„Gewiß.“

„Das Training kann auf den Stützpunkten dieser Organisation stattfinden. Sie gehört glücklicherweise heute dem regierenden Block an, und ihre Basen werden sowohl durch ihren parteiinternen Geheimdienst als auch durch den staatlichen Geheimdienst der Ukraine vor neugierigen Augen geschützt, dazu vermutlich noch zusätzlich durch die künftigen Verbündeten der Ukraine.“

„Ist diese Frage also bereits entschieden?“

„Die Frage nach dem NATO-Beitritt der Ukraine?“

„Nein, die nach der Ausbildung unserer Kämpfer auf den Stützpunkten unserer ukrainischen Kollegen.“

„Hast du etwa vergessen, daß das wissenschaftlich-technische Büro, mit dem unser Verband zusammenarbeitet, seinen Sitz in der Ukraine hat? Erst vor kurzem war ich mit Jura dort.“

„Alles klar.“

„Dann weg mit den Tassen und her mit den Gläsern!“

Er nahm aus der Bar eine Flasche Krimsekt und entkorkte sie.

„Auf den Erfolg!“ Tschugunow hob das Glas.

„Auf den Erfolg! Gott mit uns!“ donnerte Siegfried, und dann klirrten die Gläser.

Kapitel 11. Erinnerungen an die Zukunft

„Wie beurteilen Sie die letzten Schritte der ‚nicht allzu üblen Kerle’ in Rußland, Henry?“

Die beiden uns bereits bekannten Gentlemen marschierten auf einem Pfad, der sich durch eine reizvolle Heide schlängelte. Sanft abfallende Hügel verdeckten bisweilen den Blick auf das nahe Meer, aber nun erschien dieses hinter einer Wegkrümmung wieder, unruhig wie oft im Frühling, doch deswegen nicht minder malerisch. Ein Windstoß führte den beiden Spaziergängern die in der Luft hängende salzige Feuchtigkeit zu.

„Eine herrliche Aussicht, finden Sie nicht auch?“ sagte Henry, als habe er die an ihn gerichtete Frage nicht gehört.

„Ja, sicherlich, aber Sie haben meine Frage nicht beantwortet.

„Die Antwort darauf fällt mir nicht ganz leicht, Sir. Gewiß, die russische Führung legt sich im postsowjetischen Raum zunehmend weniger Zurückhaltung auf, aber im großen ganzen haben sich der russische und der amerikanische Präsident bei ihrem Treffen in Bratislava schließlich geeinigt. Und diese bahnbrechenden Vereinbarungen sind unvergleichlich wichtiger als ein paar rein lokale Intrigen.“

„Da irren Sie sich gründlich, Henry. Der Teufel steckt bekanntlich im Detail. Ganz abgesehen davon: Was bringen uns diese angeblich bahnbrechenden Vereinbarungen? Überhaupt nichts Neues. Stellen Sie sich vor, welche Konsequenzen ein Scheitern der Verhandlungen gehabt hätte! Selbst dem hintersten Gimpel wäre dann klar geworden, daß die ‚nicht allzu üblen Kerle’ mittlerweile zu ‚ganz üblen Burschen’ geworden sind. Doch mit dem Erfolg der Verhandlungen haben sie scheinbar unter Beweis gestellt, daß sie tatsächlich nicht ‚allzu übel’ sind, auch wenn ihr Vorgehen im postsowjetischen Raum das Gegenteil erkennen läßt.“

„Vermutlich haben Sie recht, Sir, aber Sie begreifen sicher, daß es nicht leicht sein wird, unsere Kreise von der Richtigkeit Ihrer Ansichten zu überzeugen.“

„Daß ich recht habe, läßt sich an sich leicht beweisen, doch dies heißt in der Tat noch nicht, daß man meine Beweise anerkennen wird. Man müßte daraus nämlich ganz bestimmte Konsequenzen ziehen und dementsprechend gewisse Schritte ergreifen, die durchaus nicht risikofrei sind. Und dagegen empfinden viele eine instinktive Abneigung.“

„Halten Sie solche Schritte für unkonstruktiv?“

„Extreme Maßnahmen sind stets unkonstruktiv. Man muß nur Maß halten, und dann wird alles konstruktiv; in diesem Fall ist auch ein gewisses Risiko gerechtfertigt. Jedes Risiko zu scheuen, ist meines Erachtens pure Trägheit, und wie verhängnisvoll diese ist, haben wir ja schon mehr als einmal am eigenen Leib erfahren müssen.“

„Wann beispielsweise?“

„Beispielsweise während des Ersten Weltkriegs. Für das Zarenregime standen die Zeichen damals auf Sturm. Was waren die Alternativen? Realistisch gesehen gab es nur eine: Die Sozialisten. Die Monarchie war dem Untergang geweiht, und es ging im Grunde genommen bloß noch darum, wer nach ihrem Sturz die Macht übernehmen würde. Und was haben wir in dieser Lage getan? Wir haben weiterhin eifrig unsere Ränke am Zarenhof gesponnen und es unterlassen, Kontakte zu den Sozialisten zu knüpfen, denen das Schicksal selbst die Herrschaft über Rußland überantwortet hatte.“

„Mir scheint, Sie übertreiben, Sir.“

„Mag sein, aber nur wenig. Tatsache ist, daß wir nur halbherzig versucht haben, mit den Sozialisten zusammenzuarbeiten, und auch dies lediglich mit denen, die uns genehm waren. Wir verhielten uns wie ein Mensch, der eine Münze verloren hat und sie nicht dort sucht, wo sie ihm aus der Tasche geglitten ist, sondern dort, wo es hell ist. Dabei hätten wir Kontakte zu ausnahmslos allen Seiten herstellen müssen, und zwar schon frühzeitig, nicht erst, als gewisse sozialistische Gruppierungen bereits nach der Macht griffen, sondern schon dann, als sie sich darauf vorbereiteten.“

„Sie schließen selbst die Bolschewiken nicht aus?“

„Wodurch unterschieden sich die Bolschewiken denn von den anderen? Einzig und allein durch ihre größere Entschlossenheit und ihre größere Prinzipienlosigkeit. Aber sind diese Eigenschaften in der Politik wirklich eine so arge Sünde?“

„Unser Gespräch nimmt eine hochinteressante Wendung. Meiner Meinung nach ergehen wir uns zwar in gewagten Spekulationen, aber mir macht diese improvisierte Debatte wirklich Spaß. Sind Sie also der Auffassung, wir hätten durch eine Zusammenarbeit mit den Bolschewiken den Lauf der Geschichte ändern und den Ausbruch der Revolution verhindern können?“

„Warum hätten wir dies tun sollen? Für uns ging es einzig und allein darum, ein Ausscheiden Rußlands aus dem Krieg zu verhindern, und für die Bolschewiken war das Versprechen, den Krieg zu beenden, lediglich eine von mehreren Trumpfkarten in ihrem Propagandaarsenal. Schließlich waren sie 1918 selbst drauf und dran, den Kampf gegen Deutschland wiederaufzunehmen. Hätten wir vorbehaltlos mit den Bolschewiken zusammengearbeitet, so wäre die Revolution in Rußland meiner Überzeugung nach eine bloße Episode geblieben und nicht zu einem Schlüsselereignis des 20. Jahrhunderts geworden.

Übrigens, finden Sie nicht auch, Henry, daß unsere ‚gewagten Spekulationen’, um Ihren Ausdruck aufzugreifen, eng mit hochaktuellen Gegenwartsproblemen zusammenhängen?“

„Somit sind wir wieder beim eigentlichen Thema unseres Gesprächs angelangt, Sir.“

„Das liegt in der Natur der Dinge. Diese zwingt uns, gewissen Realitäten ins Antlitz zu blicken und gewisse Entschlüsse zu fällen. Wissen Sie, mir scheint, daß viele unserer Mitarbeiter in letzter Zeit zu wenig professionell arbeiten. Die Existenz des Monstrums UdSSR hat uns diszipliniert und gezwungen, nach unkonventionellen Lösungen zu suchen. Aber heute, zu einem Zeitpunkt, wo China den durch den Zerfall der Sowjetunion freigewordenen Platz in der Weltpolitik noch nicht vollumfänglich eingenommen hat...“

„... allem Anschein nach legen die Chinesen dabei selbst keine übertriebene Eile an den Tag...“

„Da haben Sie absolut recht! Und weil sie das von den Sowjets hinterlassene Vakuum noch nicht ausgefüllt haben, lassen es manche Leute in unserem Lager seit einiger Zeit an der gebotenen Wachsamkeit fehlen.“

„Worin äußert sich dies?“

„Beispielsweise darin, daß viele Arbeiten im postsowjetischen Raum gar nicht oder nur nachlässig verrichtet werden.“

„Da urteilen Sie wohl zu streng, Sir. Sind die orangenroten Revolutionen denn kein Beispiel erfolgreicher und wohldurchdachter Arbeit?“

„Ganz ohne Frage, Henry, und über Sieger sitzt man nicht zu Gericht. Doch wenn Rußland durchdacht und entschlossen handelt, ist es sehr wohl möglich, daß die Entwicklung in den betreffenden Staaten für uns nachträglich noch zum Fiasko wird.“

„Sie rechnen also mit der Möglichkeit, daß diese Revolutionen scheitern?“

„Ja und nein. Stellen Sie sich einmal vor, was passiert, wenn Georgien und die Ukraine als Ergebnis – ich wiederhole, als Ergebnis – dieser Revolutionen auseinanderfallen! Diese Gefahr ist leider sehr real. Was wären die Folgen? Es entstünden neue, durch und durch prorussische Staaten! Die bisher siegreichen orangenroten Revolutionäre ständen unversehens als Verlierer da. Eine solche Entwicklung als ‚illegal’ zu brandmarken, brächte uns gar nichts ein; schließlich ist die Legitimität einer jeden Revolution ohnehin zweifelhaft.

Was für eine Politik würden die neuen Staaten betreiben? Sie würden mit Sicherheit den Zusammenschluß mit Rußland anstreben. Abchasien drängt ja schon seit langem auf einen solchen Schritt. Können Sie sich die Folgen ausmalen? Die halbe Ukraine, Abchasien, Adscharien und Nordossetien schieden aus den Staaten, wo die orangenroten Revolutionäre illegitim die Macht ergriffen haben, aus und entschlössen sich in voller Übereinstimmung mit dem internationalen Recht für den Anschluß an Rußland.“

„Vergessen Sie Transnistrien nicht. Wenn sich auch dieses an Rußland anschlösse, würde Rußland durch die Südukraine – oder Neurußland, wie die Russen dieses Gebiet nennen – eine gemeinsame Grenze mit ihm errichten.“

„Der Ausdruck ‚Neurußland’ ist übrigens völlig gerechtfertigt, Henry. Dies wäre aber noch längst nicht alles. In der von uns skizzierten Situation verlöre der weißrussische Präsident seine Bewegungsfreiheit. Er stünde dann vor der Wahl, entweder selbst das orangenrote Banner zu schwenken...“

„Ist das denn denkbar?“

„Theoretisch ja. Genau dies hat schließlich der moldauische Präsident, ebenfalls ein ehemaliger Kommunist, getan. Allerdings glaube ich, daß eine solche Wendung um 180 Grad für Lukaschenko allzu halsbrecherisch wäre. Sehr viel wahrscheinlicher ist es, daß er sich unter den genannten Umständen mit dem Verlust der Unabhängigkeit seines Landes abfinden und dem Anschluß an Rußland zustimmen würde.

Wiederum: Können Sie sich die Konsequenzen ausmalen? Die Weichen würden hierdurch in Richtung Wiederherstellung der UdSSR gestellt. Der ‚nicht allzu üble“ Mann, der heute in Rußland das Zepter schwingt, würde sich im Siegesrausch wie ein ‚ganz übler Bursche’ benehmen. Der nächste Schritt wäre dann eine formelle Allianz mit China, als deren Folge Kasachstan zwischen Rußland und China aufgeteilt würde. Infolge dieser Entwicklung gewänne Rußland 60% des von der Sowjetunion verlorenen Territoriums zurück, 80% des verlorenen industriellen Potentials und 90% der russischen Bevölkerung, die heute außerhalb des russischen Territoriums lebt. Dazu kommt“ – bei diesen Worten hob er schulmeisterhaft seinen altmodischen Spazierstock -, „daß Rußland ungeachtet des nur teilweisen Rückgewinns der von der UdSSR verlorenen Gebiete stärker wäre als letztere. Seine Bevölkerung wäre nämlich ethnisch weitgehend homogen, energisch und frei von ideologischen Vorurteilen; sie würde durch die Feindschaft gegen den Westen zusammengeschweißt und würde ein enges Bündnis mit China abschließen. Und nicht genug damit: Die Achse Moskau-Peking könnte womöglich noch zu einer Achse Moskau-Peking-Delhi erweitert werden.“

„Dies wäre aus einer ganzen Reihe von Gründen schwierig.“

„Nein Henry, schwierig ist es nur unter den gegenwärtigen Umständen, unter denen sich sowohl Moskau als auch Peking großer Zurückhaltung befleißigen müssen. Unter den von uns skizzierten Bedingungen wären beide Staaten weit stärker, energischer und aggressiver als heutzutage und wären ohne weiteres in der Lage, sich mit den Moslems zu verständigen, obgleich keines der beiden Länder besondere Sympathie für diese empfindet, um es gelinde auszudrücken.“

„Das von Ihnen geschilderte Szenarium würde das Ende des Westens einläuten – und zugleich das Ende der islamischen Welt, die dann keine Gefahr für die Zivilisation mehr darstellen würde und deren Terrorismus dann nur noch eine Art Scherzartikel wäre.“

„Stimmt haargenau, Henry. Aber lassen wir die islamische Welt im Moment beiseite; ungleich wichtiger ist schließlich folgende Frage: Wie können wir unseren Untergang verhindern, den die von uns selbst inszenierten orangenroten Revolutionen einläuten könnten?

„Sir, ich bin angesichts des Abgrunds, der sich da vor uns auftut, dermaßen erschüttert, daß ich im Moment nicht auf diese Frage antworten kann.“

„Dann helfe ich Ihnen. Unseren Untergang verhindern lediglich die Inkompetenz, Phantasielosigkeit und Doppelzüngigkeit der gegenwärtigen russischen Führung, also Dinge, auf die wir nicht den geringsten – ich wiederhole, nicht den geringsten – Einfluß haben. Würden die russischen Imperialisten eine teilweise Wiederherstellung der Sowjetunion anstreben, so hätten sie zwangsläufig alles daran gesetzt, die eben von uns skizzierten Szenarien zu verwirklichen. Aber nein, sie lavieren ständig zwischen der Loyalität gegen dem internationalen Recht, das sich unter den heutigen Bedingungen nicht zu ihren Gunsten auswirkt, und dem wirklichkeitsfremden Wunsch nach einer vollumfänglichen Wiederherstellung der UdSSR. Genau dies ist der Grund dafür, daß Rußland die Chance, nach den orangenroten Revolutionen den Zerfall Georgiens und der Ukraine herbeizuführen, ungenutzt verstreichen ließ und sich statt dessen mit der verbalen Unterstützung abgehalfterter prorussischer Politiker begnügte. Darum gelten die russischen Machthaber uns als ‚nicht allzu üble Kerle’. Doch die orangenroten Revolutionen sowie die Drohung einer solchen Revolution in Rußland selbst werden fast zwangsläufig dafür sorgen, daß sich die ‚nicht allzu üblen Kerle’ schon bald zu ‚ganz, ganz üblen Burschen’ wandeln oder aber abserviert und durch solche ersetzt werden.“

„Wissen Sie, Sir, die Chancen, welche die russischen Machthaber verpaßt haben, werden nicht mehr wiederkehren. Der Zug ist abgefahren.“

„Lieber Henry, ein Zug ist abgefahren, aber dies war nicht der letzte. Sie fragen, wann der nächste fährt? Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht, aber daß es einen nächsten geben wird, weiß ich mit Sicherheit. Die Entwicklung, welche Rußland die nächste Chance zur zumindest teilweisen Wiederherstellung der Sowjetunion bieten wird, braucht übrigens nicht unbedingt politischer Natur zu sein. Es kann sich beispielsweise auch um eine Naturkatastrophe von globalem Ausmaß handeln, welche das wirtschaftliche Potential verschiedener Staaten grundlegend verändert, oder um eine technologische Revolution, oder um eine Weltwirtschaftskrise, oder auch um neue Ideen. In diesem Zusammenhang möchte ich Sie übrigens auf eine sehr merkwürdige Tatsache aufmerksam machen.“

„Wenn diese Tatsache nur merkwürdig ist, dann können Sie losschießen. Ehrlich gesagt jagen mir Ihre apokalyptischen Szenarien eine solche Heidenangst ein, daß ich keine Lust mehr verspüre, mir noch mehr davon anhören zu müssen. Im Vergleich zu Ihnen ist Hitchcock ja geradezu ein Waisenknabe!“

„Na gut, Henry“, lächelte der ältere der beiden, „wenn Sie schon von Hitchcock sprechen, möchte ich Sie daran erinnern, daß seine Horrorszenarien stets mit harmlosen Episoden zu beginnen pflegen. Wir sprachen also von neuen Ideen. Sehen Sie, früher pflegten die hierfür zuständigen Abteilungen unseres Geheimdienstes die Literatur der Sowjetunion eingehend zu analysieren. Heutzutage tun unsere Rußland-Experten dies entweder gar nicht oder nur sehr nachlässig. Dabei ist die Literatur heutzutage womöglich noch wichtiger als zur Zeit des Totalitarismus.“

Henry zog verwundert die Augenbrauen hoch. Noch ehe er dazu kam, eine Frage zu stellen, kam ihm sein älterer Gesprächspartner zuvor:

„Jawohl, Henry, genau so ist es. Damals war die Literatur nichts weiter als eine – häufig uninteressante und unwichtige - Zugabe zur Propaganda und somit zur Politik. Doch heutzutage sondiert man den mir vorliegenden Informationen zufolge mittels einiger literarischer Projekte die öffentliche Meinung und bereitet dementsprechend gewisse politische Veränderungen vor. Soll ich Ihnen das anhand eines Beispiels veranschaulichen?“

„Ja bitte, Sir!“

„Gut. Unlängst erschien in Rußland ein Roman von Danilo Korezki mit dem Titel Der Atomzug. Die erste Auflage betrug hunderttausend Exemplare. Der Verfasser singt in diesem Buch ein Loblied auf die Wiedergeburt der russischen Nuklearmacht, und zwar in einer Form, auf die der Kreml vorläufig noch verzichtet.“

„Dieses Thema ist bestimmt sehr wichtig, aber die Idee ist durchaus nicht neu. Zudem glaube ich, daß die russische Regierung nicht auf die Ratschläge des Herrn Oberst Korezki angewiesen ist, um dementsprechende Entschlüsse zu fassen.“

„Ich sehe, daß Sie Ihr intellektuelles Format nicht verloren haben, Henry“, kommentierte der ältere Mann Henrys Hinweis auf den Oberst. Henry lächelte selbstzufrieden.

„Aber ich werde es trotzdem schaffen, Sie in Erstaunen zu versetzen. Wollen wir wetten?“

„Gerne, Sir. Der Verlierer bezahlt dem Sieger in dem Gasthaus, das eine halbe Meile vor uns liegt, das Mittagessen.“

„Abgemacht. Bleiben wir also bei den neuen Ideen. Ideen, welche Rußland und die Welt erschüttern können. Was ist Ihrer Ansicht nach die stärkste ideelle Waffe?“

Henry überlegte einen Augenblick. „Eine neue Religion.“

„Bravo, Henry, Sie haben ins Schwarze getroffen. Eine neue Religion. Die Chancen, die eine solche beim Volk hätte, werden gegenwärtig mittels der Romanserie eines gewissen Alexander Sergejews mit dem Titel Die Schätze der Himmelsjungfrau sondiert, in denen Reklame für das Heidentum gemacht wird.“

„Was Sie da sagen, erstaunt mich nicht, Sir. Aber im heutigen Rußland hat so etwas nicht den Hauch einer Chance. Der Kreml sowie jene Leute, die Sie als ‚ganz üble Burschen’ zu betiteln pflegen, setzen schließlich auf die Orthodoxie. Ohne diese kracht nämlich ihre ganze Ideologie zusammen. Unter diesen Umständen ist dieser Sergejew nicht mehr als eine Randfigur. Das Mittagessen geht auf Ihre Rechnung.“

„Randfiguren gestattet man nicht, ihre Bücher in hunderttausendfacher Auflage zu verkaufen, und deren Druck wird nicht vom russischen Militärgeheimdienst finanziert!“

Henrys Verblüffung war ungeheuchelt.

„Ich gebe mich geschlagen, Sir. Das bedeutet aber, daß in Rußland nicht nur eine orangenrote Revolution und eine imperiale Konterrevolution vorbereitet werden, sondern daß sich noch andere Dinge zusammenbrauen, und zwar solche, die für uns vollkommen unvorhergesehen kommen. Und das Unvorhergesehene...“

„... ist schlimmer als eine offene Drohung“, ergänzte der andere. Er dachte einen Augenblick nach und fuhr dann fort:

„Nicht, daß sich die russische Führung durch eine besondere Originalität ihres Denkens auszeichnen würde. Das Sergejew-Projekt ist tot und begraben. Auch haben Sie völlig recht damit, daß sowohl die ‚nicht ganz so üblen Kerle’ als auch die ‚ganz üblen Burschen’ ideologisch voll und ganz auf die Orthodoxie setzen – was ein weiteres Mal beweist, wie beschränkt, archaisch und ärmlich ihr Denken ist... Zu unserem Glück“, fügte er hinzu und lächelte plötzlich vergnügt:

„Aber was diese Herren versäumen, werden jene Leute, die wir als Idealisten bezeichnen, nicht verpassen. Meinen Informationen nach – die Einzelheiten kenne ich zugegebenermaßen nicht – bereiten sie sich nämlich im Moment aktiv auf die Gründung einer neuheidnischen Religionsgemeinschaft in Rußland vor.“

„Wissen Sie, Sir“ – Henrys Blick wurde hart -, „ich habe lange an der Richtigkeit mancher Ihrer Schlußfolgerungen gezweifelt...“

„Ich weiß“, lächelte der Ältere vieldeutig, aber Henry fuhr fort:

„Doch nach unserem heutigen Gespräch werden Sie keinen treueren und entschlosseneren Verbündeten haben als mich. Ich bin überzeugt, daß man im Interesse der Weltzivilisation ein für alle Male sowohl mit den ‚nicht allzu üblen Kerlen’ als auch mit deren ‚ganz üblen’ Kollegen aufräumen muß. Soweit ich verstanden habe, ist dies jedoch nur dann möglich, wenn wir in Rußland selbst über hundertprozentig überzeugte, ja fanatische Bundesgenossen verfügen. Die von uns hochgepäppelten Liberalen eignen sich in keiner Hinsicht für diese Rolle. Darum müssen wir schleunigst nach neuen Verbündeten Ausschau halten. Ihren Worten nach zu schließen ist dies bestimmt nicht leicht, aber ein Kennzeichen der Leute, die wir brauchen, wird ihr Bekenntnis zum Neuheidentum sein.“

„Und zwar zu einem echten Neuheidentum.“

„Ich verstehe Sie, Sir. Unsere Aufgabe besteht darin, echte Anhänger der alten Götter ausfindig zu machen und diesen dann zu helfen. Gewiß, sie werden unbequeme Bundesgenossen sein. Unbequeme, aber verläßliche, und genau solche brauchen wir jetzt.“

Im Gegensatz zu seiner sonstigen Gewohnheit legte sich Henry bei seinen Ausführungen keine Zurückhaltung auf und verzichtete auf jede Ironie. Der ältere Mann lächelte zufrieden. Um die Gefühle seines Gesprächspartners nicht unnötig noch mehr in Wallung zu bringen, sagte er in beiläufigem Ton, doch voller Wärme:

„Da ist ja schon unser Gasthaus, Henry. Hoffentlich kriegen wir hier ein anständiges Gericht aus der Hausküche. Nach einem solchen Spaziergang und solchen gedanklichen Abenteuern muß man sich schließlich ordentlich stärken.“

„Es macht ganz den Anschein, als hätten deine Sprößlinge endlich angefangen zu begreifen“, sagte Thor zu Swarog.

„Nicht alle, und auch sie begreifen vorderhand erst einen Teil“, brummte Thor selbstkritisch. „Es wäre aber mehr als betrüblich, wenn die Nachfahren von Robert Bruce und Graf Saint-Claire solch elementare Dinge nicht kapieren würden.“ An welche Nachfahren er dachte, verriet Swarog nicht.

Kapitel 12. Gott mit uns!

In einer kalten Novembernacht schritt er durch die Strassen der Moskauer Vorstadt Mytischtschi. Der Wind peitschte sein Gesicht und fegte ihm eine Handvoll nassen Schnee hinter den Kragen. Bei einem solchen Wetter wäre er bedeutend lieber zu Hause gewesen als auf der Strasse, aber es stand ihm nicht frei zu wählen. Ein Offizier des Geheimdienstes FSB hat schließlich keinen geregelten Arbeitstag. Deshalb mußte er oft mit dem allerletzten Regionalzug aus Moskau nach Hause zurückkehren.

Im Frühling und im Sommer waren solche unfreiwilligen späten Spaziergänge vom Bahnhof bis zu seinem Haus manchmal sogar angenehm. Doch in dieser klirrend kalten, für den Spätherbst in der Umgebung von Moskau so typischen Nacht waren sie schlicht und einfach eine Zumutung.

Er hatte vor noch gar nicht langer Zeit die FSB-Akademie abgeschlossen, war stolz auf seinen Beruf und fühlte sich in jeder beliebigen Situation als Herr der Lage. Freilich hätte bei diesem Hundewetter und in seiner Heimatstadt Mytischtschi nichts dagegen gehabt, eine Waffe zu tragen. Wenn ihm solche Gedanken durch den Kopf gingen, ärgerte es ihn jedesmal, daß Polizisten sogar Maschinenpistolen mit nach Hause nehmen durften, während FSB-Offiziere ohne Sondergenehmigung nicht einmal das Recht besaßen, eine Pistole zu tragen.

Und wann wurden solche Sondergenehmigungen erteilt? Ganz richtig: Wenn irgendwelche Schweinehunde wieder einmal zu dritt oder zu viert einen seiner Kollegen auf dem Heimweg überfallen und halbtot geprügelt hatten. Ja, so war es beim FSB. Er hatte nicht vergessen, was ihm jemand bei einem Gläschen über einen Scharfschützen aus der legendären Abteilung Alpha erzählt hatte. Dieser Offizier, der kurz zuvor aus Tschetschenien zurückgekehrt war, stieg die Treppe zu seiner Wohnung hoch. Für einen Insider ist war es nicht schwer zu erraten, wo ein Mann in solcher Kleidung und mit solch auffallenden Verhaltensmustern Dienst geleistet hatte.

Dies galt auch für die drei Tschetschenen, die ihm im Treppenhaus begegneten.

„Nun sag mal, Freundchen, warst du nicht kürzlich noch in unserer Gegend? Wie viele von unseren Leuten hast du dort umgelegt?“ fragte ihn einer der Tschetschenen, ein Mann mit Goldzähnen und dem Aussehen eines professionellen Killers, in scherzhaftem, harmlos wirkendem Ton.

„Was wollt ihr bloß von mir? Ich bin Förster und inspiziere Naturschutzgebiete.“

„Was ist die Nummer deiner Wohnung, Förster?“

Der Scharfschütze nannte eine Wohnung, die einen Stock weiter oben lag.

„Versuche bloß nicht uns reinzulegen. Wir sehen uns noch.“

Der Mann von der Abteilung Alpha, der schon vieles miterlebt hatte, fühlte sich in seinem Haus so, als wäre er immer noch im Krieg. Es versteht sich von selbst, daß er seine Vorgesetzten über den Zwischenfall in Kenntnis setzte. Man nahm seine Nachbarn tatsächlich unter die Lupe und stellte fest, daß sie durchaus keine reine Weste hatten. Doch gab es keine legale Grundlage, um sie aus diesem Haus auszuweisen. Anderthalb Monate lang übten sie Psychoterror gegen den Scharfschützen und seine Familie aus, aber dann gelang es den Kollegen des Offiziers, den Konflikt mit „inoffiziellen“ Mitteln beizulegen. Die Tschetschenen zogen in eine andere Wohnung um.

Wie die Kollegen dies fertiggebracht hatten, wußte der Mann, der diese Episode erzählte, nicht. Das Ganze konnte jedoch auch beim besten Willen nicht als Sieg des FSB gedeutet werden, sondern war ganz einfach ein Abkommen zwischen den beiden Parteien gewesen.

Ja, Rußland lohnt seinen Verteidigern ihre Dienste schlecht, selbst wenn sie einer Eliteeinheit angehören. Vielleicht waren sie allerdings gar keine richtigen Verteidiger, sondern lediglich „bewaffnete Haushaltskunden“, wie einer seiner älteren Dienstkameraden scherzte. Aber wer waren dann die wirklichen Verteidiger? Höchstwahrscheinlich jene, denen man es erlaubte, ihre Dienst-Maschinenpistolen bei sich zu Hause aufzubewahren.

„He du.“ Die barsche Stimme riß ihn unsanft aus seinen melancholischen Grübeleien. Aus dem Dunkel traten zwei Milizionäre hervor. „Warum treibst du dich bei diesem Wetter auf der Strasse herum?“

„Drücken Sie sich gefälligst etwas höflicher aus, Sergeant. Ich bin FSB-Offizier.“

Er zog seinen Dienstausweis aus der Tasche und hielt ihn dem Sergeanten unter die Nase.

„Einen solchen Wisch kriegt man heutzutage in jeder Straßenunterführung für ein Butterbrot. Los, komm mit uns auf den Posten.“

„Hör zu, Freund, ich kehre von der Arbeit zurück. Da hinten ist mein Haus, ich bin hundemüde, laßt mich also in Ruhe, damit ich in die Federn kriechen kann.“

Der Sergeant schlug ihn unversehens ohne Vorwarnung ins Gesicht. An und für sich hätte er den Hieb natürlich abwehren können; schließlich hatte man ihm das in der Akademie beigebracht. Der junge FSB-Offizier hatte jedoch nicht im geringsten mit einer solchen Wendung gerechnet, so daß der Schlag voll saß. Doch nun übermannte ihn eine solch grenzenlose Wut, daß er den angetrunkenen Strolchen zeigte, was er in der Akademie gelernt hatte.

Er erinnerte sich nicht daran, wie sie auf ihn schossen, und man erzählte ihm nicht, durch welche Fügung er am Leben geblieben war. Die Polizisten des Jelzin-Regimes hätten ihn ohne weiteres umbringen und seinen Leichnam an einen menschenleeren Ort schaffen können. Sogar am Fernsehen wurde immer wieder über solche Fälle berichtet. Doch das Schicksal hatte es gewollt, daß er überlebte.

Nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus schlug man ihm vor, die Sache auf sich beruhen zu lassen, und er erklärte sich damit einverstanden. Man versprach ihm eine erkleckliche Summe Geld und einen anständigen Posten im Zivilleben, aber darauf ging er nicht ein: Er wollte unbedingt beim FSB bleiben, und man gestand ihm dies widerwillig zu.

Fortan widmete er sich in seiner ganzen Freizeit seiner nun stark zerrütteten Gesundheit, denn er wollte nicht aus Gesundheitsgründen vom Dienst freigestellt werden. So wartete er auf seine Stunde.

Der großgewachsene, hagere Mann saß Tschugunow auf seinem Sessel gegenüber. Sein honigfarbenes Haar war tadellos gescheitelt. Er hatte ein schmales Gesicht, eine gerade Nase, einen breiten Mund, harte Lippen und ein Kinn, das Willensstärke verriet. Seine Augen waren bleigrau, wiesen aber eine kaum sichtbare gelbliche Schattierung auf. Sein mustergültig geschneiderter dunkelgrauer Anzug saß wie angegossen. (Wir geben zu, daß diese Formulierung eher zu einem Schriftsteller des 19. Jahrhunderts passen würde, aber der Mann hinterließ einen dermaßen aristokratischen Eindruck, daß sie hier angemessen ist.)

Die liebenswürdige Dolmetscherin in ihrem eleganten beigen Kleid saß auf einem zweiten Sessel, links von dem Besucher. Aus irgendwelchen Gründen hatte sich Tschugunow einen Belgier genau so vorgestellt wie seinen Gast.

„Herr Professor, es ist mir eine große Ehre, die Gesellschaft europäischer Ingenieure gegenüber ihren russischen Kollegen zu vertreten.“

„Und für mich ist es eine Ehre, Sie als Vertreter unserer europäischen Kollegen begrüßen zu dürfen, Monsieur de Croix“, erwiderte Tschugunow. 

Die Unterredung fand im Empfangsraum des Verbands russischer Ingenieure statt. Der Belgier hatte energisch und mit für einen Westeuropäer untypischer Nachdrücklichkeit um ein Treffen ersucht, und Tschugunow hatte sich sofort zu einem solchen bereit erklärt.

„Nebenbei gesagt habe ich den Ausdruck ‚europäische Ingenieure’ in diesem Zusammenhang wohl nicht ganz richtig verwendet“, fuhr der Belgier fort. „Die russischen Ingenieure bilden schließlich einen nicht wegzudenkenden Bestandteil des europäischen Ingenieurkorps.“

„Völlig einverstanden. Leider gibt es sowohl in Europa als auch in Rußland viele, die das nicht begreifen.“

„Gewiß, aber es steht in unseren Kräften, diesen Irrtum zu berichtigen.“

„Bitte sehr! Welche konkreten Maßnahmen müßte unsere Gesellschaft Ihrer Ansicht nach hierzu ergreifen?“

Der Belgier machte einige triviale Vorschläge: Austausch von Delegationen, Entsendung westeuropäischer Ingenieure nach Rußland und umgekehrt und desgleichen mehr.

Das Gespräch zog sich in die Länge und wurde immer uninteressanter, doch plötzlich blickte de Croix Tschugunow scharf an und legte seinen großen dunkelgrauen Aktenkoffer auf seine Knie. An jener Seite, die Tschugunow bisher verborgen gewesen war, schimmerte silbern... das Swarog-Quadrat.

„Wir sind der Auffassung, daß unsere russischen Kollegen der Unterstützung bedürfen, und bitten Sie, dies von uns entgegenzunehmen.“

Behutsam stellte er den Aktenkoffer auf den kleinen Tisch neben Tschugunow.

„Außerdem sind wir in der Lage, Sie bei Ihrer experimentellen Arbeit zu unterstützen, wenn Sie solche betreiben, und Ihnen unsererseits einige ergänzende Muster der Versuchsmodelle gewisser Produkte zu liefern, die Sie vermutlich herstellen wollen.“

Tschugunow sah den Belgier ruhig an und schwieg.

„Sie haben sehr wenig Zeit, Herr Kollege“, sagte der Belgier. „Deshalb werden Sie sicher Verständnis dafür aufbringen, daß wir keine Zeit mit Formalitäten verlieren, sondern gleich zur Sache kommen. Mann kennt Sie und vertraut Ihnen.“

„Ich danke Ihnen“, erwiderte Tschugunow, wobei er sich erhob, den Aktenkoffer jedoch nicht berührte. „Mir schiene es angemessen, unser nächstes Treffen in der Ukraine durchzuführen, und zwar in einem privaten wissenschaftlich-technischen Büro, mit dem wir zusammenarbeiten.“

„Und nicht nur dort“, erwiderte der Belgier. „Es wird uns stets ein Vergnügen sein, Sie und Ihre engsten Mitarbeiter an jedem beliebigen Ort zu treffen.“

Er verließ das Büro mit dem Aktenkoffer in der Hand – so machte es jedenfalls den Anschein. In Wirklichkeit trug er eine aufblasbare Nachbildung des Aktenkoffers, die sich in leeren Zustand auf die Größe eines Portemonnaies verkleinern ließ.

Tschugunow hatte sein Reservetelefon auf den Namen eines Nachbarn von Lena registrieren lassen, der Alkoholiker war. Der für die Überwachung von Telefongesprächen zuständige FSB-Beamte hatte beschlossen, es auf eigene Faust abzuhören. Früher oder später hätten seine Kollegen dies ohnehin getan, aber er kam ihnen zuvor, nicht um seine lausig bezahlte Arbeit ordnungsgemäß zu verrichten, sondern weil er eine Rechnung zu begleichen hatte – mit den uniformierten Banditen, die seine Gesundheit ruiniert hatten, und den Heuchlern im Kreml, die seine Ideale verraten hatten.

Er baute darauf, daß dieser Fanatiker Tschugunow mit den Leuten aufräumen würde, die er haßte, und beschloß deshalb, ihm zu helfen. Dies tat er, indem er den Schluß des Gesprächs auf dem Tonband löschte und Tschugunow nach Dienstende mit dem Mobiltelefon eines jungen Burschen aus dem Nachbarhaus, dem er dafür das Doppelte des Marktpreises bezahlt hatte, ein SMS auf die Nummer seines Reservetelefons sandte. Es lautete wie folgt:

„Herr Professor. Der Schluß Ihrer Unterredung ist nicht aufgezeichnet worden. Aber seien sie vorsichtig und treffen Sie sich künftig nicht mehr so offen mit De Croix. Er steht unter Beobachtung. Und gebrauchen Sie dieses Telefon fortan nicht mehr.“

Tschugunow geriet durch dieses SMS nicht in Panik. Die Götter hatten ihm offenbar einen Helfer gesandt, der das Regime nicht minder verabscheute als er selbst und begriffen hatte, daß ein Fanatiker wie Pjotr in der Lage war, die Leute die er haßte, für ihre Verbrechen zur Verantwortung zu ziehen.

Pjotr, Jura und Siegfried standen auf einem verschneiten Feld, das den höchsten Teil eines sanft abfallenden Hügels bildete. Dieser war auf drei Seiten von Schluchten umgeben; auf der vierten mündete er in eine Chaussee. Sowohl die Schluchten als auch die Chaussee waren ziemlich weit entfernt. Auf letzterer stand einsam und verlassen ihr Auto. Sie hatten sich nachts an diesen abgelegenen Ort begeben, um die Lage besprechen zu können, ohne Gefahr zu laufen, daß ihre Unterredung abgehört wurde.

„Ein klarer Fall von Desinformation“, versuchte Jura seine Gefährten zu überzeugen. Dank Tschugunows Hilfe war er ebenfalls nach Moskau übergesiedelt, vorderhand allerdings ohne seine Familie. Aber letzterer Umstand bedrückte Winny Pooh, dem die Herzen der Damen im Nu zuflogen, nicht allzu sehr.

„Nein, die Hilfe der Götter“, widersprach ihm Siegfried.

„Du gehst mir mit denen Göttern langsam aber sicher auf den Wecker!“, herrschte Jura seinen Kollegen an. „Wenn es dein Herzenswunsch ist, demnächst ein drittes Mal gesiebte Luft atmen zu dürfen, dann bitte sehr! Aber ohne mich.“

„Bitte keine despektierlichen Bemerkungen über die Götter!“, wies Pjotr seinen Freund mild zurecht. „Ansonsten magst du ja recht haben; analysieren wir die Lage also in aller Ruhe. Was haben wir bisher? Wir haben fünf Millionen Euro. Ein nicht zu verachtendes Sümmchen, ja oder nein?“

„Ja“, sagte Jura mürrisch.

„Haben wir dieses Geld etwas gestohlen? Nein. Haben wir jemanden ausgeraubt? Nein. Oder haben wir vielleicht militärische Geheimnisse verkauft? Abermals nein.“

„Letzteres ist durchaus strittig“, brummte Jura.

„Mitnichten. Das Know-how, das wir gesammelt und über das ukrainische Büro verwertet haben, war bisher ausschließlich nichtmilitärischer Art, und außerdem handelte es sich durchwegs um nicht patentiertes, im Rahmen von Privatinitiativen entwickeltes Material.“

„Aber das ist doch sicher nur ein erster Schritt!“

„Und wo gibt es entsprechende, schriftlich niedergelegte Pläne?“

„Na gut, lassen wir diese Frage einstweilen beiseite.“

„Gut. Was haben wir sonst noch getan? Haben wir diesem Belgier etwa irgendwelche Aufträge erteilt, und sei es auch nur in mündlicher Form? Wiederum lautet die Antwort nein. Meinetwegen können die da jedes Wort, das wir sagen, auf Tonband aufnehmen, wir haben eine blütenweiße Weste.“

„Vorderhand.“

„Aber wir sind vorgewarnt und somit gerüstet. Angenommen, dieses SMS war eine Provokation – was haben die Provokateure davon? Wir werden in Zukunft bedeutend vorsichtiger vorgehen. Ist das für sie etwa wünschenswert?“

„Vielleicht wollen sie einfach psychologischen Druck auf uns ausüben oder uns Angst einjagen.“

„Hör zu, Jura, nehmen wir einmal an, ich sei tatsächlich nur ein Federfuchser, dem beim ersten Anzeichen von Gefahr das Herz in die Hosen fällt. Aber kann man solch kampferfahrene Haudegen wie dich oder Siegfried wirklich so leicht ins Bockshorn jagen?“

„Das SMS war an dich adressiert und nicht an uns.“

„Nun gut, gehen wir also davon aus, daß sie mir Angst einjagen wollten und ihnen dies auch geglückt ist. Ich bekomme einen Heidenbammel, schmeiße den Bettel und händige den ganzen Zaster Siegfried aus, der ihn sofort verwendet, um seine Männer fürs Grobe auf Hochform zu trimmen und zu bewaffnen.“

„Worauf sie im Nu hopsgenommen werden“, fiel Jura ein. Siegfried wollte ihm empört widersprechen, aber Jura kam ihm zuvor. „Behalte deinen Senf für dich, Siegfried“, fuhr er ihn grob an und fuhr fort: „Für jeden auch nur halbwegs fähigen Geheimdienstmann, den man auf uns angesetzt hat, ist es doch ein gefundenes Fressen, wenn ein so listiger Fuchs wie du, Pjotr, einem blauäugigen Enthusiasten wie Siegfried einen solchen Haufen Geld übergibt. Übrigens kann ich deinen Gedankengang beim besten Willen nicht nachvollziehen. Warum in drei Teufels Namen solltest du die Kröten eigentlich einem anderen abliefern? Du hast den Bammel bekommen, das Geld in deine eigene Tasche gesteckt und das Projekt begraben. Fertig, aus.“

„Glaubst du denn, diese Kerle haben kein Psychogramm von Pjotr?“ wandte Siegfried ein.

„Ei ei, wo hat unser alter Knastbruder bloß das Wort ‚Psychogramm’ aufgeschnappt?“, stichelte Jura, aber Siegfried fuhr unbeirrt fort:

„Natürlich haben sie ein Psychogramm. Und sie wissen ganz genau, daß Petrowitsch trotz der erklecklichen Einkünfte seiner Organisation auch weiterhin in seiner einfachen Wohnung lebt. In anderen Worten, er gehört nicht zu denen, die sich fremdes Geld aneignen.“

„Das heißt noch gar nichts, Sigi“, wehrte Jura müde ab.

„Hört zu, Jungens, mir scheint, wir sind vom Thema abgekommen“, sagte Tschugunow. „Erstens: Was für Geld? Wissen die denn, wieviel in dem Aktenkoffer war? Ich bezweifle es ganz erheblich. Hat denn überhaupt jemand gesehen, daß er uns seinen Aktenkoffer hinterließ? Haben die Kerle vielleicht bereits eine versteckte Überwachungskamera bei uns installiert? Zweitens: Ich glaube nicht, daß sie uns persönlich dermaßen genau überwachen. Wahrscheinlich interessieren sie sich bedeutend mehr für unseren Oligarchen, denn mittlerweile werden alle Oligarchen Tag und Nacht observiert. Von uns wissen sie, daß wir eine Organisation vertreten, die mit diesem Mann zusammenarbeitet. Dies ist natürlich ein triftiger Grund, uns etwas genauer unter die Lupe zu nehmen, zumal sie genau wissen, daß wir keine Engel sind. Doch nehmen wir an, Jura hat recht, und das SMS war eine Provokation: Was bringt ihnen diese denn, wenn wir uns nicht einschüchtern lassen? Sie schießen damit ja nur ein Eigentor, denn immerhin wissen wir nun genau, daß man uns beobachtet, und werden zukünftig vorsichtiger sein. Wem nützt das, uns oder ihnen? Doch wohl uns. Somit wäre eine Provokation dieser Art völlig kontraproduktiv, und alles spricht dafür, daß dieses SMS eine Warnung von einem unbekannten Freund war.“

„Es wäre auch denkbar, daß sie nicht den Oligarchen, sondern unseren belgischen Freund auf Schritt und Tritt überwachen“, meinte Jura nachdenklich.

„Kann sehr wohl sein“, pflichtete ihm Tschugunow bei.

„Womöglich stecken die Leute, die uns überwachen, in unserem eigenen Spionage- und Räubernest“, fuhr Jura sarkastisch fort. „Schließlich haben wir keine blasse Ahnung, was das für Vögel sind, an die wir die Hälfte der Villa vermieten. Vielleicht haben sich in unseren Nachbarzimmer Abhör- und Überwachungsspezialisten eingenistet.“

„Wenn dem so ist, jagen wir diese Leute am besten gleich zum Teufel“, ereiferte sich Siegfried. „Auf den Mietzins, die sie uns zahlen, sind wir mittlerweile ja wirklich nicht mehr angewiesen.“

„Das wäre ein grober Fehler!“, sagten Jura und Pjotr fast gleichzeitig, und Tschugunow fügte erläuternd hinzu: „Wir dürfen auf keinen Fall erkennen lassen, daß wir von irgend jemandem Geld bekommen haben.“

„Sehr richtig“, pflichtete ihm Jura bei.

„Aber wir haben jetzt die Möglichkeit, mit der Verwirklichung unserer Pläne zu beginnen. Freilich können wir dies nur schrittweise tun. Da wäre zunächst das Projekt mit der Gründung der neuheidnischen Glaubensgemeinschaft. Meinetwegen können wir es gemächlich anlaufen lassen, aber unser Ziel muß es sein, in absehbarer Zeit alle Neuheiden unter unserem Banner zu vereinigen. Zum zweiten Punkt: Siegfried kann jetzt seine ...“ – er dachte einen Augenblick nach und lächelte ironisch, als ihm ein passendes Wort eingefallen war – „seine Pfadfinder mit Volldampf in einem Lager in den Karpaten ausbilden.“

„Nicht mit Volldampf, sondern mit Verstand“, mahnte Jura. „Und die Pfadfinder bilde ich aus. Widerspruch ist zwecklos, Siegfried.“

„Na gut, das könnt ihr unter euch ausmachen. Und ehe ich es vergesse: Im Büro reden wir künftig nur noch vom Wetter, vom Eishockey und vom Fußball. Kein Sterbenswörtchen mehr über unsere revolutionären Bestrebungen!“

„Und wo sprechen wir über diese?“ wollte Siegfried wissen.

„Auf Skiwanderungen. Für euch Kerle ist es sowieso höchste Zeit, etwas für eure Gesundheit zu tun!“

„Das würde uns tatsächlich nicht schaden“, pflichtete ihm Jura sachlich bei.

„Was mich betrifft, so kümmere ich mich erstens um die neuheidnische Kirche und zweitens um wissenschaftliche und technische Fragen“, sagte Tschugunow.

„Nochmals: Welche Schlußfolgerungen müssen wir aus dieser Warnung ziehen?“ fragte Siegfried.

„Meiner Ansicht nach sehr weitreichende. Ich möchte euch auf folgendes aufmerksam machen: Bevor man irgendeine Aktion unternimmt, sollte man sich Rechenschaft über seine Kräfte und seine Mittel ablegen. Jura soll mich korrigieren, wenn ich mich irre, doch soweit ich weiß, braucht der Geheimdienst vier Leute, um eine einzige Person rund um die Uhr zu bewachen, und in einer Großstadt mit U-Bahn sogar acht, plus zwei Autos.“

„In was für einem Knüller hast du das bloß gelesen?“, spöttelte Jura, doch Tschugunow fuhr unbeirrt fort:

„Nach dem Vorgefallenen ist kein Zweifel mehr daran statthaft, daß wir im Lager unserer Gegner energische und kühne Sympathisanten haben. Diese Menschen sind gewissermaßen Löcher in dem Netz, das man über uns auswirft, so daß dieses längst nicht so effizient ist, wie die da glauben. Darum können wir es uns ohne weiteres leisten, unsere Tätigkeit noch zu intensivieren und ab und zu sogar zu improvisieren. In vernünftigem Rahmen natürlich, und auch dies nur unter der Bedingung, daß wir äußerste Vorsicht walten lassen.“

 „Und woher kommen diese unbekannten Freunde bloß?“ fragte Siegfried.

„Ich würde von einer Logik des Schicksals sprechen. Man braucht hier nicht einmal unbedingt die Hand jener zu sehen, an die wir glauben, es gibt eine rein rationelle Erklärung, der Juri sicherlich zustimmen wird. In unserer Partei hatten wir einen Mann, der jetzt beim FSB arbeitet. Er wohnt mit seiner Mutter zusammen, einer Rentnerin. Zwölf Tage pro Monat leben die beiden von dem Gehalt, das er als Major bezieht, und die restlichen achtzehn Tage von der Pension der Mutter. Ich weiß aber auch von einem Generalmajor des FSB, der seiner Tochter zur Feier ihrer Volljährigkeit eine Dreizimmerwohnung gekauft hat, und zwar eine mit einem offenen Kamin und vier Fernsehapparaten. Und dies ist beileibe nicht der einzige Kauf, den diese Familie in den letzten beiden Jahren getätigt hat. Solange es bei uns dermaßen himmelschreiende gesellschaftliche Ungerechtigkeiten gibt, können unsere Götter ruhig die Hände in den Schoß legen. Früher oder später werden die meisten Majore uns aktiv oder passiv unterstützen, von den Hauptmännern ganz zu schweigen. Einverstanden, Jura?“

„Voll und ganz, auch wenn wir uns davor hüten sollten, diese Leute zu idealisieren.“

„Man sollte Menschen überhaupt nicht idealisieren.“

„Sie sind das nicht wert“, bekräftigte Siegfried. „Aber wir sind auf ihre Unterstützung angewiesen. Gott mir uns!“

„Gott mit uns!“ bekräftigte Pjotr.

Kapitel 13. Die Kampfformel

Der fünfjährige Bub aus einer der Intelligenzija zugehörenden Familie spielte im Sandkasten. Vergnügt manövrierte er mit der kleinen Lokomotive, die er seinen Eltern durch hartnäckiges Betteln abgetrotzt hatte. Das Leben war damals schließlich sehr hart, und man mußte jede Kopeke zählen, damit man bis zur nächsten Lohnauszahlung durchkam. Mit seiner Schaufel baute der Junge eine Strasse, auf der er seine Lokomotive hin- und herrollen ließ. Und die Lokomotive brachte ihn in ein fernes Land, wo es weder Winter noch Herbst gab, wo man sich nicht erkältete und nicht in trostlosen öffentlichen Verkehrsmitteln zur Behandlung ins Krankenhaus fahren mußte.

Der Knabe war körperlich mit vielen Vorzügen gesegnet, aber leider auch mit gewissen erblichen Gebrechen behaftet.

Zwischen einem Fünf- und einem Siebenjährigen besteht ein gewaltiger Entwicklungsunterschied. Der siebenjährige, vor Gesundheit nur so strotzende Nachbarsjunge, welcher im Sandkasten neben ihm spielte – er war Sohn eines Ordensträgers und hielt sich für den König des Hofs -, stieß den Jüngeren rüde beiseite und nahm ihm die Lokomotive weg.

„Vita, das ist meine Lok, ich habe dir nicht erlaubt, sie zu nehmen“, sagte der Bestohlene höflich.

„Ich hab dich auch gar nicht gefragt“, antwortete der Ältere, wobei er sich hochmütig in seiner ganzen, dem Fünfjährigen sehr beeindruckend erscheinenden Länge aufrichtete. Die begehrte Lokomotive in der Hand, sah er den Jüngeren von oben herab an und weidete sich an seiner Überlegenheit. Der kleine Bub stieß – scheinbar aus hilfloser Wut – seine Schaufel zweimal in den Sand. Doch dann schnellte er wie eine Feder hoch und verlagerte sein ganzes Gewicht auf das rechte Bein, das er zurückgezogen hatte. Gleichzeitig holte er zum Schlag mit der Schaufel aus, aber ehe er diese niedersausen ließ, vollzog er mühelos und atemberaubend rasch eine kreisförmige Bewegung, verlagerte sein Gewicht nun auf das linke Bein und versetzte dem frechen Lümmel mit der ganzen Kraft seines jugendlichen Körpers einen wuchtigen Schlag auf den Scheitel.

Die Männer, welche diese Szene beobachtet hatten und unter denen es einige ehemalige Frontsoldaten gab, sagten später, der Junge habe mit erstaunlicher Präzision die Technik des Nahkampfs angewandt, obwohl er diese ganz unmöglich von jemandem gelernt haben konnte. Aus der klaffenden Wunde, die sich über den ganzen Schädel des älteren Knaben dahinzog, schossen Bäche von Blut. Vita ließ die Lokomotive fallen, heulte auf, schwankte immer stärker hin und her und brüllte wie am Spieß. Das riesige dunkelrote Band auf seinem Kopf wurde zusehends breiter.

Der Sieger ging in die Hocke, hob seine Lokomotive auf und setzte auf der eben erst gebauten Strasse seine Reise fort, obwohl ihm das Gebrüll des Verwundeten die Freude etwas vergällte. Eine metallisch anmutende Erwachsenenstimme raunte ihm ins Ohr:

„Hau ihm gleich noch eine runter, und zwar genau auf dieselbe Stelle. Dann fliegt er um und hält endlich die Klappe.“

„Jawohl, da steht er tatsächlich.“ Diese Formulierung hätte man von einem Fünfjährigen kaum erwartet. „Aber ich bin zu faul, um ihm noch eine runterzuhauen. Ich warte noch ein wenig, bis er von selber abdampft. Wenn nicht, kriegt er eben noch eins mit der Schaufel.“

Weiter erinnerte er sich an nichts, denn die gewaltige Maulschelle, die ihm jemand verabreichte, warf ihn zu Boden.

„Wäre ich mein Vater gewesen, so hätte ich Stolz auf einen solchen Sohn empfunden“, dachte sich Tschugunow oft, wenn er sich an diesen Zwischenfall aus seiner Kindheit erinnerte. Schließlich hatte er niemanden angegriffen, sondern nur das verteidigt, was ihm von Rechts wegen gehörte, und sich nicht vor dem Kampf mit einem eindeutig stärkeren Gegner gefürchtet. Waren das nicht Eigenschaften, die man von einem anständigen Menschen erwarten durfte?

Doch seine Eltern waren durch das stalinistische System eingeschüchtert. Sie hatten Angst vor allem und jedem und bestraften ihr fünfjähriges Kind, an dessen Schwächen sie ein gerütteltes Maß an Mitschuld trugen, auf grausame Art. Allerdings waren sie sich ihrer Schuld ihm gegenüber nicht bewußt. Sie fühlten sich vor der ganzen Welt schuldig, oder genauer gesagt vor dem Imperium, in dem zu leben sie das Unglück hatten. Und sie rächten sich an ihrem kranken Sohn für ihre Feigheit und für die Erbärmlichkeit ihres eigenen Daseins.

Gewiß, sie taten viel für Pjotr, aber obwohl er ihnen gegenüber eine Art „mechanischer“ Dankbarkeit empfand, begriff er schon früh, daß er sie nicht liebte. Bei der ersten sich bietenden Gelegenheit verließ er das elterliche Haus.

Er war ein schlechter Sohn gewesen und wurde ein nicht minder schlechter Vater, der sich nicht im geringsten dafür interessierte, wie es seiner ehemaligen Frau und seinem eigenen Sohn ging. Schuldgefühle empfand er ihnen gegenüber jedoch nicht. Er gab ihnen, was er mußte, war aber nicht bereit, mehr zu geben, denn schließlich kann man dem Herzen keine Befehle erteilen. Er griff nie jemanden als erster an und fügte niemandem unprovoziert ein Leid zu. Doch das, was seiner Überzeugung nach von Rechts wegen ihm gehörte, gedachte er um jeden Preis zu verteidigen. „Wir nehmen kein fremdes Gut und geben unseres nicht her“ – war das etwas kein russisches Sprichwort? Oh doch, und zwar eines, das dem durch die orthodoxe Propaganda fabrizierten Zerrbild vom russischen Menschen als einem frommen Narren, der immer nur die andere Backe hinhält, kraß widersprach. Mit uns braucht keiner Mitleid zu haben, denn wir kennen selber kein Mitleid. Dieser Vers eines Frontdichters hatte es ihm angetan.

Ja, ein Menschenleben, das nicht vom Lichte der Teilhaftigkeit an etwas Hohem erleuchtet wird, unterscheidet sich nicht vom Leben eines Tieres. Gewiß, auch Tieren gegenüber durfte man nicht boshaft und grausam sein. Man mußte sie hegen und pflegen, doch nicht als Einzelwesen, sondern aus einer ökologischen Denkweise heraus. Freilich darf man nicht vergessen, daß der Ökologe kein Arzt, ja nicht einmal ein Tierarzt ist. Wer diesen Unterschied nicht versteht, begehrt einen schweren Irrtum.

Die Erinnerungen an die Vergangenheit verfolgten ihn heute schon den ganzen Tag lang, und sie bildeten eine einzige Kette. Vor seinem geistigen Auge rollte sein gesamtes Leben ab, wie in einem tiefgründigen Roman im Stil Dostojewskis. Und die Episoden, die er vor sich sah, fehlten in seiner offiziellen Biographie durchwegs.

Pjotr strebte verbissen danach, stark zu werden und seine angeborenen Gebrechen zu überwinden. Darum gab er sich mit größter Leidenschaft dem Sport hin; er übte sich in allen möglichen Sportarten und entschied sich letzten Endes für das Boxen. Die wahre Liebe kommt oft durchaus nicht mit dem ersten Blick. Sie rollt gewissermaßen in Wellen auf uns zu, bei denen sich Höhen und Tiefen abwechseln und die schließlich an das Ufer des Schicksals branden und sich in einem brausenden Strom verwandeln, der alles nieder wälzt, was sich ihm entgegenstellt.

Das Boxen war seine Liebe. Er betrieb diesen Sport intensiv, verlor eine Zeitlang sein Interesse daran und widmete sich ihm anschließend mit verdoppeltem Eifer, wobei ihm die in anderen Sportarten gesammelten Erfahrungen im Training und im Ernstkampf sehr zustatten kamen.

Er erinnerte sich stets an den Ausdruck „Kampfesformel“. Für Anfänger bedeutete diese Formel zwei Runden à zwei Minuten. Als er seine ersten Wettkämpfe austrug, war er bereits ein ziemlich reifer Boxer „ohne Perspektiven“, gewann aber seine beiden ersten Kämpfe, und zwar in erster Linie dank seiner sehr intensiven Vorbereitung. Obwohl er seinen Gegnern auch technisch einiges voraushatte, zog er es vor, ihren Widerstand mit seinen unaufhörlichen wilden Angriffen zu brechen.

Im dritten Kampf stieß er auf einen ebenbürtigen Widersacher. Nie sollte er dessen schweißbedecktes, grimmiges Gesicht vergessen, sein schwarzes, an der Stirne festklebendes Haar sowie die hellblauen Augen, die so gar nicht zu seinem dunklen Gesicht passen wollen. Pjotrs erste Versuche, seine Taktik zu ändern und den ihm an Stärke gleichwertigen Gegner dank seiner überlegenen Technik in die Knie zu zwingen, wurden von diesem als Zeichen von Schwäche gedeutet und mit einem Hagel von Schlägen quittiert, worauf Pjotr jede Zurückhaltung ablegte. Es folgte ein rasender Schlagabtausch. Keiner der beiden gab nach oder versuchte zu manövrieren. Sie verteidigten sich nicht einmal, sondern jeder trommelte unter dumpfem Gebrüll – für das sie vom Schiedsrichter prompt beide einen Verweis erhielten – auf das verhaßte Gesicht seines Gegners ein.

Pjotr spürte die Schläge nicht. Er empfand nur zwei Gefühle: Freude, wenn seine Hiebe trafen, und Ärger, wenn er den Eindruck hatte, ein Schlag habe nicht gesessen.

Was führte zu seinem Sieg? Körperliche Überlegenheit? Wahrscheinlich nicht. Den Sieg sicherte ihm seine Geduld, seine Fähigkeit, Schläge einzustecken, die Tatsache, daß er es gewohnt war, betrogen, benachteiligt, geschlagen zu werden. Für ihn war es gleichgültig, was er einstecken und durchmachen mußte; das Wichtigste war die Freude darüber, daß die Schläge, die ihm sein Widersacher verabreichte, nicht ungestraft blieben. Die Freude über den Gegenschlag! Das Glück des Ariers, der Vorgeschmack auf Walhall. Gewiß, er mochte zugrunde gehen, aber mit dem Schwert in der Hand.

Seinem Gegner war dieses Gefühl nicht oder nur in weit geringerem Ausmaß bekannt. Er versuchte schließlich zurückzuweichen, das Tempo zu drosseln und zu erreichen, daß der Kampf schließlich nach Punkten und nicht durch Knockout entschieden wurde. Doch wenn nicht quantitative, sondern qualitative Überlegungen den Ausschlag geben, senkt sich die Waagschale zugunsten des qualitativ hochwertigeren Kämpfers.

Pjotr siegte. Vermutlich war dieser Boxkampf rein technisch alles andere als eine Meisterleistung und himmelweit entfernt vom sportlichen Ideal gewesen. Doch sowohl den beiden Kontrahenten als auch dem Publikum blieb er auf Dauer im Gedächtnis haften.

Nach diesem Schlüsselerlebnis wurde das Boxen für Pjotr so notwendig wie die Luft zum Atmen. Wenn ihn die Umstände daran hinderten, zu trainieren und im Ring aufzutreten, welkte er förmlich dahin.

Merkwürdigerweise empfand er im Ring jedoch nie mehr eine solch wilde Entschlossenheit und einen solchen Hass auf seinen Widersacher wie damals, auch nicht, als man ihm mehrmals die Nase, den Kiefer und den Backenknochen zerbrach und ihm mehrere Zähne ausschlug (unbegreiflicherweise weigerte er sich hartnäckig, beim Kampf einen Zahnschutz zu tragen). Hass auf den Gegner hielt er für unritterlich. Zwar bestrafte er seinen Kontrahenten unerbittlich, wenn dieser die Regeln der Fairneß verletzte, geriet aber nie wieder in eine solche Raserei wie bei seinem dritten Kampf, sondern begnügte sich damit, jeden Schlag mit einem noch wuchtigeren Gegenschlag zu beantworten. Dies reichte ihm völlig.

Eine sportliche Karriere blieb ihm leider verwehrt. Auf die spektakulären Anfangserfolge, die den späten Beginn seiner Tätigkeit als Boxer hätten wettmachen können, folgten immer wieder Verletzungen, die er sich sowohl innerhalb als auch außerhalb des Rings zuzog. Dann fehlte es ihm an Zeit für das Training, weil er an strapaziösen Expeditionen und Wanderungen teilnahm, und später nahm die Wissenschaft, der er sich aufopferungsvoll hingab, den größten Teil seiner Zeit in Anspruch. Trotz allem schaffte er im Boxen den Sprung in die erste Leistungsklasse. Von seinem Talent her hätte er ohne weiteres ein höheres Diplom im Fach Sport erwerben können, doch vor einem wichtigen Turnier, auf das er sich gewissenhaft vorbereitet hatte und bei dem ihm sehr reale Siegesaussichten winkten, erlitt er im Training wieder einmal eine Verletzung. Die Ungunst der Umstände wollte es, daß sich ihm eine solche Chance kein zweites Mal bot.

Dennoch blieb er im Leben stets der Kämpfer, der er in seinem dritten Auftritt im Ring gewesen war. Das Boxen hatte seinen Charakter entscheidend mitgeprägt, und das zählte mehr als Titel und Medaillen.

Ein solcher Kämpfer war er auch jetzt, als er sich den Kopf darüber zerbrach, wie er das erhaltene Geld am zweckmäßigsten für das aufwenden konnte, was längst sein eigentlicher Lebensinhalt war – die nationale Revolution zur Befreiung des russischen Volkes.

Ihm schwebte ein Aktionsplan vor, der die Gestalt einer netzförmigen Grafik aufwies. Doch kam es ihm so vor, als hänge diese Grafik in einem dreidimensionalen Raum, der mit beweglichen Bildern dekoriert war, welche die wichtigsten Knotenpunkte des Plans veranschaulichten.

Am übersichtlichsten war die Linie, welche den Aufgabenbereich Juras und Siegfrieds widerspiegelte: Das Lager in den Karpaten; die Ausbildung des Sturmtrupps, die im Prinzip so aufgebaut sein würden wie die fliegenden Abteilungen der Sowjetzeit, aber mit Verbesserungen, die der fortgeschrittenen Technologie Rechnung trugen; Stützpunkte in der Ukraine und Weißrußland; Fluchtrouten.

Was wünschte Herr Sawnikow noch? Ja richtig, eine angemessene technische Ausrüstung. Auch an einer solchen würde es nicht fehlen. Wichtig waren vor allem eine aus leichtmotorigen Flugzeugen bestehende Luftwaffe sowie fernlenkbare Kampfflugzeugmodelle, doch hatte Tschugunow noch eine andere Idee in petto, die sorgfältig durchdacht werden mußte.

Die erforderlichen technischen Mittel würde selbstverständlich der Verband russischer Ingenieure liefern, oder? Moment mal, wieso eigentlich? Die Kader waren bereits rekrutiert, die vorhandenen Mittel registriert, und die durch den Verband legalisierten Gelder wurden zur Verwirklichung des Projekts nicht mehr benötigt. Nein, der Verband sollte ruhig das bleiben, als was er von Lew Borisowitsch geplant worden war: Ein Anhängsel des ukrainischen wissenschaftlich-technischen Büros. In Zukunft würde man es dort ohnehin gemütlich nehmen, denn schließlich hatte der Oligarch das investierte Geld dank den ihm für ein Butterbrot abgetretenen Innovationen längst mit Zins und Zinseszins zurückerhalten.

Sollten die Herren vom FSB dieses „Nest der Industriespionage“ doch ruhig Tag und Nacht mit Argusaugen überwachen! Dank sei dir, unbekannter Freund! Die Büttel des Regimes werden herzlich magere Ausbeute machen.

Tschugunow begriff, daß sich seine Zeit als Vorsitzender des Verbandes russischer Ingenieure ihrem Ende zuneigte. Fortan würde er sich mit der Rolle des Ehrenpräsidenten begnügen, und die Rolle des Vereins würde sich in Zukunft strikt auf die Auswertung von Innovationen beschränken.

Das geplante Netz würde auf einer ganz anderen Grundlage fußen müssen - auf der neuheidnischen Religionsgemeinschaft. Klöster, die zugleich die Funktion von Festungen erfüllten; Krieger, welche die Mönchskutte trugen; Mönche, die zugleich Zauberer waren. Stützpunkte in Form von Schlössern in der Ukraine. Dort würde man die Zauberschwerte schmieden und den Zaubertrunk brauen. Die auf dem Territorium der russischen Föderation gelegenen Schlösser würden lediglich als taktische Vorposten fungieren. Herzlichen Dank, Swarog! Schließlich war er seiner Hilfe zu verdanken, daß dem schwerfälligen Tschugunow all diese Gedanken gekommen waren.

„Benimm dich nicht wie ein Narr; so dumm bist du ja auch wieder nicht“, raunte ihm ein Unbekannter ins Ohr.

„Verzeihung, Meister.“

„Streng dein Gehirn an und denke weiter“, sagte die Stimme des Unbekannten.

„Gewiß, mit Hilfe der neuheidnischen Konfession können wir jede beliebige Protestkundgebung von Jugendlichen für unsere Ziele ausschlachten“, dachte er sich. „Dies ist bereits eine technische Frage. Habe ich nichts vergessen?“

Oh doch! Welchen Stellenwert hatte das Projekt Juras und Siegfrieds für sich allein genommen? Bei allem Respekt vor diesen tapferen Kameraden waren ihre Kämpfer letzten Endes nicht mehr als eine Hilfstruppe für die zu erwartende Massenprotestbewegung. Was konnte diese Hilfstruppe ausrichten? Richtig, sie konnte die revolutionäre Situation zuspitzen. Zuspitzen, aber nicht schaffen. Schaffen konnten sie lediglich die objektive Logik der Ereignisse sowie die Herren Liberalen und ihre Zahlmeister im Westen. Doch würde eine solche Hilfstruppe sehr wohl verhindern können, daß eine dritte oder vierte Kraft gewaltsam die Macht an sich riß. Dies war eine absolut zentrale Aufgabe.

Und wenn die Protestbewegung nicht stark genug war, um eine revolutionäre Situation auszulösen, oder wenn sich tatsächlich eine dritte oder vierte Kraft anschickte, nach der Macht zu greifen? Dann brauchte es einen großen Knüppel. Einen ganz großen.

Was aber war unter einem großen Knüppel zu verstehen? Nur keine Angst, du bist mit deinen Gedanken nicht allein.

Natürlich! Eine Atombombe!

Kannst du dir eine solche besorgen, Petrowitsch? Mit fünf Millionen Euro und der tatkräftigen Unterstützung der russischen Ingenieure?

Jawohl, das kann ich!

Abermals erinnerte sich Tschugunow an jenen Juniabend, an dem er in einem Moskauer Hof im Sandkasten gespielt hatte. „Witja, das ist meine Lok...“ Vor seinem geistigen Auge beschrieb die Schaufel einen tadellosen Kreis. Diesmal werden wir nicht zu träge sein, um ein zweites, wenn nötig auch ein drittes oder ein viertes Mal zuzuschlagen. Mit jedem Schlag wird die scharfe Kante der Schaufel tiefer in den Schädel eindringen. Ihr Lumpenhunde, diesmal wird es euch nicht gelingen, mich mit einer Backpfeife vorzeitig außer Gefecht zu setzen, und wenn ich doch abtreten muß, werden andere die Schaufel aufheben. Zum Glück gibt es Männer, die dazu bereit sind.

Kapitel 14. Der Traum vom Himmel

„Noch heute morgen war ich böse auf dich und wollte mich bei Swarog über dich beschweren. Aber jetzt will ich ihm um seine Erlaubnis bitten, dich in mein Privateigentum zu verwandeln. Bist du einverstanden, mein Schatz?“

Als Tschugunow dieses SMS gelesen hatte, überkam ihn heller Zorn auf sich selbst. Was war er doch für ein gefühlloser Klotz! Seine Arbeit und seine Probleme hatten ihn dermaßen auf Trab gehalten, daß er sie in letzter Zeit überhaupt nicht mehr angerufen und ihr auch keine SMS geschickt hatte. Wie lange schon? Jawohl, fast zwei Wochen! Und sie war allmählich verstummt und hatte es taktvoll vermieden, sich ihm aufzudrängen.

Großer Gott, dabei teilt sie doch meinen Glauben und meine Überzeugungen! Noch heute wollte sie sich bei Swarog über mich beklagen! An ihrer Stelle hätte ich... Verzeih mir, meine Liebe. Ja, genau so mußte er ihr schreiben.

„Verzeih mir, meine Liebe. Ich weiß nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Aber schon bald werden wir zusammen sein. Ich liebe dich, mein Schatz.“

Schon bald piepste sein Mobiltelefon wieder, und er las ihre Antwort:

„Ich möchte eine Puppe sein, ich möchte nachts splitterfasernackt in deinen Armen liegen und dich küssen, küssen, küssen. Ich liebe dich, ich fühle mit dir, ich möchte dich fühlen, ich vergöttere dich. Vor meinem geistigen Auge sehe ich den Mann, den mehr liebe als jeden anderen auf der Welt – von mir fertiggemacht, von mir abgeküßt, doch unendlich glücklich. Ich liebe dich, mein Idol. Viel Erfolg.“

Er fand nur gerade Zeit für eine kurze Antwort:

„Mein Liebling, mein Liebling, mein Liebling! Ich bin am Mittwoch bei dir.“

Dann ging er mit Feuereifer an seine Arbeit. Wundersamerweise zeitigte seine „Kampfformel“ bereits die ersten Erfolge. Aus dem Autoradio plärrte eine Stimme: „Du bist kein Engel, doch für mich kommst du vom Himmel her.“ Das hat ja gerade noch gefehlt, dachte er, doch dann stutzte er und sah die Sache in neuem Licht. Ihre Liebesbeziehung hatte genau zu jenem Zeitpunkt begonnen, als das mittlerweile schon weit fortgeschrittene Projekt in seinem Geist vage Gestalt annahm. Sein persönliches Geschick war inzwischen längst mit dem Weltenschicksal verbunden. Und die Tigerin hatte ihm tatsächlich der Himmel gesandt. Sie war sein Talisman. Überhaupt war die Hand des Himmels bei diesem Projekt in jeder Phase klar zu erkennen, sowohl direkt als auch indirekt.

Zur Zeit, als Tschugunow im 129. Wahlkreis kandidierte, hatte sich sein Lebensweg mit demjenigen Wasilij Wasiljewitsch Loktionows gekreuzt. Unter Pjotrs Freunden und jüngeren Mitstreitern gab es viele Studenten und Jungakademiker, die mit jugendlich ungetrübtem Blick auch wesentlich ältere Menschen realistisch einzuschätzen vermochten. Auf Empfehlung einiger dieser jungen Mitkämpfer hatte sich ein etwa vierzigjähriger Dozent der Politologie namens Loktionow zu einer Unterredung mit Tschugunow und seinem Stab eingefunden. Er erwies sich als kompetenter und vertrauenswürdiger Mann, der Tschugunow beim Umgang mit der bürokratisierten Wahlmaschinerie wertvolle Hilfe leistete.

Loktionow war von leicht überdurchschnittlicher Größe, von mittlerer Korpulenz, ruhig, schweigsam, tatkräftig und aktiv. Obwohl er ein zuverlässiger und allem Anschein nach hochanständiger Mensch war, fiel er weder äußerlich noch in seinem Benehmen besonders auf, und man konnte auch nicht behaupten, daß er durch ein Übermaß an Bildung geglänzt hätte. Das einzige auf Anhieb Beeindruckende an ihm waren seine großen, leicht hervorquellenden, ausdrucksvollen blauen Augen, die bisweilen eine grenzenlose Sehnsucht und einen grenzenlosen Schmerz erahnen ließen.

Später erfuhr Tschugunow, daß Wasilij ein Veteran der nationalistischen Bewegung war. 1993 hatte er sich an der Verteidigung des Weißen Hauses beteiligt und später den Aktivisten der Russischen Bewegung aus der Studentenbewegung nach Kräften geholfen. Irgend etwas trieb Tschugunow dazu, näheren Kontakt zu diesem Mann zu suchen. Dieser hatte inzwischen ein sehr herzliches Verhältnis zu der ganzen Mannschaft entwickelt, die Pjotr während des Wahlkampfs unterstützte, so daß dessen Bestrebungen, engere Beziehungen zu ihm zu knüpfen, völlig natürlich wirkten.

Als der Verband russischer Ingenieure seine Tätigkeit aufnahm, zog Tschugunow Wasilij zur Mitarbeit in dieser Vereinigung hinzu. Obschon der Verband schon bald eine große Anzahl junger, nationalistisch gesinnter russischer Technokraten zu seinen Mitgliedern zählte, war es durchaus nicht einfach, unter diesen Menschen zu finden, die sich für eine organisatorisch-technische Arbeit eigneten, so daß ein Mann wie Loktionow wie gerufen kam. Wasilij erwies sich abermals als zuverlässiger und verantwortungsvoller Mitarbeiter, und außerdem teilte er Tschugunows Auffassungen über die Aussichten des Landes und der Nation vollumfänglich.

Ihr Verhältnis wurde immer enger, doch blieb Loktionow auch weiterhin recht verschlossen. Das einzig Neue, was Tschugunow über ihn erfuhr, war, daß er sich in seiner Jugend leidenschaftlich für die Luftwaffe interessiert und eine Zeitlang am Moskauer Institut für Luftfahrt studiert hatte, ehe er aus irgendwelchen Gründen auf Politologie umsattelte. Dies war zwar recht ungewöhnlich und auf den ersten Blick unverständlich, fand seine Erklärung aber darin, daß Wasilij kein besonders gesunder Mann war. Allerdings zwang ihn sein männlicher Stolz, seine physischen Schwächen, die offenbar von einer in der Jugend erlittenen Verletzung herrührten, so gut wie möglich zu verbergen.

Verschlossenen Menschen vertraut man im allgemeinen nicht uneingeschränkt, aber als Tschugunow das Projekt zur Schaffung einer neuheidnischen Glaubensgemeinschaft in Angriff nahm, hätte er keinen besseren Organisator und Koordinator finden können als Loktionow. Auch im folgenden sollte sich dieser des Vertrauens, das ihm Pjotr entgegenbrachte, vollumfänglich würdig erweisen.

Pjotr und Wasilij waren unterwegs zu Tschugunows Haus außerhalb von Moskau, um gemeinsam mit Jura und Siegfried, die später eintreffen würden, ihren Aktionsplan für die nahe Zukunft zu besprechen. Als sie losfuhren, war es noch hell. Tschugunow saß am Steuer seines neuen Wagens. Nach einer Weile fragte Wasilij:

„Petrowitsch, warum müssen wir unsere Unterredungen eigentlich dort führen, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen? Hätten wir dies nicht auch im Büro tun können? Oder ist die Tätigkeit des Verbandes russischer Ingenieure etwa unvereinbar mit der Begründung einer neuheidnischen Religionsgemeinschaft?“

„Das Büro wird abgehört.“ Pjotr weihte Wasilij nun in fast alles ein und verschwieg lediglich, woher das Geld gekommen war und auf welchem Wege er die Warnung erhalten hatte.

Wasilij schwieg lange. Für ihn als introvertierten Menschen war dies nichts Außergewöhnliches. Schließlich war er in dieser Sache Tschugunows Untergebener, und wenn dieser der Ansicht war, man könne gewisse Angelegenheiten nur außerhalb der Stadt erledigen, so gab es daran nichts zu rütteln. Doch ganz abgesehen davon hatte Wasilij volles Vertrauen zu ihm.

Eine lange Autofahrt bringt Menschen einander näher, besonders wenn die Strasse völlig leer ist und nasser Schnee vom Himmel fällt. Es dämmerte. Tschugunow schaltete die Scheinwerfer ein, während Wasilij eine Flasche Bier aus seiner Sporttasche holte.

„Petrowitsch, hast du etwas dagegen, wenn ich trinke?“

„Warum sollte ich etwas dagegen haben?“

„Nun, manche Leute mögen es gar nicht, wenn sich andere entspannen, während sie selbst arbeiten.“

„Ich empfinde gegenüber meinen Mitarbeitern und Mitstreitern keine solchen Gefühle.“

„Ja, bezüglich deiner Einstellung zu deinen Untergebenen giltst du als erstaunlich liberal.“

Tschugunow lachte. „Weißt du, als ich bei der Armee war, war die entsetzlichste Drohung für meine Untergebenen folgende: ‚Mit dir stehe ich künftig nicht mehr Wache.’ Wenn ich Wachkommandant war, rissen sich die Soldaten darum, mit mir Wache schieben zu dürfen.“

„Das glaube ich dir ohne weiteres.“

Sie kamen auf die Wahlkampagne zu sprechen und erinnerten sich an die Umstände, unter denen sie sich vor einem Jahr kennengelernt hatten.

„Ja, die Ereignisse haben sich wirklich stürmisch entwickelt“, sagte Tschugunow.

„Das haben wir dir zu verdanken, Petrowitsch“, bemerkte Wasilij.

„Nicht mir, Wasilij, nicht mir, sondern dem Schicksal, den Göttern... Kurz und gut, einer Kraft, die höher ist als wir. Du kannst sie nennen, wie du willst.“

Das Gespräch ging auf das neuheidnische Projekt über, auf den massenhaften Zustrom junger Technokraten, der dem russischen Nationalismus ein neues Gesicht verlieh, und schließlich auf die nationale Revolution. Es war inzwischen völlig dunkel geworden. Schon bald würden sie den Rand des Städtchens erreichen, das Tschugunow als „sein Dorf“ zu bezeichnen pflegte.

Plötzlich verließ Tschugunow die Hauptstrasse. „Wenn ich dich richtig verstanden habe, ist es doch noch zu früh, um abzubiegen“, wunderte sich Wasilij, dem Pjotr den Weg zu seinem Haus beschrieben früher einmal beschrieben hatte.

„Weißt du, da vorne lungern gewöhnlich Bullen herum. An und für sich sind mir die piepsegal. Aber ich will mich rechtzeitig daran gewöhnen, stets auf der Hut zu sein und Orte zu vermeiden, wo man mich womöglich abfangen kann. Darum fahren wir jetzt auf Nebenstrassen zum Ziel.“

Wasilij lachte: „Du hast wirklich das Zeug zum Verschwörer.“

„Mitnichten. Ich bin kein Verschwörer, ich bemühe mich nur, vorsichtiger vorzugehen als früher.“

Die Strasse, auf der sie sich jetzt befanden, führte leicht aufwärts. Sie fuhren den Mauern eines alten Klosters entlang, das zu ihrer Rechten lag; links standen abbruchreife Häuser mit Höfen, die von Bäumen und dichten Sträuchern übersät waren. Eine einsame Straßenlaterne beim Eingangstor zum Kloster beleuchtete die Umgebung spärlich.

Im Licht der Scheinwerfer war ein schwarzer Streifen zu sehen, der sich quer über die Strasse zog, doch konnte man nicht erkennen, ob es lediglich eine kleine Vertiefung oder ein eigentlicher Graben war. Tschugunow brachte den Wagen zum Stillstand und stieg, ohne Motor und Scheinwerfer auszuschalten, aus, um das Hindernis zu begutachten. Reflexartig nahm er den Spaten mit, den er bei seinen Fahrten unweigerlich mit sich führte.

Noch ehe er zwei Schritte getan hatte, hörte er eine Stimme von hinten:

„He Freund, wie wär’s, wenn du mir deine Uhr und dein Handy ausleihen würdest? Und vielleicht hast du auch ein wenig Kleingeld für mich?“

Tschugunow trug dunkelgraue Hosen, schwarze Stiefel, eine schwarze Lederjacke und eine dunkelgraue Mütze. Auch sein Auto war von dunkler Farbe. Vor diesem Hintergrund war der Spaten in seinen Händen nicht zu erkennen, zumal er auch noch dunkle Handschuhe trug. Wortlos tat er einen Schritt in Richtung auf den Unbekannten, der seinerseits auf ihn zuschritt und dessen Umrisse sich immer deutlicher abzeichneten.

Tschugunow hatte einmal gemeinsam mit Anthropologen und Biomechanikern an einem Forschungsprojekt mitgewirkt, bei dem einer der Teilnehmer folgenden scherzhaften, aber wissenschaftlich durchaus ernstzunehmenden Ausspruch fallen ließ: „Ein Schlag von oben nach unten machte den Affen dem Menschen ähnlich, ein Schlag von unten nach oben machte ihn zum Menschen.“ Die meisten Leute fürchten einen Schlag von oben mehr als einen von unten; ein Gegner, der mit einem Gegenstand ausholt, scheint ihnen viel bedrohlicher als einer, der seine Arme hängen läßt.

Tschugunow trat nahe an den Liebhaber fremder Uhren, fremder Mobiltelefone und fremden Geldes heran und führte mit dem scharfen Spaten einen wuchtigen Hieb von unten, wobei er auf die linke Augenhöhle zielte. Der Schlag kam völlig unerwartet. Die Kante streifte das Lid und bohrte sich in die Braue, aus der sofort Blut quoll und den Wegelagerer blendete. Der Verlust der Orientierung sowie der Schmerz bewirkten, daß dieser hilflos zu taumeln begann, worauf Tschugunow mit dem Spaten eine brüske Bewegung nach oben vollzog und dem Räuber die Braue vollständig durchschnitt. Dann holte er mit der Waffe weit aus und ließ sie mit voller Wucht auf die Nasenwurzel seines Widersachers niedersausen.

Ein solcher Schlag hätte ohne weiteres tödlich sein können, aber darüber zerbrach sich Tschugunow wirklich nicht den Kopf. Schließlich kannte er das alte russische Sprichwort: „Einen Mörder darf man ungestraft umlegen, und einen Dieb kaltzumachen ist eine gottgefällige Tat.“

Das Ganze hatte lediglich einige Sekunden in Anspruch genommen. Der Liebhaber fremden Eigentums schwankte, begrub sein Gesicht in seinen Händen und wich, vom Blut geblendet und halb wahnsinnig vor Schmerz, zurück.

„Schweinehund!“ Hinter dem Rücken des blutüberströmten Banditen tauchte aus dem Nichts ein Spießgeselle auf und stürzte sich auf Tschugunow. Im matten Licht der Straßenlaterne und der Scheinwerfer sah Pjotr ein Messer in der Hand des Angreifers blitzen. Abermals holte er mit dem Spaten aus und ließ ihn auf die Hand niederzischen, die das Messer hielt. Der Bandit stieß einen kurzen Schrei aus, und die Waffe fiel scheppernd auf den Asphalt. Mit geballter Kraft versetzte Tschugunow dem Halsabschneider einen Schlag in die Kniegegend, worauf dieser zu Boden stürzte. Pjotr schickte sich zunächst an, ihm mit einem Fußtritt gegen den Hals endgültig den Garaus zu machen, begnügte sich dann jedoch damit, ihm mit dem Spaten eins auf die Finger zu geben, was völlig ausreichte, um ihn außer Gefecht zu setzen.

Von hinten war ein Rauschen und Trampeln zu hören, das Klirren einer zerbrechenden Flasche und dann das Geräusch irgendeiner Bewegung, die sich wiederholte. Tschugunow drehte sich blitzartig um und begriff im Nu, daß es noch einen dritten Straßenräuber gab, der ihm in den Rücken fallen wollte, ohne zu bemerken, daß er selbst einen Feind im Rücken hatte. Wasilij war aus dem Wagen gesprungen und schlug Nummer drei mit seiner Bierflasche ins Genick. Der Strolch verlor zwar nicht das Bewußtsein – davor bewahrte ihn vermutlich seine dicke Mütze -, sank aber in die Knie, versuchte sich wieder aufzurichten und griff sich mit beiden Händen an den Kopf. Doch Wasilij, den der Zorn in einen rasenden Berserker verwandelt hatte, trommelte mit dem scharfen Stummel der Bierflasche auf die Hände des Gestürzten und versuchte dann, ihm die Kehle durchzuschneiden oder ein Auge auszustechen. Zu jedem Widerstand unfähig, begnügte sich der Bandit damit, seinen Kopf mit seinen blutüberströmten Händen zu schützen.

Tschugunow rannte herbei und schlug den Verletzten sofort bewußtlos. Doch dann mußte er seine ganze Kraft aufwenden, um Wasilij, der dem regungslos am Boden Liegenden mit Fußtritten das Gesicht zermalmen wollte, zur Seite zu drängen.

„Genug, Wasilij. Von denen haben wir nichts mehr zu befürchten. Mach also Schluß.“

Nie zuvor hatte er seinen Freund in einem Zustand derartiger Raserei gesehen. Schließlich fand Wasilij seine Selbstbeherrschung wieder, kehrte in leicht gebückter Haltung zum Auto zurück und nahm in diesem Platz.

Die drei übel zugerichteten Halunken verkrochen sich in die Sträucher, die den verwahrlosten Hof mit dem eingestürzten Zaun umgaben. Tschugunow nahm mit Befriedigung zur Kenntnis, daß sie sich immer noch bewegten. Selbstverständlich hätte er solchen Galgenvögeln keine Träne nachgeweint, doch wäre es einem von ihnen eingefallen, das Zeitliche zu segnen, so hätte dies für Pjotr und Wasilij allerlei überflüssige Scherereien zur Folge haben können.

Tschugunow sah sich die Vertiefung, welche sich quer über die Strasse zog, an und überzeugte sich, daß ein Wagen sie mühelos überqueren konnte. Er setzte sich wieder ans Steuer, und die Fahrt auf kleinen Nebenstrassen am Stadtrand nahm ihren Fortgang.

Wasilij saß unbeweglich da. In seinen großen blauen Augen schien ein überirdisches Feuer zu leuchten. Schließlich unterbrach Pjotr das drückende Schweigen:

„Die Schläge des Herrn Dozenten haben es wahrhaftig in sich!“

Wasilij lachte unversehens hysterisch auf: „Und die Schläge des Herrn Professor erst recht!“

„Ja, wir beide bilden wirklich ein apartes Duo“, pflichtete Pjotr ihm bei. Wasilij lachte abermals nervös, zog eine zweite Flasche Bier aus seiner Sporttasche und begann plötzlich wie ein Wasserfall zu reden. Während sie die kurze noch verbliebene Strecke bis zu Tschugunows Haus zurücklegten, zeichnete er ein Bild seines Lebens. Als sie ihr Ziel erreicht hatten, half er Pjotr mechanisch, das Auto auszuladen, und begleitete ihn dann in die Küche, wo sie gemeinsam ein spätes Abendessen einnahmen. Daß sie dieses nicht trocken herunterwürgten, sondern sich dabei an erlesenem Cognac und Vodka gütlich taten, bedarf kaum der Erwähnung.

Schweigend und aufmerksam lauschte Tschugunow den Ausführungen seines Kameraden, wobei er nur ab und zu eine kurze Bemerkung einflocht, wenn es um konkrete Fragen wie das Ausladen der Maschine oder das Auftischen der Mahlzeit ging.

Wasilij war in einem Weiler nicht allzu weit von Moskau geboren. Sein Vater arbeitete als Techniker bei der Eisenbahn, seine Mutter war Krankenschwester. Ganz in der Nähe des Weilers lag ein kleiner Flugplatz. Zwar gab in der Gegend keinen einzigen Jungen, den das Starten und Landen der Flugzeuge nicht in seinen Bann gezogen hätte, doch für Wasilij wurde das Fliegen schon bald zu seinem recht eigentlichen Lebensinhalt. Dieser leidenschaftliche Traum vom Himmel war der einzige auffällige Zug an dem ansonsten durchschnittlich wirkenden, stämmigen und leicht phlegmatischen Knaben.

Schon als Kind las er alle Bücher über Flugzeuge und Piloten, die ihm in die Hände gerieten. Auch populärwissenschaftliche Bücher über die Luftfahrt verschlang er förmlich. Seine Leistungen in der Schule konnten sich sehen lassen, und er hätte ohne weiteres das Zeug zu einem guten Flugingenieur gehabt, doch sein einziger Wunsch war es, Pilot zu werden.

Mittlerweile war die Sowjetunion in ihr letztes Jahrzehnt eingetreten. Im Volk machten sich zunehmend Skepsis und Abneigung gegen den Staat und seine Armee breit, und die Anzahl der Kandidaten, die sich in die Fliegerschulen drängten, war längst nicht mehr so groß wie noch vor fünf oder gar zehn Jahren. Dennoch schaffte Wasilij die Aufnahme in eine solche Schule nicht. Der Grund dafür war seine Gesundheit. Sein vestibulärer Apparat sowie seine Sehkraft ließen zu wünschen übrig. Nicht, daß diese Probleme besonders schwerwiegend gewesen wären, doch im sowjetischen Imperium war es Brauch, für gewisse Arbeiten nur hundertprozentig gesunde Menschen heranzuziehen. Zum Glück für den Staat gab es deren noch genug.

In Japan können selbst Personen mit einer Sehkraft von plus oder minus vier noch Piloten werden. Im Land der aufgehenden Sonne hat ein jeder die Chance, durch Intelligenz, Hartnäckigkeit und harte Arbeit wettzumachen, was ihm die Natur versagt hat. Ganz anders in der Sowjetunion: Dort pflegte man nur Ressourcen von erstklassiger Qualität zu verwerten, und dies galt auch für menschliche Ressourcen. Auf die Erneuerung dieser Ressourcen verschwendete man kaum je einen Gedanken. Diese Mentalität war übrigens keine Besonderheit des Sowjetreichs, sondern hatte in Rußland seit jeher vorgeherrscht. Nicht umsonst sagte Metschnikow, ein Helfer Peters des Großen, nach der blutigen Niederlage der russischen Heere bei Narwa: „Gräme dich nicht, Herrscher; die Weiber werden schon noch gebären.“

Solche Fragen beschäftigten Wasilij damals freilich noch nicht. Sein einziger Gedanke war, wie er sich den Weg zum Himmel freikämpfen konnte. Als tüchtiger und strebsamer Student wurde er das Moskauer Institut für Luftfahrt aufgenommen, doch schwebte ihm auch weiterhin keine Laufbahn als Ingenieur, sondern als Pilot vor. Er widmete sich dem Fallschirmspringen sowie verschiedenen anderen Sportarten und tat sein Bestes, um seine angeborenen körperlichen Schwächen auszubügeln. Mit fanatischer Verbissenheit trainierte er seinen vestibulären Apparat, trieb Gymnastik und Akrobatik. Zur Verbesserung seiner Sehkraft versuchte er sich in verschiedenen Methoden des Autotrainings.

Seine unermüdlichen Bemühungen zahlten sich aus; jedenfalls konstatierten die medizinischen Kommissionen im Fliegerklub, daß sich seine Gesundheit ganz erheblich verbessert hatte. Ein entscheidender Durchbruch erfolgte, als Wasilij gemeinsam mit anderen Freiwilligen im Institut zur Erforschung medizinisch-biologischer Probleme an Experimenten teilnahm, bei denen verschiedene Methoden auf dem Gebiet der kosmischen Medizin getestet wurden. Den meisten dieser Freiwilligen brachte die Teilnahme an diesen Experimenten nicht mehr als ein willkommenes Taschengeld ein, doch gab es unter ihnen auch einige Pechvögel, die einen Teil ihrer Gesundheit in den Laboratorien des Moskauer Instituts für Luftfahrt zurückließen, sowie schließlich ein paar Glückspilze, darunter Wasilij, der als erster von den bahnbrechenden Erfolgen der medizinischen Technologie profitierte.

Die Götter lieben die Fanatiker der Idee, und zu diesen gehörte auch Wasilij. Er zweifelte längst nicht mehr daran, daß er schon in absehbarer Zukunft am Steuer eines Flugzeugs sitzen würde, und die Jahre im Moskauer Institut für Luftfahrt waren alles andere als verlorene Zeit gewesen. Schließlich war zu erwarten, daß sich sowohl die zivile Luftfahrt als auch die Luftwaffe um einen Piloten mit abgeschlossenem Ingenieursdiplom geradezu reißen würden.

Wer dieses Gefühl des Sieges über die eigene Natur nicht selbst empfunden hat, wird es nie begreifen können. Sich selbst zu überwinden ist wahrhaftig die größten Anstrengungen wert. Wie viele Schweiß, wie viele für seine Umwelt unsichtbaren Tränen des Schmerzes ein solcher Mensch doch vergießt! Wie unendlich schwer es doch ist, aus Sandhügeln Berge zu bauen! Doch gerade solche Menschen sind es wert, Menschen im wahren Sinne des Wortes genannt zu werden. Der englische Dichter Rudyard Kipling hat es wunderschön formuliert:

Wenn du die Strecke abgemessen, fest entschlossen
In kurzem Sturmlauf dir ein Monument zu setzen
Dann hast du, was die Welt zu bieten hat, genossen
Und dann, mein Sohn, wird man als Mann dich schätzen.

Und der Sieg ist um so süßer, wenn man vollbracht hat, was andere für unmöglich hielten, und sagen darf: „Das habe ich getan!“

Er schloß den vierten Lehrgang erfolgreich ab. Der Sommer verging wie im Fluge. Nachdem er sich wieder einmal im Fallschirmspringen geübt hatte, kehrte er nach Hause zurück. Auf einer dunklen Strasse seines Weilers, der inzwischen zur Moskauer Region gehörte, traten ihm vier junge Männer entgegen und verlangten von ihm Zigaretten. Als Nichtraucher hatte er keine solchen bei sich, doch darum ging es den Burschen gar nicht; sie suchten lediglich nach einem Vorwand, um einen einsamen Passanten zu verprügeln. In Rußland geschehen solche Dinge übrigens am laufenden Band.

Wasilij war damals physisch in Topform und bot den Strolchen unerschrocken die Stirn. So begann ein ungleicher Kampf. Einer der Kerle schlug ihn von hinten mit einem Gegenstand auf den Kopf, und nachdem er zu Boden gestürzt war, traten alle vier noch lange auf ihn ein.

Er überlebte, war aber fortan auf einem Ohr so gut wie taub, und seine Sehkraft war schlechter denn je zuvor. Seine Bewegungen wirkten unsicher, und er wurde immer wieder von heftigen Schwindelanfällen heimgesucht.

Sein Traum vom Himmel war ausgeträumt. Die ganzen Jahre hartnäckiger Arbeit und unentwegten Kampfes waren vergebens gewesen. Unter diesen Umständen schien eine Fortsetzung seiner Ausbildung am Institut für Luftfahrt, wo ihn alles und jedes an den Himmel erinnerte, sinnlos, und er brach sein Studium ab. Zu seinem Glück wurde er vom Militärdienst freigestellt, denn in der Armee hätte er auch noch die letzten Reste seiner Gesundheit eingebüßt.

Ein volles Jahr ließ er untätig verstreichen, doch anschließend nahm er ein Studium an einem Institut für Ingenieurs- und Wirtschaftswissenschaften auf. Es war ihm egal, in welchem Fach er ein Diplom erwerben würde, und daß er sich für Wirtschaftswissenschaft entschied, war reiner Zufall.

Daß der Himmel nun für immer in unerreichbare Ferne gerückt war, war das größte Unglück seines Lebens, und es ließ ihn gänzlich kalt, daß die Fahndung nach den Halbstarken, die ihn zusammengeschlagen hatten, zur reinen Farce ausartete, obwohl die Art und Weise, wie die Polizei den Fall behandelte, für ihn eine weitere Kränkung und Demütigung darstellte. Der Grund dafür, daß man nicht ernsthaft an einer Festnahme und Bestrafung der Schuldigen interessiert war, lag darin, daß einer der Schläger ein Neffe des Chefs der örtlichen Miliz war. Die Ermittler übten Druck auf Wasilij und seine Eltern aus, damit diese ihre Aussagen zurückzogen. Dies taten sie denn auch, weil sie der Ansicht waren, eine Bestrafung der Schuldigen bringe Wasilij nicht den geringsten Nutzen.

Mit dieser Einschätzung lagen sie allerdings fehl, denn Loktionow hätte durchaus eine reelle Chance besessen, von den Leuten, die seine Gesundheit ruiniert hatten, zumindest eine finanzielle Entschädigung zu erhalten. Damit hätte er seine Behandlung bezahlen können, die recht viel Geld verschlang, auch wenn die medizinische Versorgung damals auf dem Papier noch kostenlos war.

Ganz abgesehen von dieser „verpaßten Chance“, wie sich Wasilij später bitter ausdrückte, hatte der Zwischenfall eine unheilbare Wunde in seiner Seele hinterlassen, die immer dann mit besonderer Heftigkeit brannte, wenn er Zeuge wurde, wie brutale Schlägertypen auf den Strassen seines Wohnviertels friedliche Bürger ungestraft terrorisierten.

Seit jenen Tagen haßte Wasilij die Miliz und darüber hinaus das ganze sowjetische System. Dieser ursprünglich rein emotionelle Hass gewann nach und nach eine weltanschauliche Grundlage, die sich mit seinem zunehmenden Verständnis ökonomischer Fragen festigte. Die Perestroika war mittlerweile in vollem Gang, und Wasilij nahm am Kampf der „Demokraten“ gegen das kommunistische Regime teil. Zu jenem Zeitpunkt schloß er das Institut ab und war längst kein Unbekannter mehr. Man kannte ihn als Menschen, dem das Schicksal übel mitgespielt hatte, aber auch als erstrangigen Spezialisten auf seinem Fachgebiet und schließlich als senkrechten „Demokraten“. Dazu kam, daß er aus einer einfachen, rein russischen Familie stammte. Solche Leute waren jenen, die sich damals anschickten, das alte Regime aus dem Sattel zu heben, als Galionsfiguren höchst willkommen, aber schon bald wurden sie von skrupellosen Geschäftemachern in den Hintergrund gedrängt, die das Sowjetsystem ebenfalls verabscheuten, aber aus ganz anderen Gründen als die einfache und rechtschaffene Bevölkerung.

Man half Wasilij beim Erwerb der erforderlichen Qualifikationen auf einem neuen Gebiet, und er spezialisierte sich auf Politologie, die damals noch als Orchideenfach galt. Bald darauf wurde er in den Moskauer Stadtrat gewählt, und in den Zeitungen erschienen seine ersten Artikel. Sein Leben hatte nun wieder einen Sinn, und auch gesundheitlich ging es mit ihm zusehends aufwärts.

Zu jener Zeit ging Wasilij eine Liebesheirat ein, was ihm einen gewaltigen moralischen Auftrieb verlieh. Alles veränderte sich rasch zum Besseren; er sah wieder Licht am Ende des Tunnels und träumte im verborgenen abermals von der Eroberung des Himmels. Immerhin verdiente er mittlerweile ganz gut und konnte sich eine medizinische Behandlung in einer Privatklinik leisten. Was hinderte ihn daran, anschließend einem privaten Flugklub, wo man keine überflüssigen Fragen stellen würde, beizutreten und seinen alten Wunschtraum nachträglich doch noch zu verwirklichen? Gewiß, anno 1990 gab es noch keine Privatkliniken und auch keine privaten Flugklubs, doch brauchte man nicht mit prophetischen Gaben gesegnet zu sein, um vorauszusehen, daß es schon bald welche geben würde.

Nach den Umwälzungen des Jahres 1991 konnten es sich die „Demokraten“ leisten, Leute wie Wasilij in die Wüste zu schicken; schließlich hockten sie jetzt selbst an den Fleischtöpfen der Macht und benötigten keine Galionsfiguren in Gestalt einfacher russischer Menschen mehr, die sich mit Herz und Seele für die Demokratie einsetzten.

Merkwürdigerweise ist es vielen Beobachtern entgangen, daß die Führer der Widerstandsbewegung der frühen neunziger Jahre nicht aus der entmachteten Kommunistischen Partei hervorgingen, sondern aus den Reihen der Demokraten der achtziger Jahre. Um dies zu belegen, genügt der Hinweis darauf, daß sich Männer wie Konstantinow, Astafjew, Pawlow und Baburin erst während der Perestroika einen Namen gemacht haben, und zwar durch ihren Kampf gegen die kommunistische Nomenklatura. Die überwältigende Mehrheit der Kommunisten quittierte die Niederlagen der neuen Opposition mit unverhohlener Schadenfreude, und es war kein Zufall, daß die Kommunistische Partei dem Volk 1993 davon abriet, sich an der Verteidigung des Weißen Hauses zu beteiligen.

Zu denjenigen, welche die neuen Realitäten, zu deren Entstehung sie selbst eifrig beigetragen hatten, nicht akzeptieren wollten, gehörte auch Loktionow. Dieser war mittlerweile eine recht bekannte politische Figur und kämpfte mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln für die Verwirklichung seiner Ideale. Seine Einstellung führte ihn zwangsläufig ins Lager der Nationalisten, denn schließlich gingen die konsequentesten Gegner des Banditenregimes, das sich damals unter der Ägide des ersten Präsidenten der unseligen Russischen Föderation konsolidierte, mit nationalistischen Parolen auf die Strasse.

Loktionow nahm an der Verteidigung des Weißen Hauses teil und gehörte auch anschließend zu den aktivsten Kämpfern gegen das Regime. Doch eines Tages erblickte er bei einem Meeting der Opposition einen hohen Offizier der Miliz – den Onkel eines der Strolche, die ihn an jenem verhängnisvollen Sommerabend halbtot geschlagen hatten. Der Oheim war inzwischen zum General befördert worden. Vom Rednerpult stieß er wilde Verwünschungen gegen das Regime aus, aber alles deutete darauf hin, daß er selbst im Solde des Regimes stand und ihm dieses seine Dienste nicht schlecht entlohnte.

Nach diesem Schlüsselerlebnis zog sich Loktionow aus der aktiven Politik zurück. Sowohl als denkender Mensch als auch als Politologieprofessor begriff er nämlich, daß es im Lande keine Politik mehr gab. Was offiziell als „Politik“ bezeichnet wurde, war nichts weiter als eine Schmierenkomödie, die mit den Jahren immer unverschämter und widerlicher werden würde. Diese Erkenntnis entmutigte Wasilij jedoch nicht, sondern vergrößerte lediglich seinen Zorn und half ihm sogar dabei, sich ungeachtet der widrigen Umstände einen geachteten Platz in der Gesellschaft zu sichern. Er genoß nämlich den Ruf eines unabhängigen politischen Experten, und sein beißender Zynismus war geradezu eine Voraussetzung für seine Erfolge bei diesem schmutzigen Spiel. Er beteiligte sich als Berater bei Wahlen auf verschiedenen Ebenen, trug als Wahlhelfer bei mehreren Gouverneurswahlen maßgeblich zum Sieg der von ihm unterstützten Kandidaten bei und verdiente sich dadurch eine goldene Nase. Das Geld, das ihm in den Schoß regnete, benutzte er, um seine alten Pläne zu verwirklichen: Zunächst ließ er seine Gesundheit in einer teuren Privatklinik auskurieren, und dann nahm er in einem privaten Fliegerklub Flugstunden. Endlich kam der Tag, wo er am Steuer eines Flugzeugs saß!

Seine Frau war alles andere als entzückt über diese Aktivitäten; sie ließ sich von ihm scheiden und nahm ihre Tochter zu sich. Doch Loktionow nahm dies gelassen hin. Er hatte ja den Himmel erobert! Wenn er am Firmament über Moskau seine zwar nicht besonders gefährlichen – immerhin kannte er seine physischen Grenzen -, aber adretten Kurven zog, empfand er Genugtuung darüber, daß sein Jugendtraum doch noch Wirklichkeit geworden war. Zwar nicht in der Form, die ihm vorgeschwebt hatte, aber trotzdem...

Doch dann bekam die Russische Föderation ihren zweiten Präsidenten, und es setzte eine Entwicklung ein, die Loktionow auch dieser bescheidenen und im Grunde genommen hohlen Freude beraubte, denn in einem von einer Mafia-Bürokratie beherrschten Land besteht kein Bedarf an Polittechnologen. Nun hielt ihn nur noch die unstillbare Gier nach Rache an jenen aufrecht, die ihm mit ihrer Ungerechtigkeit und Gemeinheit das Leben verdorben hatten.

Zu diesem Zeitpunkt führten die Götter Loktionow mit Tschugunow zusammen.

„Auf den Sieg!“ Wasilij hob das Glas. Seine blauen Augen wirkten vor seinem rot angelaufenen Gesicht noch heller.

„Auf den Sieg!“ prostete Tschugunow seinem Freund zu.

„Ich danke dir für das Glück des heutigen Kampfes, Petrowitsch. Dir ist natürlich klar, daß ich mich gewissermaßen an den Lumpenhunden gerächt habe, die mich als jungen Mann zum Krüppel schlugen. Mir kommt es vor, als sei ich dadurch plötzlich jünger und schon fast wieder vollkommen gesund geworden.“

In der Tat sah er gar nicht schlecht aus, in Anbetracht dessen, was er getrunken hatte, sogar großartig. Er hatte seine übliche Selbstbeherrschung und Zurückhaltung völlig abgelegt und wirkte geradezu exaltiert.

„Du wolltest den Kerl, der vor dir am Boden lag, um die Ecke bringen“, sagte Pjotr. „Wenn ich dich nicht davon abgehalten hätte, wäre es bestimmt soweit gekommen.“

„Ganz richtig, ich war fest entschlossen, ihn über den Jordan zu befördern.“

„Ich kann dich nur allzu gut begreifen. Aber dies wäre nicht zeitgemäß gewesen. Wir haben diesen Halunken auch so eine Lehre erteilt, die sie nicht so bald vergessen werden.“

„Sie sind noch viel zu glimpflich davongekommen“, fauchte Wasilij.

„Wenn das Haus voller Kakerlaken ist, pflegt man sie nicht einzeln zu erledigen, mein Freund. Aber darauf kommen wir später zu sprechen. Erkläre mir lieber, wie du als namhafter Politologe und Ideologe deine wilden Rachegelüste mit den nationalen russischen Traditionen unter einen Hut bringen willst. Rachsucht gehört doch wirklich nicht zu unseren nationalen Charakterzügen!“

„Laß doch den Quatsch, Petrowitsch. Du weißt ganz genau, daß sich diese beiden Dinge sehr wohl unter einen Hut bringen lassen. Oder willst du, daß ich selbst das Symbol unseres Glaubens in Worte fasse?“

„Ich verhehle nicht, daß ich dies tatsächlich wünsche. Nach dem, was heute vorgefallen ist und was du mir heute erzählt hast, sehe ich für dich nämlich eine ganz entscheidende Rolle bei unserem Projekt vor, auch wenn du bisher nichts weiter als ein gewissenhafter Stabsmitarbeiter gewesen bist, der sich in ideologischen Fragen an die von seinem Arbeitgeber vorgegebene Linie zu halten hatte. Ich hoffe, diese Feststellung schockiert dich nicht allzu sehr?“

„Überhaupt nicht.“

„Dann können wir weiterfahren. Du bist also über Nacht zu einem der Hauptakteure bei der Verwirklichung des Projekts geworden. Darum ist es mein Wunsch, daß du persönlich das Symbol unseres Glaubens entwirfst.“

„Im Namen des Heiligen Ogaberus schlage ich dich zum Ritter...“, sagte Wasilij hämisch.

„Verleihe mir gefälligst einen höheren Rang! Zum Kommandanten will ich geschlagen werden und nicht bloß zum Ritter“, äffte Pjotr den spöttischen Ton seines Kameraden nach und fuhr dann fort:

„Daß wir im Zustand der Angetrunkenheit und nach einem solchen Streß das Symbol unseres Glaubens küren, bietet Gewähr für unsere absolute Ehrlichkeit. Einverstanden?“

„Ja, aber ich möchte einschränkend bemerken, daß wir kein bißchen betrunken sind. Wir sind nur rot angelaufen wie die Krebse.“

„Gut, dann korrigiere ich meine Worte dementsprechend.“

Wasilij kicherte laut, denn der Alkohol war ihnen tatsächlich zu Kopf gestiegen. Doch selbst im Zustand fortgeschrittener Trunkenheit vergißt ein Meister nicht, was er kann. Der Professor und der Dozent sprachen immer noch in vollständigen, grammatikalisch korrekten Sätzen, auch wenn ihnen die Zunge bisweilen nicht mehr so recht gehorchen wollte.

„Weißt du, wie viele Menschen wir heute gerettet haben, Petrowitsch?“ fragte Wasilij.

„Meiner Meinung nach haben wir einzig und allein uns selbst gerettet, indem wir den drei Schuften das Fell gegerbt haben“, antwortete Tschugunow.

„Da bist du gründlich auf dem Holzweg“, sagte Wasilij mit lauter, bedeutungsvoller Stimme und fuchtelte wild in der Luft herum. „Wir haben mindestens zehn Menschen gerettet. Jene zehn Menschen nämlich, welche diese Schweinehunde sonst verprügelt, ausgeraubt, gedemütigt, zu Krüppeln gemacht hätten. Wenn irgend jemand den Halunken, die mich damals zusammenschlugen, vorher eine gründliche Abreibung verpaßt hätte, so wäre ich jetzt vielleicht Versuchspilot...“

Sein Gesicht verzog sich zu einer traurigen Grimasse, und ohne seinem Kollegen zuzuprosten, goß er sich noch ein Glas hinter die Binde.

„Das wirst du schon noch“, versuchte Tschugunow ihn zu trösten.

„Zum Amateurpilot bringe ich es sicher noch, aber zum Testpiloten wird es kaum reichen. Übrigens sind wir vom Thema abgekommen. Ich wiederhole: Wenn alle so handeln würden wie wir, gäbe es keine solchen Lumpen, die Gefallen daran finden, zu dritt auf einen loszugehen...“

„Auf zwei.“

„Mich haben sie nicht bemerkt; also sind sie zu dritt auf einen losgegangen. Solches Gesindel gäbe es also in Rußland nicht mehr. Es wäre längst ausgestorben. Doch im Neuen Testament heißt es: ‚Mein ist die Rache, spricht der Herr.’“ Und weil das russische Volk diese Lehre verinnerlicht hat, wimmelt es in unserem Land nur so von kriminellem Abschaum, mit dem das Volk einfach nicht fertig wird – weil es sich nicht rächt. Der russische Mensch rächt sich nicht an denen, die ihm persönlich ein Unrecht zugefügt haben; er rächt sich nicht an seinen lausigen Herrschern; er rächt sich nicht an denen, die ihn betrügen und ausplündern. Meinst du etwa, dieser Verzicht auf Rache sei einzig und allein Sache dessen, der seinem Peiniger großmütig verzeiht? Mitnichten! Er ist ganz einfach ein Verbrechen gegenüber den nächsten Opfern. Und die Zahl dieser Opfer wächst unaufhörlich: Die Zahl der Opfer der Bullen, der Opfer der Machthaber, der Opfer der Kriminellen.

Wo, bitteschön, ist die Wurzel des ganzen Jammers zu suchen? In jenem Gebot, das es uns verbietet, uns zu rächen, selbst wenn wir dazu in der Lage sind. Weißt du nicht, daß der verbreitetste Männername im Kiewer Russenland ‚Mstislaw’ war, ‚derjenige, der durch Rache Ruhm erwarb’? Das ist ein waschechter russischer Name! Aber nachdem die Russen das semitische Christentum übernommen hatten, gaben sie ihren Kindern Namen wie...“

„Wie Wasilij und Pjotr“, höhnte Tschugunow.

„Verschone mich gefälligst mit deinem ekelhaften Zynismus, Petrowitsch! Wir werden unser Recht auf arische Namen schon noch zurückerobern. Aber kehren wir zum Thema der Rache zurück:

Für erlittenes Unrecht sollte man sich persönlich rächen und die Rache nicht an irgendwelche anderen Leute delegieren. Es wäre beispielsweise illusorisch zu hoffen, daß die Polizei die Kerle, denen wir heute eine Lektion erteilt haben, schon noch zur Verantwortung ziehen wird. Im Gegenteil: Die Polizei gehört selbst zur Verantwortung gezogen. Schließlich wäscht man sich die Hände nicht mit Wasser aus einer Senkgrube, sondern man pumpt dieses Wasser ab und entsorgt es. Genau so sollten wir die Bestrafung von Verbrechern an niemanden delegieren. Das Recht auf Rache, ja die Pflicht zur Rache, gehört uns und sonst niemandem. Voraussetzung dafür ist allerdings, daß wir uns zu einem neuen Glauben bekennen, oder besser gesagt, daß wir zu unserem alten Glauben zurückkehren, dem Glauben an Götter, die uns die Rache nicht verbieten. Darum braucht das Russenland unser Projekt zur Wiederherstellung des Glaubens an unsere alten Götter. Es ist dies mein persönliches Projekt, egal von wem die Idee stammt, denn für mich zählt im Leben nichts anderes mehr als der Wunsch nach Rache.

Bist du mit meinem Symbol des Glaubens zufrieden?“

„Vollkommen. Aber mit Gebeten allein erreichen wir nichts. Unsere Götter finden keinen Gefallen an Leuten, die sich betend die Stirn wund schlagen. Sie lieben Menschen der Tat.“

„Unsere Klöster werden keine Gebetshäuser sein, sondern Stützpunkte zur Ausführung unseres Projekts. Diese Stützpunkte legalisieren wir, indem wir sie formell zu Klöstern erklären. Ich habe schon bemerkt, daß auch unsere Spitzenleute längst nicht in alles eingeweiht sind. Und das ist auch gut so. Schon ein unbedachtes Wort kann unseren Feinden dabei helfen, sich ein ziemlich genaues Bild von unseren Plänen zu machen.“

„Das wäre schlimm. Je weniger unsere Leute schwatzen, desto besser.“

„Sicher, aber darum geht es jetzt nicht. Siegfrieds Idee mit dem fliegenden Einsatzkommando hat es mir angetan. Er hat ganz recht: Das Einsatzkommando muß unbedingt über Flugzeuge verfügen.“

„Erkläre mir das genauer.“

„Jetzt, wo wir Geld haben, können wir sehr wohl ein paar ultraleichte Flugmaschinen kaufen und ausrüsten. So etwas in der Mitte zwischen einem Flugzeug und einem Deltaflieger. Das ideale Transportmittel für das Einsatzkommando.“

„Kannst du nicht etwas konkreter werden? Welche Reichweite sollen diese Flugapparate haben? Wo sind die Flugplätze, die Stützpunkte zum Auftanken etc.?“

„Ein solches Mini-Flugzeug kann auf jedem beliebigen Feld landen, im Winter auf Skiern. Auch starten kann es von jeder beliebigen Anhöhe. Die Reichweite der Flugapparate beträgt zwei- bis dreihundert Kilometer. Die Stützpunkte richten wir in der Nähe unserer Klöster ein, und das erste Einsatzkommando können wir schon mit zehn Mann auf die Beine stellen. So ein Kommando taucht aus dem Nichts auf, macht aus dem Gegner Kleinholz und erhebt sich im Nu wieder in die Lüfte. Und auf den ersten Schlag folgt gleich der zweite: Das Kommando schwärmt abermals aus, schlägt zu...“

„... und setzt sich dann in die Ukraine ab, um auf einem unserer dortigen Stützpunkte auszuruhen und auf den nächsten Angriff vorzubereiten.“

„Prima! Ein solches Einsatzkommando brauchen wir in der Tat. Ein Kommando himmlischer Rächer.“

„Aber diese himmlischen Rächer muß man ausbilden. Schließlich müssen sie erstens fliegen und zweitens kämpfen können. Solche Fertigkeiten eignet man sich nicht über Nacht an, und wir haben sehr wenig Zeit.“

„Wieviel?“

„Zwei oder drei Monate, oder vier, wenn es hochkommt.“

„Dann müssen wir Männern, die bereits als Kämpfer ausgebildet sind, das Fliegen beibringen, oder wir müssen Flieger noch zu Kämpfern schulen. Drücke ich mich verständlich aus?“

„Vollkommen. Über die Einzelheiten müssen wir uns mit Jura und Siegfried unterhalten. Da sind sie übrigens.“

Von draußen hörte man den neuen Minibus Juri Bulajews brummen. An dieser Art von Automobilen hatte Jura einen Narren gefressen.

Kapitel 15. Schmutz und Feuer

„Da sind wir nun“, sagte Siegfried in jenem überzeugten und optimistischen Ton, den er sich mittlerweile angeeignet hatte. „Warum seid ihr so griesgrämig?“

„Und warum steckt ihr schon mitten im Saufgelage? Hättet ihr nicht wenigstens auf uns warten können?“ doppelte Jura mit der für ihn so typischen leichten Ironie nach.

„Keine Sorge, du kommst auch noch auf deine Kosten“, erwiderte Pjotr und erzählte in kurzen Worten von ihrem Abenteuer.

Jura hörte aufmerksam zu. „Das sieht ganz nach einer Provokation aus. Aber dein Entscheid, auf Nebenstrassen zu fahren, war reiner Dilettantismus und kommt mir vor wie ein Kampfspiel bei den jungen Pionieren zur Sowjetzeit. Was man nicht kann, davon läßt man besser die Finger; hab ich dir das nicht schon hundertmal gesagt, Professor?“

„Du bist im Unrecht, Jura“, warf Wasilij ein. „Petrowitsch hat die Kerle nach allen Regeln der Kunst abserviert.“

„Trotzdem war das Ganze nicht mehr als ein Bubenstück. Wolltet ihr euch etwa vor euren Bräuten als Helden aufspielen?“

„Apropos Bräute: Wo stecken die eigentlich?“ rief Siegfried, der offenbar nur noch an das eine dachte.

“Sind wir hierhergekommen, um uns mit Miezen zu vergnügen oder um ernsthafte Diskussionen zu führen?“ wies Jura seinen Freund zurecht.

„Keinen Streit, Kinder. Führt euch auf wie zivilisierte Menschen! Wir sind sowohl zum Diskutieren als auch zum Entspannen gekommen. Aber...“

Pjotr erinnerte sich plötzlich, daß heute Mittwoch war. Großer Gott, es war schon tief in der Nacht, und er hatte die Tigerin noch nicht angerufen! Schließlich hatte er ihr versprochen, am Mittwoch zu kommen. Er griff zum Handy. Richtig, drei Mitteilungen!

„Du bist nicht gekommen und hast mir nicht einmal geschrieben, daß du mich liebst. Du herzloser Tölpel! Ich werde dich aus meinem Herzen verbannen.“

„Hallo. Entschuldige meine Grobheit, aber ich habe so auf dich gewartet. Mein Tölpelchen, wenn ich dich zu fassen kriege, fress ich dich vor lauter Liebe mit Haut und Haaren auf und ersticke dich mit meinen Küssen.“

„Mein Narkotikum, mein Hoffnungsstrahl. Ich brauche dich so dringend wie die Blume den Tautropfen. Du bist mein Held, mein Ritter. Ich liebe dich. Ich küsse jeden Zentimeter deines Körpers, inklusive deine Muttermale.“

„Entschuldigt mich für einen Augenblick. Er wählte die Nummer ihrer Wohnung.

„Tigerchen?“

„Du gußeiserner Tölpel, weißt du eigentlich, wie spät es ist?“

„Vermutlich so um die halb eins. Aber ich konnte dich nicht vorher anrufen und dir auch keine SMS schicken.“ Er berichtete ihr kurz von dem Vorgefallenen.

„Du treibst es ja wirklich toll, Professor. Aber ich hab dich unheimlich lieb. Wer hat dich mir bloß auf den Hals gehetzt?“

„Hab Nachsicht mit deinem Tölpel, mein Tigerchen.“

„Na gut, ich hab dir schon längst verziehen. Begreifst du das denn nicht?“

„Bei Frauen begreife ich nie etwas. Schließlich bin ich ja ein gußeiserner Tolpatsch.“

„Genau das bist du!“

„Hört endlich auf mit eurem Gegurre, ihr verliebten Turteltauben”, zischte Jura.

„Frag sie noch, ob wir uns morgen mit Soja und Marina treffen können“, sagte Siegfried.

„Tigerchen, die Parteigenossen platzen vor Tatendrang. Ich ruf dich morgen wieder an. Wie wäre es übrigens, wenn wir uns morgen wieder im Bad treffen würden?“

„Mit Soja und Marina?“

„Ja, aber zu uns ist inzwischen noch ein neuer Genosse gestoßen.“

„Du bist ein Frechdachs, Professor. An euch ist wirklich Hopfen und Malz verloren. Morgen geht es unter keinen Umständen. Bleibt also bis zum Wochenende. Aber ihr seid ja so beschäftigt, daß man eine richtige Wut auf euch kriegt.“

„Wir bleiben. Dann also gute Nacht!“

„Schlaf gut, du Ritter von der traurigen Gestalt.“

Tschugunow legte den Hörer auf und wandte sich an seine Gefährten:

„Marsch ins Bett, meine Herren. Wir sollten uns einmal gründlich ausschlafen; die Diskussionen können bis morgen warten. Am Freitag und Samstag hauen wir dann so richtig auf die Pauke, und am Sonntag fahren wir in die Stadt zurück.“

„Einverstanden“, pflichtete Jura bei, und jeder zog sich in sein Zimmer zurück.

Der russische Präsident sah seine Gesprächspartner mürrisch und mit der Miene eines gekränkten Halbwüchsigen an. Er lauschte den Ausführungen des Verteidigungsministers mit wachsender Irritierung, doch dieser sprach mit dem für ihn typischen einnehmenden, leicht lächelnden Gesichtsausdruck weiter und erläuterte seine Pläne zur Abschaffung eines Gesetzes, durch das Studenten bis zum Abschluß ihrer Ausbildung vom Militärdienst freigestellt wurden. Das Wichtigste hatte er bereits gesagt, und es ging nur noch um Einzelheiten. Der Präsident war drauf und dran, ihm ins Wort zu fallen, vermochte sich jedoch mühsam zu beherrschen.

„Natürlich darf ich die Suppe, die mir diese Kerle einbrocken, dann alleine auslöffeln“, dachte der Präsident. „Sie selbst werden sich wie immer aus der Affäre ziehen. Womöglich kommt es so heraus wie mit der Ukraine, wo man mich nach Strich und Faden hereingelegt hat. In gewisser Hinsicht mögen sie mit ihren Argumenten ja recht haben, doch täten sie gut daran, sich Gedanken über die Folgen zu machen. Aber vielleicht wollen sie das gar nicht? Womöglich wollen sie mich schlicht und einfach übers Ohr hauen, und dann... Dann werden sie abwarten und sehen, wie der Hase läuft. Denen ist ohne weiteres zuzutrauen, daß sie einen ‚patriotischen’ oder im Bedarfsfall sogar einen ‚orangenroten’ Putsch inszenieren. Eines ist jedenfalls sicher: Wenn es schiefgeht, bin ich der Neger, und wenn es gut herauskommt, heimsen sie die Dividenden ein.“

„Ein Detail ist mir bei Ihren Ausführungen nicht klar“, sagte der Präsident mit mühsam unterdrückter Wut, noch ehe der Minister geendet hatte.

„Welches?“

„Die Abschaffung der provisorischen Freistellung der Studenten vom Militärdienst wurde gleichzeitig mit der Verkürzung der Dienstzeit angekündigt. Wo ist in dem Entwurf des neuen Gesetzes von einer solchen Verkürzung die Rede?“

„Wir haben vor, die Verkürzung der Dienstzeit separat bekanntzugeben. Etwas später...“

Nun platzte dem Präsidenten endgültig der Kragen. „Stellen Sie sich nicht dümmer, als Sie sind!“ herrschte er den Verteidigungsminister rüde an. „Die Öffentlichkeit wird auf den neuen Gesetzesentwurf ist auch so äußerst negativ reagieren. Wollen Sie die Verkürzung der Dienstzeit vielleicht auf den Sankt Nimmerleinstag verschieben, damit die nächsten Jahrgänge nach wie vor zwei Jahre lang Dienst schieben müssen? Und ganz nebenbei: Warum dauert die Ausbildung bei der deutschen Bundeswehr eigentlich nur neun Monate und bei uns zwei Jahre?“

Der Minister hätte diese naive Frage dahingehend beantworten können, daß man bei der Bundeswehr tatsächlich militärisch ausgebildet wird, während die Russische Föderation ihre Soldaten als Staatssklaven mißbraucht und die Generäle immer mehr von diesen Staatssklaven wollen. Nicht nur die Generäle übrigens... Schließlich unterhalten nicht weniger als vierzehn Ministerien eigene „Streitkräfte“. In welchem anderen Land der Welt existierte eine solche legalisierte Form der Sklaverei heutzutage eigentlich noch?

Aber war dieser „beleidigte Halbwüchsige“, der den Naiven spielte, etwa bereit, den Sklavenhaltern auf die Finger zu klopfen? Nein, dazu war er zu schwach. Nun verlangte er von ihm, dem Verteidigungsminister, für ihn Kopf und Kragen zu riskieren, nur damit er selbst kein Risiko eingehen mußte! Er war ganz nach oben gekrochen, doch nun war es an der Zeit, daß er seinen Platz im Parterre selbst zahlte.

“Unserem Lande wohnen gewisse Besonderheiten inne...“

„Sie reden jetzt nicht am Radio oder am Fernsehen. Äußern Sie sich gefälligst weniger geschraubt und dafür konkreter.“

„Der Mann hat immer noch die Manieren eines Tschekisten“, ärgerte sich der Minister. Glaubte dieser Geheimdienstmajor wirklich, ihn, einen ehemaligen General, abkanzeln zu können wie einen dummen Schuljungen? Dann täuschte er sich gründlich. Angeblich hing auf dem israelischen Flughafen in dem Saal, wo die Fluggäste aus Rußland abgefertigt wurden, ein Schild mit der Aufschrift: „Sie brauchen sich nicht wichtig zu machen. Hier sind alle Juden.“ Vor diesem Präsidenten gehörte ein Plakat folgenden Wortlauts aufgehängt: „Sie brauchen sich nicht wichtig zu machen. Hier sind alle Ex-Tschekisten.“

Dies dachte der Minister; laut aber sagte er:

„Na gut, dann nehmen wir eben eine entsprechende Änderung am Gesetzestext vor.“

„Jawohl, tun Sie das. Und vergessen Sie es bitte nicht. Bei uns verschwinden nämlich mit schöner Regelmäßigkeiten ganze Absätze, auf die wir uns zuvor verbindlich geeinigt haben, aus den Gesetzesentwürfen, und im nachhinein sollen immer nur irgendwelche zerstreuten Sekretärinnen daran schuld gewesen sein.“

Der Minister kochte innerlich vor Zorn. Er würde die größten Schwierigkeiten haben, den neuen Kurs einer Meute von Generälen schmackhaft zu machen, die ihn allen Anzeichen nach bereits als ihrem Paten anerkannten. Na schön, dann würde er diesem eingebildeten „Führer“ wenigstens noch einen Schuß vor den Bug setzen!

„Es ist meine Pflicht, Ihnen in Erinnerung zu rufen, daß sich das Problem nicht auf die Verkürzung der Dienstzeit beschränkt. Die völlige Abschaffung der Bestimmung, durch welche Studenten provisorisch vom Kriegsdienst freigestellt werden, wird in der Öffentlichkeit so oder so für böses Blut sorgen, und die allgemeine Unzufriedenheit wird auch vor der gesellschaftlichen Elite nicht haltmachen. Schließlich haben auch wohlhabende und einflußreiche Familien Söhne.“

„Dann schenken Sie diesen Details bei Ihrer Überarbeitung des Gesetzesentwurfs gebührende Aufmerksamkeit“, konterte der Präsident. „Sorgen Sie dafür, daß zumindest ein Teil der Studenten auch weiterhin provisorisch vom Dienst freigestellt bleibt. Ändern Sie das Gesetz schrittweise ab. Aber muß ich Ihnen eigentlich alles und jedes erklären? Schauen Sie sich einmal das an!“

Der Präsident zog aus einem dicken Aktenbündel, das vor ihm lag, ein Blatt hervor.

„Wenn sie uns zum Dienst in der Armee zwingen, werden wir unsere Gewehre bei der erstbesten Gelegenheit umdrehen und auf sie richten! Der Bund freier Studenten.“

„Ein solcher Aufruf zur Meuterei gilt als Schwerverbrechen“, empörte sich der Innenminister. „Die Rädelsführer müssen unbedingt dingfest gemacht und exemplarisch bestraft werden.“

Bezeichnenderweise quittierte der Geheimdienstchef diese Äußerung mit eisigem Schweigen.

„Dann machen Sie sie mal schön dingfest!“, fauchte der Präsident. „Nur schade, daß es gar keinen ‚Bund freier Studenten’ gibt. Hinter diesem Aufruf stecken nämlich ganz andere Organisationen. Man sollte sich wirklich davor hüten, das Volk bis zur Weißglut zu reizen.“

„Aha, der Schlawiner denkt bereits darüber nach, wie er seine Haut retten kann“, dachte der Geheimdienstchef erbost. „Er rechnet wohl damit, ungeschoren davonzukommen. Im Grunde genommen ist ihm zwar höchstwahrscheinlich alles egal. Wenn man ihm eine gesicherte Zukunft als wohlhabender Privatmann in Aussicht stellt, pfeift er doch auf uns alle. Er wird dann Sport treiben, baden und sich an der Sonne bräunen. Auch den Weibern wird er sich widmen. Angeblich ist er in der Jugend auf diesem Gebiet ja zu kurz gekommen; jedenfalls behaupten das meine Psychologen. Aber für uns wird die Situation immer brenzliger. Wir müssen schleunigst herausfinden, wer sonst noch bereit ist, den Bettel zu schmeißen. Vermutlich gehören alle Ökonomen und Finanzexperten zu dieser Kategorie, denn schließlich stehen die beim Westen noch mehr in der Kreide als der Rest. Aber auch unsere Kollegen sind alles andere als Engel. Von denen ist jeder bereit, seinen eigenen Vater zu verkaufen, wenn man ihm nur verspricht, daß er in Ruhe gelassen wird, und ihm dazu möglichst noch ein paar fesche Miezen besorgt.“

Er erinnerte sich an den Skandal, den die Ermittlungen nach dem schwersten Terrorakt der vergangenen Jahre ans Licht gebracht hatten. Damals hatten Banditen in einer kaukasischen Stadt eine Schule besetzt und die Schulkinder als Geiseln genommen. Ein Milizionär hatte das Fahrzeug, in dem die Verbrecher saßen, für sage und schreibe tausend Rubel in die Stadt gelassen! Tausend Rubel! Und dieser erbärmliche Sergeant war nur ein Beispiel von unzähligen. Wie viele Leute sich damals für einen Judaslohn an die Terroristen verkauft und mit diesen zusammengearbeitet hatten, wußten nur Gott und er, der Geheimdienstchef. Aber er würde dichthalten. Vorderhand wenigstens... Schließlich war dies seine Trumpfkarte, die er ausspielen konnte, wenn die Zeit dafür reif war.

„Worüber denken Sie nach, Viktor Pawlowitsch?“ Die gereizte Stimme des Präsidenten riss den Geheimdienstchef jäh aus seinen Grübeleien. „Immerhin handelt es sich da um Fragen, für die Ihr Amt zuständig ist.“

„Eben über diese Fragen habe ich nachgedacht. Wir sollten es vermeiden, mit der Tür ins Haus zu fallen. Allzu viele Kräfte und Gruppierungen arbeiten heutzutage gegen Russland. Da gilt es die Situation sorgfältig einzuschätzen und keine Fehler zu begehen.“

„Dann schätzen Sie die Situation bitteschön sorgfältig ein und erstatten Sie mir dann Meldung! Mit Gemeinplätzen ist uns nicht geholfen. Wenn irgendwelche konkreten Interessen, oder vielmehr die Interessen irgendeines Ministeriums oder Amtes tangiert sind“ – die Korrektur nahm er vor, damit die Formulierung nicht allzu herausfordernd klang -, „dann behauptet jeder von ihnen, die Lage fest im Griff zu haben. Doch wenn es darum geht, seine Pflicht zu tun, flüchten Sie sich alle in inhaltsleere Gemeinplätze. Sie haben Ihre Arbeit sorgfältiger und verantwortungsbewußter zu erfüllen als bisher. Merken Sie sich das: Sorgfältiger und verantwortungsbewußter! Die Sitzung ist beendet. Sie können über Ihre Zeit verfügen.“

Die Minister gingen auseinander. Manchen von ihnen konnten sich des Eindrucks nicht erwehren, die letzten Sätze des Staatsoberhaupts veranschaulichten auf treffliche Weise, was er eben über „inhaltsleere Gemeinplätze“ gesagt hatte.

Der Verteidigungsminister räkelte sich im Salon seines Dienst-Mercedes und hing trüben Gedanken nach. Selbst dem hintersten Gimpel mußte mittlerweile klar sein, daß der Präsident das Handtuch geworfen hatte und bereit war, denselben Weg zu beschreiten wie zuvor seine georgischen und ukrainischen Amtskollegen. Schließlich war diesen nach ihrem Rücktritt kein Haar gekrümmt worden, und sie lebten weiterhin in Saus und Braus. Bedeutend weniger erfreulich war es hingegen ihren Männern fürs Grobe ergangen. Einer davon war sogar ins Jenseits befördert worden. Mit zwei Schüssen. Man mußte schon ein Vollidiot sein, um an das Ammenmärchen von seinem „Selbstmord“ zu glauben. Ein solches Schicksal drohte auch dem Verteidigungsminister und seinen Kollegen. Jawohl, man würde sie zweifellos aus dem Weg räumen, wie die die Financiers der KPDSU anno 1991.

Dann würde sich dieser aalglatte Ränkeschmied also auf Skipisten tummeln, während sie, seine treuen Stiefelknechte, sich die Radieschen von unten ansehen durften? Wenn er dies wirklich dachte, war er gründlich auf dem Holzweg. Bildete sich der Kerl tatsächlich ein, klüger zu sein als seine Minister? Mußte man ihm wirklich in Erinnerung rufen, daß er während seiner Ausbildung als Geheimdienstagent beim Intelligenztest nur 17 von 40 Punkten geholt hatte? Er, der Verteidigungsminister, hatte es immerhin auf respektable 29 Punkte gebracht.

Zu seinem Verdruß erinnerte sich der Verteidigungsminister plötzlich daran, daß jener Agent, der die höchste Punktzahl in der Geschichte der Geheimdienstschule erhalten hatte – 37 von 40 -, schon bald zur CIA übergelaufen war. Ja, intelligente Menschen wünschten diesen Staat zum Teufel. Womöglich warteten der heutige Kremlboss nur auf die Gelegenheit, es diesem supergescheiten Agenten gleichzutun – auf einer höheren Stufe natürlich, doch am Kern der Sache änderte das nichts.

Was galt es in einer solchen Lage zu tun? Es gab nur zwei Alternativen: Entweder man stellte sich an die Spitze der sich abzeichnenden Entwicklung, oder aber man wartete ab, bis der Präsident und seine Leute zum Schlag ausholten und kam ihnen rechtzeitig mit einem Putsch zuvor. Dieser würde natürlich weltweite Proteste auslösen und zur Isolierung Rußlands führen. Ob es den Putschisten gelingen würde, das Land wiederum zur Supermacht zu machen? Oder würden sie scheitern? Dann würden die Folgen für sie noch weit katastrophaler sein als nach einer simplen Übergabe der Macht an die Orangenroten. Würde sie in diesem Fall nicht dasselbe Schicksal ereilen wie das GKTschP[2].

Diese Fragen mußte jeder für sich selbst beantworten. Jedem das Seine! Schließlich war er, der Verteidigungsminister, weder Gendarm noch Polizist. Es gab keinen Anlaß, ihn vor ein internationales Gericht zu stellen. Er hatte keine Terrorakte inszeniert und niemanden in die Luft gesprengt. Er mußte sich einfach vorsichtiger und diplomatischer verhalten und es vermeiden, sich zu exponieren. Im Grunde genommen gab es lediglich zwei Szenarien, die den Anstoß zu einer orangenroten Revolution geben konnten: Studentendemonstrationen als Folge des neuen Gesetzes, durch das die provisorische Freistellung der Studenten vom Militärdienst aufgehoben wurde, oder aber soziale Unruhen. Im ersten Fall wäre er als Urheber des Gesetzes, welches die Studentenkrawalle auslöste, mitschuldig am Ausbruch einer orangenroten Revolution. Also war die zweite Variante unbedingt vorzuziehen.

Was galt es nun zu tun, um die gewünschte Entwicklung in Gang zu bringen? Erstens durfte man den für soziale Fragen zuständigen Ministern – dem Wirtschaftsminister, dem Finanzminister und so weiter – ja keinen Widerstand leisten, sondern man mußte sie im Gegenteil unterstützen, ja wenn möglich sogar zu noch kühneren „Reformen“ – wie sie ihre mörderische Politik nannten – ermuntern. Der Wirtschaftsminister und der Finanzminister sollten den Eindruck bekommen, sie besäßen unter den „staatstragenden Patrioten“ durchaus Anhänger und er, der Verteidigungsminister, gehöre auch zu diesen, hänge dies jedoch aus taktischen Gründen nicht an die große Glocke.

Unter diesen Umständen würden die „Reformer“ regelrecht Amok laufen. Wenn sie dann durch ihre volksfeindliche Politik die gesamte Bevölkerung gegen sich aufgebracht hatten, würden er und seine Leute ihre alten Verbindungen spielen lassen und einen Aufstand der Massen inszenieren, wie es die „staatstragenden Patrioten“ im Januar 2005 getan hatten. Damals war es niemandem geglückt, den „Hintermännern“ und „Strippenziehern“ hinter die Schliche zu kommen. Die Organisatoren hatten damals sich selbst „gesucht“, ha ha ha!

In diesem Land hatte man bisweilen wirklich den Eindruck, in einem Irrenhaus zu leben.

Doch wenn die eben skizzierten Schritte dazu führten, daß die orangenrote Revolution vor ihrer Zeit ausbrach, und er, der Verteidigungsminister, diesen Kräften noch unfreiwillige Schützenhilfe leistete? Bitte sehr, dann sollten sich diese entsprechend ins Zeug legen. Wer einen Vorschuß einkassiert hat, muß ihn schließlich auch abarbeiten.

Wichtig war vor allem, daß seine Handschrift bei den Ereignissen nicht zu erkennen war und daß er seine weiße Weste beibehielt. Ganz unabhängig davon, wer sich bei dem Kräftemessen schlußendlich durchsetzte.

„Nun gut, ihr Herren Extremisten und Extremsportler“, sagte Jura Bulajew, nachdem Pjotr und Wasilij ihm den Plan mit dem fliegenden Stoßtrupp dargelegt hatten. „Mir kommt das alles ein wenig gar zu exotisch vor. Aber wer das Orchester bezahlt, bestimmt, was gespielt wird, und das Orchester bezahlst in diesem Fall du, Petrowitsch. Die Musikanten sollen also spielen, was du wünschst, und ich werde euch nach Kräften dabei helfen, euch bedeckt zu halten. Übrigens wäre es an der Zeit, deinen Palast wieder einmal auf Wanzen zu untersuchen.“

Vor einem Monat hatten sie Tschugunows Haus auf Abhörgeräte untersucht, aber keine solchen gefunden.

„Hier ist es alles andere als leicht, uns zu beobachten oder abzuhören“, antwortete Pjotr. „Mein Haus liegt am Dorfrand auf einem offenen Feld und ganz in der Nähe eines Flusses. Da sieht man einen Fremden meilenweit.“

„Hilf dir selbst, so hilft dir Gott“, konterte Jura.

„Sei kein Schwarzseher, Jura“, mischte sich Siegfried ins Gespräch. „So schlecht sehen die Dinge für uns nicht aus. Wenn es mit dem Lager in der Ukraine klappt, dann wird es auch hier klappen.“

Tschugunow versuchte zu schlichten: „Ich bin meinem Wesen nach alles andere als ein Abenteurer...“ begann er.

„Davon können wir uns in letzter Zeit immer häufiger überzeugen“, höhnte Jura.

„Ich bin kein Abenteurer, sondern in erster Linie Wissenschaftler.“

„Mit einem Spaten in der Hand und einer gebrochenen Nase“, stichelte Jura weiter.

Alle einschließlich Tschugunows lachten auf, und Pjotr fuhr unbeirrt fort:

„Als Wissenschaftler und Analytiker versichere ich euch, daß es demnächst ums Ganze gehen wird. Was gestern noch abenteuerlich anmuten mochte, ist heute bereits ein völlig normales Mittel zur Durchsetzung seiner Ziele. Der gegenwärtige Präsident hat vor den Auftraggebern der orangenroten Revolution offensichtlich auf der ganzen Linie kapituliert, doch in seiner Umgebung gibt es bestimmt Leute, denen das ganz und gar nicht in den Kram paßt. Darauf haben wir übrigens schon mehrmals hingewiesen. Somit gibt es in der Führungsspitze Kräfte, die versuchen werden, die Initiative zu übernehmen und die orangenrote Revolution auf dem Höhepunkt der künftigen Unruhen in eine imperiale Konterrevolution umzuwandeln, was jedoch nur mit der Unterstützung der Massen möglich ist. Diese aufzuwiegeln wird den imperialen Kräften vermutlich noch glücken, doch werden sie es nicht schaffen, den Prozeß erfolgreich zu Ende zu führen, und zwar allein schon darum, weil es ihnen nicht gelingen wird, eine nicht-imperiale, rein russisch-nationale Idee glaubhaft zu verkörpern. Die Massen wollen aber einen einfachen und verständlichen, rein russischen Nationalismus. Und dann müssen wir eingreifen. Auf wessen Seite? Nimm es mir nicht übel, Jura: Ganz gewiß nicht auf der Seite der korrupten Bullen und der bürokratischen Mafia. In anderen Worten, auf der Seite der Orangenroten. Und wir werden uns als Ultra-Orangenrote gebärden.“

„Sehr richtig“, pflichtete ihm Siegfried bei.

„Es fällt mir gar nicht ein, euch zu widersprechen,“ kicherte Jura. „Schließlich haben wir unser Geld ja von Leuten bekommen, denen eine orangenrote, oder, um deinen Ausdruck zu wiederholen, eine ultra-orangenroten Revolution vorschwebt. Ich habe meine Auftraggeber noch nie im Stich gelassen.“

„Wir greifen also ein“, fuhr Tschugunow fort, „und zwar nicht mit Worten, sondern mit Taten. Unter anderem mit unserem fliegenden Stosstrupp. Möglicherweise wird dieser nur bei einer einzigen Aktion zum Einsatz kommen. Aber bei einer, bei dem unseren Gegnern Hören und Segnen vergeht.“

„Klasse!“ riefen Siegfried und Wasilij mit einer Stimme.

„Damit ist es freilich noch nicht getan. Ich will euch ja nicht zu nahe treten, meine Herren, aber der militärische Aspekt ist nicht der wichtigste. Wichtiger ist es, dafür zu sorgen, daß wir selbst den Zeitpunkt bestimmen, zu dem die Krise ausbricht. Den Anstoß zu einer solchen können, so wie ich die Lage sehe, entweder soziale Unruhen oder aber armeefeindliche Studentendemonstrationen geben. Meiner Meinung nach gibt es Kräfte, denen an der ersten Variante gelegen ist, und solche, welche die zweite Variante bevorzugen. Wir müssen uns auf beide Möglichkeiten vorbereiten und, wenn eine der beiden eintritt, gleich eine zweite Front eröffnen. Wenn beispielsweise soziale Unruhen ausbrechen, müssen wir dafür sorgen, daß auch die Studenten auf die Strasse gehen, und umgekehrt. Auf diese Weise verdoppeln wir die Brisanz der Krise, und diese gerät schon bald außer Kontrolle.“

„Liegt dies überhaupt in unseren Kräften?“ fragte Wasilij skeptisch.

„Zum Provozieren einer Studentenrevolte sind wir vermutlich durchaus in der Lage“, entgegnete Tschugunow. „Der Verband russischer Ingenieure unterhält enge Beziehungen zu allen Studentenorganisationen. Eine soziale Revolte auszulösen wäre für uns allerdings schwieriger; hier müssen wir noch gründlich nachdenken und etliches tun. Doch mit rein ingenieurmäßigen Methoden im Volk für Unruhe sorgen können wir schon heute.“

„Die Revolution machen Ingenieure, pflegte der unvergeßliche Trotzki zu sagen“, bemerkte Loktionow.

„Ganz richtig, Wasilij. Unsere Aufgaben für die nächsten paar Wochen sehen also wie folgt aus: Wasilij kümmert sich um das Projekt mit den Flugzeugen, Jura baut das Lager im Ural auf, Siegfried und Wasilij rekrutieren gemeinsam Männer, die sowohl fliegen als auch kämpfen können. Vorderhand reichen vier oder fünf Mann völlig aus. Die findet ihr doch sicher, oder?“

„Keine Sorge, die finden wir.“

„Und dann wären noch die Studenten und die Gründung der neuheidnischen Organisation. Auch dafür ist Wasilij zuständig. Übernimmst du dich dabei nicht, Wasilij?“

„Keineswegs, Professor. Doch da wir schon einmal alle zusammen sind, möchte ich folgendes sagen. Pjotr, du kannst dir überhaupt nicht vorstellen, was du für eine ganze Bevölkerungsschicht bedeutest. Eine enorme Zahl von Menschen will von der bestehenden Ordnung nichts mehr wissen, kann sich jedoch mit keiner der gegenwärtig bestehenden oppositionellen Gruppierungen identifizieren. Deine Ideen bedeuten für uns alle Licht am Ende des Tunnels und darüber hinaus eine Chance, unser tiefstes Bedürfnisse zu verwirklichen: Das Bedürfnis nach Rache, das unserem Zorn über die herrschenden Verhältnisse entspringt. Es ist gewiß kein Zufall, daß man die notwendigen Mittel zur Führung des Kampfes gerade dir anvertraut hat. Dies kann nur heißen, daß die anderen Kandidaten offenbar schwächer, weniger intelligent, weniger mutig und weniger zuverlässiger waren als du. Jawohl, Petrowitsch, sehr viele sind dir dankbar dafür, daß du ihnen die Chance bietest, sich im Kampf zu bewähren und das Schwert der Rache zu schwingen.“.

„Was seid ihr doch für Romantiker“, schmunzelte Jura. „Vor lauter Idealismus habt ihr sogar die Frauen vergessen. Ruf sie schleunigst an, Petrowitsch, die Damen sind doch sicher liebeshungrig.“

Abermals vergnügten sie sich bei einer stürmischen Fete. Siegfried grölte irgend etwas von Walhall, der sonst eher phlegmatische Wasilij tanzte wie ein Besessener; dann lugte der Mond wiederum durch das Fenster von Pjotrs Mansarde, und der Leib seiner Geliebten schimmerte perlengleich auf seinem breiten Bett.

Wie bewandt, leidenschaftlich, unersättlich und zugleich zärtlich sie doch in der Liebe war! Ihr Körper war biegsam und geschmeidig. Die – nicht allzu vielen – Frauen, die Tschugunow vor ihr besessen hatte, glichen einander in vieler Hinsicht, doch seine Fee, seine Tigerin, war unvergleichlich. Sie genoß es weidlich, wenn sich Tschugunow, der seinem an das Wort „Gußeisen“ erinnernden Namen alle Ehre machte, mit ungestümer Leidenschaft auf sie warf. Kräftig und geschmeidig wand sie sich unter ihm und flüsterte dabei Worte, die er noch nie zuvor von einer Frau gehört hatte.

Ohne den wichtigsten Teil des Liebesaktes zu unterbrechen, preßte er seine Lippen gegen die ihren.

„Ich liebe dich leidenschaftlich. Wir beide atmen und leben gemeinsam“, flüsterte sie, als der Kuß zu Ende war. Dann stöhnte sie plötzlich auf und schmiegte sich noch fester an ihn.

Mit ungeheurer Kraft und Leidenschaft vollendete sie ihr Spiel, doch er drang weiter in sie ein, wobei er jedes Gefühl für die Zeit verlor und es ihm so vorkam, als verdampfe er buchstäblich in der Glut ihrer Liebe.

Und dann liebkoste er noch lange ihre wundervollen Brüste und ihren Arm, der weiß schimmerte wie die Lilie in der Nacht. Sie erwiderte seine Liebe mit unzähligen Küssen und flüsterte:

„Ich empfinde für dich soviel Liebe und Zärtlichkeit wie für ein kleines, liebes, schutzloses Kind, das man mit Küssen verwöhnen muß.“

„Sie ist eine Fee“, dachte Tschugunow. „Eine irdische Frau kann nicht so lieben. Die Götter haben sie mir geschickt, als Zeichen dafür, daß ich auf dem richtigen Weg bin. Und ich werde diesen Weg bis zum Ende gehen, gleichgültig was mich auf der Schlußstrecke erwartet.“

Am Sonntag kehrten sie wieder nach Moskau zurück und machten sich abermals mit Volldampf an die Arbeit. Alle ihre Pläne nahmen nun konkrete Gestalt an, was Pjotr in seiner Überzeugung bestärkte, daß ihnen die Götter hilfreich zur Seite standen. An sich war jedes Ereignis für sich allein genommen durchaus rational erklärbar, doch existiert in der Systemanalyse ein Prinzip, das wie folgt lautet: Eine Verkettung unwahrscheinlicher Geschehnisse, die sich im Rahmen eines Systems abspielen, ist eine Erscheinungsform einer determinierten Gesetzmäßigkeit in einem System höherer Ordnung. Diese Gesetzmäßigkeit kann sich unserer Erkenntnis durchaus entziehen, doch liefert die Verkettung unwahrscheinlicher Ereignisse den Beweis ihrer Existenz.

Jawohl, sie existiert! Gott ist mit uns!

Das Mobiltelefon piepste zu einem unpassenden Zeitpunkt. Wenn man in Moskau am Steuer sitzt, tut man gut daran, sich von nichts ablenken zu lassen. „Na gut, wenn der Anrufer nicht auflegt, bevor ich auf dem Randstreifen stehe, nehme ich den Hörer ab“, entschied Tschugunow. Das Handy piepste unverdrossen weiter.

„Ja bitte?“

„Pjotr?“

„Ja, ich bin’s, Wolodja. Ich habe dich sofort erkannt.“

„Hör zu, kannst du gleich nach Sokolniki fahren? Wir ertränken hier unseren Kummer im Alkohol. Du fehlst uns schrecklich.“

Wladimir Leonidowitsch Wetotschkin, dessen Spitzname „der Bombenbastler“ lautete, war ein Mensch, der jedes Wort sorgfältig abwog, und wenn er eine Bitte äußerte, war es ihm damit ernst.

„Also gut, Wolodja. Ich sitze gerade am Steuer, aber ich kann mein Auto von jemandem abholen lassen und zu euch fahren. Wo finde ich euch?“

Wetotschkin erklärte es ihm. Tschugunow rief ins Büro an, ließ seinen Fahrer kommen und beauftragte ihn, das Auto in die Garage zu fahren. Dies war eine Riesendummheit, aber aus irgendeinem Grund wollte er sich nicht von einem Privatchauffeur herumkutschieren lassen, obgleich er sich dies ohne weiteres hätte leisten können. Jura hatte ihm deswegen schon mehr als einmal die Leviten gelesen und sich empört über das infantile Betragen gewisser politischer Führer beklagt.

Wie dem auch sei, eine Stunde später betrat Tschugunow das Bierhaus, wo er Wetotschkin und seinen betagten Begleiter sofort erblickte. Er trat an ihren Tisch heran.

„Wir warten schon ungeduldig auf dich, Pjotr“, sagte Wetotschkin. Er hatte schon reichlich getrunken, aber man merkte ihm dies kaum an.

„Entschuldige mich, doch es kam alles so plötzlich.“

„Darf ich dir Pawel Andrejewitsch Kaurin vorstellen? Er ist mein Kollege, oder besser gesagt, er war ein Kollege meines verstorbenen Vaters.“

Wetotschkin war Lizentiat der technischen Wissenschaften und entstammte einer Familie von Militärtechnokraten. Alle seine Vorfahren bis zurück ins 18. Jahrhunderte waren entweder Offiziere bei der Artillerie oder den Pontonieren gewesen, oder aber sie hatten an einer Universität Militärwissenschaft unterrichtet. Schon auf den ersten Blick sah man ihm den inneren Adel an. Er war von leicht überdurchschnittlicher Größe und von ebenmäßigem Körperbau; seine Gesichtszüge waren regelmäßig, und seine ruhigen, grauen Augen zeugten von seiner Klugheit. Wolodja verwendete nie grobe oder unflätige Ausdrücke und zeichnete sich durch eine unfehlbar korrekte und elegante Sprache aus; es war schlicht unvorstellbar, daß er je lügen oder wild herumbrüllen könnte. Sein Vater war ein hervorragender Fachmann auf dem Gebiet der Nuklearindustrie und ein Held der Sowjetunion gewesen.

Tschugunow hatte Wetotschkin zu Beginn der neunziger Jahre kennengelernt, als sie beide der Führung einer Massenorganisation angehört hatten, die Bestandteil der Russischen Bewegung bildete. Beide hatten sich an der Verteidigung des Weißen Hauses beteiligt; beide hatten später maßlose Enttäuschung über die verräterischen „nationalistischen“ Führer empfunden und sich aus der Politik zurückgezogen. Doch riß der Kontakt zwischen ihnen nie ab, und immer wieder gewährte der eine von ihnen dem anderen seine Unterstützung – bisweilen konkret, häufiger aber rein moralisch.

„Sehr angenehm. Professor Pjotr Petrowitsch Tschugunow“, stellte sich Pjotr förmlich vor. „Sie können mich aber ohne weiteres beim Vornamen nennen.“

„Wolodja hat mir viel von Ihnen erzählt, so daß sie für mich kein Fremder sind.“

„Darf ich fragen, welche Depression wir gemeinsam im Alkohol ertränken sollen?“

„Die Depression und der Alkohol sind im Grunde genommen nur zweitrangige Probleme“, erwiderte Wolodja. „Bedeutend wichtiger scheint mir die Frage, warum du, Pjotr, mich bis heute nie aufgefordert hast, dem Verband Russischer Ingenieure beizutreten“. Er sprach ruhig, und in seiner Stimme schwang keine Spur von Gekränktheit mit, obwohl er allen Grund gehabt hätte, beleidigt zu sein.

„Entschuldige, mein Freund, ich habe so viel zu tun, daß ich nicht mehr weiß, wo mir der Kopf steht. Außerdem habe ich keine Ahnung, womit du dich gegenwärtig beschäftigst und ob die Mitgliedschaft in unserem nicht hundertprozentig stubenreinen Organisation für dich nicht kompromittierend wäre.“

„Einen solchen Spezialisten wie Wolodja kann man nicht kompromittieren“, warf Kaurin ein. „Außerdem: Warum sollte eine Organisation mit einem so schönen Namen nicht hundertprozentig stubenrein sein?“

„Weil man uns als Herd staatsfeindlicher Umtriebe unter den russischen Technokraten bezeichnet. Lesen Sie Zeitungen?“

„Aus Prinzip nicht.“

„Dann ist Ihre Frage begreiflich. Nun sag mir aber, warum du mich hierher bestellt hast, Wolodja. Natürlich freut es mich, dich zu sehen, aber einen konkreten Grund muß es doch geben?“

„Siehst du, Pjotr, der gegenwärtige Zustand der Welt versetzt mich in eine Art Dauerfrust, und die Depression, die ich heute empfinde, ist lediglich eine Episode unter vielen. Sie zeigt aber, daß wir so einfach nicht mehr weiterleben können. Du weißt auf alles eine Antwort. Bitte widersprich mir nicht.“ Bei diesen Worten hob er die Hand, um einen möglichen Einwand Pjotrs abzublocken. „Jedermann weiß, daß du bisher immer eine Lösung für unsere Probleme gefunden hast und, was noch wichtiger ist, daß es dir stets gelungen ist, unsere Zweifel zu zerstreuen. Das sagen unsere ehemaligen Kampfgefährten immer, wenn sie sich zu einem Gelage versammeln.“

„Nun rücke doch endlich mit der Sprache heraus: Was ist heute passiert?“

„Ein Kandidat hat seine Doktorarbeit verteidigt. Ein offensichtlicher Stümper, der es nicht einmal fertiggebracht hat, sich von einem Ghostwriter eine halbwegs anständige Arbeit schreiben zu lassen. Seine Dissertation wimmelt nur so von Fehlern. Dazu kommt, daß er ein hochkarätiger Lump ist, der maßgeblich zum Niedergang unserer Abteilung beigetragen hat. Darum haben Pawel Andrejewitsch und ich beschlossen, ihm ein Bein zu stellen. Wir erschienen beim Examen und deckten all seine Schnitzer und Mogeleien schonungslos auf. Wir hofften, auf diese Weise einen Skandal provozieren zu können, aber nichts dergleichen geschah: Die Doktorarbeit wurde einstimmig angenommen. Offenbar war der ganze Prüfungsausschuß gekauft.“

„Und hat euch das gewundert?“

„Mit einem so dreisten und ungenierten Schwindel hatten wir in der Tat nicht gerechnet. Immerhin handelte es sich ja um eine Doktorarbeit in Nukleartechnik und nicht um eine in Kunstwissenschaft.“

„Wolodja, aus einem abstürzenden Flugzeug kann man nicht nach oben springen. Darum geht es heute auf allen Gebieten abwärts, in der Nukleartechnik genau so wie in der Kunstwissenschaft.“

„Welche Folgerungen ziehst du daraus?“

„Über mich sprechen wir später. Ich bin schon längst mit dem Fallschirm aus diesem Flugzeug abgesprungen. Zugegeben, der Vergleich hinkt etwas. Aber wechseln wir für einen Augenblick das Thema: Wie geht es dir eigentlich? Wir haben uns schon länger als ein Jahr nicht mehr gesehen. Wo arbeitest du gegenwärtig?“

„Im Verteidigungsministerium haben sie unsere Arbeitsgruppe aufgelöst, aber mich hat das Atomministerium übernommen.“

„Sie waren heilfroh, ihn zu kriegen“, fügte Kaurin hinzu.

„Als Angestellter des Atomministeriums habe ich dann mit der Internationalen Agentur für Atomenergie zusammengespannt. Heute arbeite ich de facto dort. Es hat sich eine wahrhaft kafkaeske Situation ergeben: Die Arbeit meiner Gruppe wird nämlich von Frankreich finanziert, und zwar auf ausdrückliche Anordnung der französischen Regierung.“

„Stellen Sie sich das vor, Pjotr“, sagte Kaurin, „kraft einer Anweisung der französischen Regierung wird die Arbeit einer Unterabteilung im russischen Atomministerium aus der französischen Staatskasse finanziert! Dies beweist doch, wie hoch man Wladimir in der westlichen Welt schätzt!“

„In der Tat. Für Wolodja ist dies wirklich eine große Ehre und höchst schmeichelhaft.“

„Mitnichten“, wehrte Wetotschkin ab. „Die Funktionäre meines eigenen Amtes verlangen von mir immer größere Summen in westlicher Währung. Und was dem Faß den Boden ausschlägt: Neuerdings will auch die lokale Staatsanwaltschaft von mir Schmiergelder. Sie haben angeblich herausgefunden, daß wir irgendwelche Vorschriften verletzt haben, und drohen damit, mich und meine Mitarbeiter einzusperren. Auf unsere Einwände antworteten sie lediglich: ‚Ihr bekommt einen Haufen Geld in westlicher Währung, und das teilt ihr nun bitteschön mit uns.’ Ich habe sie darauf hingewiesen, daß das Geld aus Frankreich kommt und daß die Franzosen nicht gewillt sind, außer uns noch alle möglichen anderen Leute durchzufüttern. Aber sie glauben es mir nicht und ziehen die Daumenschrauben immer enger an...“

„Dann schmeiße doch den Bettel und haue nach Frankreich ab!“

„Und meine Mitarbeiter?“

„Nimm die tüchtigsten davon mit. Wenn die Franzosen dich so hoch schätzen, werden sie doch bestimmt ein paar von deinen Jungens aufnehmen!“

„Aber ich will nicht emigrieren! Schließlich bin ich Russe!“

„Dann mußt du kämpfen.“

„Wie denn? Haben wir uns nicht schon längst davon überzeugen können, daß die politischen Auseinandersetzungen in Rußland nichts weiter als eine Farce sind?“

„Ich spreche nicht von einem politischen Kampf.“

„Ich verstehe nicht, worauf du hinauswillst. Was schlägst du konkret vor?“

„Einen Bürgerkrieg. Immerhin entstammst du einem Geschlecht von Bombenbastlern. Hilf uns dabei, eine ganz dicke Bombe zu basteln. Das wird dein Beitrag zum Sieg der nationalen Revolution zur Befreiung Rußlands sein.“

„Sie belieben wohl zu scherzen, Pjotr“, bemerkte Kaurin, „und Ihre Scherze sind ehrlich gesagt nicht einmal besonders lustig.“

”Finden Sie die Scherze der Staatsanwaltschaft, die von Wolodja Schmiergelder in Westwährung verlangt, etwa lustiger?“

„Man kann schließlich mit legalen Mitteln nachweisen, daß man im Recht ist.“

„Das haben Sie beide heute versucht, und zwar in einer verhältnismäßig nebensächlichen Frage. Ist es Ihnen geglückt, oder mußten Sie Ihre Depression im Alkohol ertränken? Worauf wollen wir anstoßen, Kollegen?“

„Entschuldigen Sie, Pjotr, ich bin ein alter Mann. Aber mir scheint, es bereitet Ihnen Vergnügen, sich als Mephistopheles aufzuspielen.“

„Pawel Andrejewitsch“, antwortete Tschugunow, wobei er sich bemühte, sich seine wachsende Gereiztheit nicht anmerken zu lassen. „Ich spiele mich weder als Mephistopheles noch als sonst irgendwer auf. Sie beide haben mich hierher gebeten, um sich an meiner Brust auszuweinen.“ Er erinnerte sich plötzlich an den flammenden Blick Wasilijs und fuhr in noch entschlosseneren Ton fort: „Ich kenne Dutzende von Menschen, die bereit sind, den Kampf gegen dieses Verbrechergesindel aufzunehmen. Und zwar mit der Waffe in der Hand. Sie sind bereit, einen totalen, kompromißlosen Krieg zu führen, bis zur völligen Vernichtung der einen Seite, ohne Rücksicht auf eigene oder fremde Verluste oder auf Unbeteiligte, die zufällig zwischen zwei Feuer geraten. Es gibt keinen anderen Weg. Ihr verliert sowieso alles, was euch lieb ist und worauf ihr stolz seid. Dann nutzt doch wenigstens die Gelegenheit, euch an euren Feinden zu rächen. Rettet jene Menschen, die eure Feinde schon morgen ungestraft erniedrigen, ausplündern, betrügen oder umbringen werden, wenn ihr euch ihnen kampflos unterwerft.“

„Sie reden von ihren eigenen Landsleuten ja wie von Feinden!“

„Das ist die Logik eines jeden Bürgerkriegs. Und diesen Krieg haben nicht wir angefangen. Nicht wir haben anno 1993 Dutzende von Gefangenen im Stadion bei der amerikanischen Botschaft erschossen. Nicht wir haben jungen Frauen im 14. Stock des Weißen Hauses Granaten in die Scheide gesteckt. Nicht wir haben bei Ostankino eine wehrlose Menschenmenge mit Maschinengewehren niedergemäht. Nicht wir haben dem Westen militärisches Know-how verkauft, das von unseren Vätern geschaffen worden ist. Nicht wir haben General Rochlin im Schlaf umgebracht und den Mord dann seiner Frau in die Schuhe geschoben. Nicht wir haben nachts Häuser in die Luft gesprengt, in denen unsere Landsleute schliefen, um dieses Verbrechen dann irgendwelchen mythischen Terroristen ankreiden zu können. Nicht wir haben alle Wahlen gefälscht und sie dann schließlich überhaupt abgeschafft. Was für Beweise brauchen Sie eigentlich noch, um zu kapieren, daß der Krieg längst erklärt ist?“

Tschugunow brüllte so laut, daß das ganze Restaurant auf ihn aufmerksam wurde und die anderen Gäste ihm erschrockene Blicke zuwarfen.

Plötzlich überkam ihn eine gespenstische Heiterkeit.

„Übrigens: Da Sie mich hierher eingeladen haben, um mich um meine moralische Unterstützung zu bitten, wollen wir uns nun einem angenehmeren Thema widmen. Reden wir ein wenig über Frauen. Das wird uns doch sicher fröhlich stimmen.“

Wolodja blickte ihn böse an und sagte:

„Meine Frau hat mich verlassen.“

Tschugunow kehrte spät abends in seine Wohnung zurück. Vor der Tür seines Zimmers wartete ein bärbeißiger Mann in alten Trainingshosen, die sich auf den Knien bauschten, und einem gestreiften Matrosenhemd auf ihn: Sein Nachbar.

„Petrowitsch, jemand hat dich dreimal versucht anzurufen.“

„Wer?“

„Irgendeine Frau.“

„Du hast ihr sicher gesagt, daß ich selten zu Hause bin und daß sie mich auf mein Handy anrufen soll.“

„Sie kennt deine Handynummer nicht.“

In Rußland ist es üblich, jeden beliebigen Mann, der keine höhere gesellschaftliche Stellung bekleidet, zu duzen. Tschugunow gefiel diese Gewohnheit nicht besonders, doch war die Frage nicht wichtig genug, um deswegen Streit anzufangen.

„Sei nicht böse auf mich, Kolja, ich erhalte wirklich selten Anrufe.“

„Aber...“

In diesem Moment läutete das Telefon.

„Tschugunow?“ Es war seine Ex-Frau. Sie pflegte ihn stets bei seinem Familiennamen zu nennen.

„Ja?“

„Ich habe ein Anliegen an dich.“

„Und das wäre?“

„Das sage ich dir, wenn wir uns treffen.“

„Ich verspüre nicht den geringsten Wunsch, mich mit dir zu treffen.“

„Und doch wird dir nichts anderes übrigbleiben“, fauchte sie.

„Nur langsam, meine Liebe. Sag mir besser gleich jetzt, worum es geht, zumindest in großen Zügen. Du hast doch gewiß keine Geheimnisse, die man nicht am Telefon erörtern darf.“

Plötzlich begriff er, was sie von ihm wollte. Na und? Schließlich war er ein freigebiger Mensch. Er bot seine ganze Liebenswürdigkeit auf und sagte:

„Höchstwahrscheinlich brauchst du Geld und fürchtest, ich könnte dir am Telefon eine Absage erteilen. Keine Sorge; wenn deine Bedürfnisse nicht über den Rahmen meiner Möglichkeiten hinausgehen, helfe ich dir.“

Sie antwortete nicht sofort; es machte den Anschein, als könne sie ihre Tränen nur mühsam zurückhalten:

„Es ist sehr gut möglich, daß sie uns aus der Wohnung herauswerfen... Dann steht dein Sohn auf der Strasse... Ich weiß genau, daß du jetzt Geld hast.“

„Ich habe dir schon gesagt, daß ich dir helfen werde. Rede nicht um den heißen Brei herum und sag mir, wieviel du brauchst.“

„Fünfzehntausend.“

„Dollar natürlich. Na gut, komme morgen um elf Uhr vormittags bei mir vorbei.“

Glücklicherweise hatte er die genannte Summe gleich griffbereit, für laufende Ausgaben. Immerhin hatte er bisher noch nie auch nur eine Kopeke für sich selbst ausgegeben, und er besaß sehr wohl das Recht, nach eigenem Ermessen über gewisse Beträge zu verfügen.

Sie kam genau um elf Uhr. Von ihrer gestrigen Hilflosigkeit war keine Spur mehr übriggeblieben. Tschugunow sah sofort, daß sie modisch und recht teuer gekleidet war. Er half ihr aus dem Mantel und bückte sich dann, um ihr die Stiefel aufzuknöpfen und abzustreifen.

„Immer noch der alte Gentleman, unser Professor.“ Sie warf ihre Stupsnase hoch und verzog ihre Lippen.

„Beginnen wir unser Gespräch lieber nicht im Korridor. Gehen wir ins Zimmer.“

Sie traten ins Zimmer ein. „Hast du einen Aschenbecher?“ fragte sie und zog ein Paket Zigaretten hervor.

„Du weißt ganz genau, daß ich nicht rauche.“

„Und wenn deine Gäste rauchen wollen?“

„Hier empfange ich keine Gäste.“

„Du lebst in sehr bescheidenen Verhältnissen, Tschugunow. Leute, über die man in den Zeitungen schreibt, leben sonst nicht so.“

„Kennst du denn viele Leute, über die man in den Zeitungen schreibt?“

„Ein paar kenne ich schon.“

Er spürte, wie eine gewisse Gereiztheit in ihm aufstieg, beherrschte sich aber. „Was für einer beruflichen Tätigkeit gehst du heute eigentlich nach?“ fragte er betont höflich.

„Ich habe den Arztberuf aufgegeben und bin jetzt Wohnungsmaklerin.“

„Das Geschäftstalent liegt dir ja im Blut.“

„Verschone mich mit deinen Sticheleien. Meine Eltern sind beide tot.“

„Tut mir leid. Aber kommen wir zur Sache.“

„Du möchtest vermutlich wissen, wozu ich das Geld brauche?“

„Ich bin nicht auf den Kopf gefallen. Ist doch klar wie Stiefelwichse: Du hast dich bei deinen Spekulationen verrechnet und steckst jetzt in der Klemme. Und weil du mit fünfzehntausend Dollar in der Kreide stehst, droht man dir deine Wohnung wegzunehmen, die sehr viel mehr wert ist.“

„Du bist ein heller Kopf, Tschugunow.“

Auf dem Tisch lag bereits ein Umschlag mit den Banknoten. Tschugunow hob ihn auf wandte sich wieder seiner Ex-Frau zu, um ihr den Umschlag zu überreichen.

Sie stand vor ihm, in einem Kleid, das an ein Trikot erinnerte. Es endete um eine Handbreit über dem Knie und paßte bestens zu ihren elfenbeinfarbigen Strümpfen. An ihrem Hals glitzerte ein ganzes Sortiment von – freilich ziemlich billigen – Goldketten.

Ihre Kleidung hob ihre sehr attraktive Figur vorteilhaft hervor. Hochmütig blickte sie Tschugunow an, schnitt ihre bekannte Grimasse und verzog ihre scharf umrissenen Lippen.

„Mann könnte wahrhaftig meinen, ich wolle etwas von ihr“, schoß es Tschugunow plötzlich durch den Kopf, und ihm ihn wallte heftiger Zorn auf. Seine Augen verdunkelten sich, und ihm war, als sehe er sich selbst durch die Brille eines Außenstehenden...

„Hör zu“ – seine Stimme klang dumpf–, „ich gebe dir noch fünftausend mehr.“ Er verspürte jäh einen heftigen Wunsch nach schmutzigem, rohem Sex, nach Sex ohne Liebe. Dafür eignete sich dieses Luder besser als jede andere. Warum er fünftausend Dollar zahlen sollte und nicht bloß hundert wie für eine gewöhnliche Prostituierte, war ihm allerdings nicht klar.

Sie lächelte immer noch hochmütig, aber auch ein wenig verschreckt. Er warf ihr den Umschlag mit der abgemachten Summe hin, nahm noch weitere fünftausend Dollar, die er unvorsichtigerweise bei sich zu Hause aufbewahrte, aus dem Schrank und zählte das Geld nach, als ob er sich bereits mit ihr geeinigt hätte.

„Nun?“ Er warf ihr einen bedeutungsvollen Blick zu.

Mit leicht zitternden Händen streifte sie ihr Kleid – oder war es ein Trikot? – ab und stand in ihrem schwarzen Body vor ihr.

„Anscheinend hast du dich gut auf unser Treffen vorbereitet. Sogar an meine besonderen Vorlieben erinnerst du dich noch.“

Das schiefe Lächeln zog sich wie eine Schramme über ihr Gesicht.

„Warum ziehst du dich nicht ganz aus? Los, worauf wartest du noch?“

„Vielleicht ist es nicht nötig?“ Sie schien sich plötzlich vor irgend etwas zu fürchten.

Er achtete nicht auf ihren Einwand. „Du siehst immer noch verdammt gut aus“, sagte er. „Wie geht es deinen wundervollen Brüsten?“

Sie antwortete nicht und begann langsam ihren Body auszuziehen.

„Soll ich die Strümpfe auch ausziehen?“

„Ja.“

Nun stand sie vollkommen nackt vor ihm. Er begriff nicht, wann und wie er seine Kleider ebenfalls abgelegt hatte.

„Zieh ein Kondom an“, bat sie ihn in demütigem Tonfall. „Ich habe im Moment meine gefährlichen Tage.“

„Keine Sorge, für die Beseitigung allfälliger unerwünschter Folgen komme ich auf.“

 Er drängte sie ungestüm an den Rand des Sofas, vergrub seine Finger in ihre zarten Beine, und zwar an der Stelle, wo sie in das Gesäß übergingen; dann zog er die beiden Hälften ihres Hinterteils mit aller Kraft auseinander. Sie biß sich auf die Lippen und schloß die Augen. Nun drang er stürmisch in sie ein. Sie war noch nicht bereit und stöhnte vor Schmerz auf. Doch ihre Gefühle kümmerten ihn nicht...

Herrgott nochmal! Dieses Luder hatte ihn die ganze Zeit über wenn nicht zu schmutzigen Handlungen, so doch zu schmutzigen Gedanken provoziert. Doch schämte er sich selbst für diese Gedanken, für den widerlichen Unfug, der ihm eine Minute lang durch den Kopf gegangen war, für diesen kurzen Wachtraum.

Wenn das, was er sich da ausgemalt hatte, wirklich geschehen wäre, wie hätte er da seiner Tigerin, seinem Talisman, seiner Fee noch ins Gesicht blicken können? Wie hätte er ihre Arme noch liebkosen können, die nachts so zärtlich weiß schimmerten? Er schüttelte den Kopf, und die Sinnestäuschung wich von ihm. Seine Ex-Frau stand immer noch neben dem Tisch, vollständig bekleidet natürlich, und wunderte sich, was ihn wohl urplötzlich in einen solchen Trancezustand versetzt haben mochte. Sie lächelte immer noch, wenn auch nicht mehr so herausfordernd wie vorher.

„Nimm das Geld und geh, meine Liebe. Ich habe viel zu tun“, sagte er mit heiserer Stimme.

„Hast du mir sonst nichts mehr zu sagen?“

„Weißt du, wodurch sich ein echter Gentleman von einem unechten unterscheidet? Dadurch, daß ein echter Gentleman nicht immer und nicht gegenüber allen Gentleman ist. Alles Gute, und laß dich nicht mehr auf dergleichen gewagte Abenteuer ein. Ich kann dir nicht garantieren, daß mir das nächste Mal wiederum eine solche Summe zur Verfügung stehen wird.“

Sie wandte sich von ihm ab und trat in den Korridor hinaus. Als ihr Tschugunow einige Augenblicke später folgte, trug sie bereits ihren Mantel und ihre Stiefel. In der Tür drehte sie sich nochmals um und preßte ein widerwilliges „Dankeschön“ durch die Zähne.

„Gern geschehen. Es hat mich gefreut, dir behilflich sein zu können.“

Er schloß die Tür, kehrte in sein Zimmer zurück und warf sich auf das Sofa. Er war so müde, als habe er eben zwei riesige Klötze Holz gespalten. Vielleicht sogar drei.

Kapitel 16. Der Segen Swarogs

Diesmal rief Wolodja ins Büro des Verbandes russischer Ingenieure an. Es war reiner Zufall, daß Pjotr das Telefon abnahm.

„Entschuldigung, Pjotr, aber wir müssen unser Gespräch fortführen...“

“Einverstanden.“

“Ich komme zu dir ins Büro.“

„Lieber nicht. Wir treffen uns in dem Park, wo wir vor anderthalb Jahren spaziert haben.“

„Hilf mir auf die Sprünge.“

„Es war Frühling. Wir unterhielten uns über theoretische Probleme der Astrophysik.“

„Der Astrophysik? Meiner Meinung nach...“

„Das heißt, du erinnerst dich.“

„Ja aber...“

„Wir treffen uns in einer Stunde dort.“

Es hätte gerade noch gefehlt, daß seine Unterredung mit einem dermaßen prominenten Vertreter der Nuklearindustrie abgehört wurde! Früher oder später würden sie ihre Gespräche schon abhören, aber lieber später als früher. Doch wer weiß, vielleicht hörte heute wieder ihr unbekannter Wohltäter mit?

Swarog lachte über die Einfalt seines Nachkommen. Und ob dieser Wohltäter heute das Telefon abhörte! Etwas anderes wäre schlicht und einfach nicht denkbar gewesen. Die Ereignisse beschleunigten sich, und es galt Tschugunow bedeutend besser zu beschützen als bisher. Immerhin arbeitete er mittlerweile direkt auf den Weltenumsturz hin.

„Einverstanden, Pjotr“, sagte Wolodja ohne Umschweife.

„Nur langsam. Hör dir zunächst unseren ganzen Plan an. Vielleicht gefällt er dir nicht.“

Er erzählte Wolodja absolut alles. Dies mochte ja nicht der Vorgehensweise eines Profi entsprechen, doch Wolodja war ein durch und durch integrer Mann und würde einen Menschen, der ihm vertraute, niemals verpfeifen.

„Bist du immer noch bereit, uns zu unterstützen?“ fragte Tschugunow, nachdem er seine Ausführungen beendet hatte.

„Jawohl.“

„Aber du bist skeptisch?“

„Dir entgeht wirklich nichts. Hätte mir ein anderer einen solchen Plan vorgelegt, so hätte ich vermutlich um Bedenkzeit gebeten und mir das Ganze sorgfältig durch den Kopf gehen lassen. Aber dir vertraue ich. Nicht nur deinen Argumenten, sondern auch dir persönlich.“

„Vielen Dank. Ein solches Lob aus deinem Mund freut mich aufrichtig. Nun aber zur Sache. Ich werde dir also auf dilettantische Art meine Vorstellungen zur Herstellung des Produkts darlegen. Wenn ich allzu tollen Unsinn von mir gebe, wirst du mich natürlich korrigieren, aber vielleicht wirken meine Fehler befruchtend und beflügeln dich zu eigenen Ideen. Außerdem wirst du auf diese Weise ein genaueres Bild von unseren Möglichkeiten machen können. Einverstanden?“

„Sicher. Schiets also los. Ich bin zwar bereit, euch zu helfen, habe aber ehrlich gesagt keinen Schimmer, wie wir die Sache anpacken sollen.“

„Gut. Beginnen wir also mit den Fertigprodukten. Erinnerst du dich noch, was du mir über deine Abenteuer als Inspektor erzählt hast? Daß dir der Chef eines Bombendepots sämtliche Motorsägen verkauft hat? Und daß der Weg zu diesem Depot durch einen dichten Wald führt, in dem keine Wächter patrouillieren und dessen äußeres Alarmsystem außer Betrieb ist? Und daß in einem anderen Depot regelmäßig der Strom ausfällt und seine eigene Reserveanlage zu seiner Versorgung mangels Treibstoff kaum ausreicht – weil der Treibstoff nämlich ebenfalls an Außenstehende verkauft wird?“

„Dies sind durchaus keine Einzelfälle. Ein professionell ausgebildeter und entsprechend ausgerüsteter Stosstrupp eines fremden Staates könnte diese Depots überrennen und vernichten, nicht aber das Material von dort wegführen. Und wir können das erst recht nicht.“

„Aber hast du mir nicht auch gesagt, daß man die Fertigprodukte in diesen Depots gar nicht richtig kontrolliert? Wäre es für uns da nicht möglich, einige Teile zu entwenden?“

„Und was bringt uns das, bitteschön? Schließlich brauchen wir alle drei Komponenten: Erstens die Materialien, zweitens die kompakte Ladung und drittens der Mechanismus, der die Ladung zur Explosion bringt. Die einzelnen Bestandteile des Gehäuses zu stibitzen und es dann zusammenzusetzen wäre unsinnig. Man kann es Stück um Stück herstellen, wenn man über die entsprechenden Zeichnungen verfügt.“

„Und verfügen wir über diese?“

„Auch mir ist das Binom Newtons bekannt“, zitierte Wetotschkin den riesigen Kater aus Bulgakows Der Meister und Margarete.

„Und wie steht es mit der geballten Ladung?“

„Die kann man für Geld erhalten. Erinnerst du dich, wie wir uns im Seminar mit dem Gebrauch dieser Ladungen auseinandergesetzt haben? Heute ist die Lage im Land noch chaotischer als damals, und die Menschen sind noch geldgieriger und prinzipienloser geworden. Man kann sich so ein Ding besorgen, wenn man der richtigen Person die verlangte Summe zahlt. Schließlich handelt es sich ja nur um Sprengstoff. Und wenn ich dich richtig verstanden habe, fehlt es euch – ich meine, fehlt es uns nicht an Geld.“

„Aber wie kommen wir an die Materialien?“

„Das ist der schwierigste Punkt. Aber man kann sie stufenweise montieren, in einzelnen Portionen, vor allem wenn wir über Studenten und Absolventen des Moskauer Instituts für Ingenieurswesen und Physik sowie des Moskauer Instituts für chemische Feintechnologie verfügen. Übrigens: Wenn unsere funkgesteuerten Flugzeuge wirklich so effizient sind, können wir sie einsetzen, um das entsprechende Material aus den Depots zu stehlen.“ (Beim Wort „stehlen“ runzelte er die Stirn.) „Sie haben das Modell im Depot vergammeln lassen, wo es gelandet war. Man hat es auf einen Lastwagen verfrachtet und zurückgeschickt. Fliegende Gegenstände von der Größe eines großen Vogels fängt die Wachmannschaft nicht ab, besonders wenn der Perimeter in beträchtlicher Höhe überschritten wird.

Schließlich gibt es noch andere Quellen. Als ehemaliger Inspektor des Verteidigungsministeriums, Mitarbeiter des Atomministeriums und Inspektor des Internationalen Agentur für Atomenergie bin ich bestens über diese informiert.“

„Das heißt, wir können das nötige Material nach und nach zusammenkratzen?“

„Genau. Für ein oder zwei Stück wird es reichen. Wir werden sie ohne vorherige Tests einsetzen müssen, was bei hausgemachten Exemplaren nicht ohne Risiko ist.“

„Besteht die Gefahr eines Versagens?“

„Durchaus.“

„In diesem Fall können sich die Lumpenhunde bei ihren Göttern bedanken. Aber wir werden die unseren um Hilfe bitten.“

„Werden sie uns denn helfen?“ Wolodjas Frage war völlig ernst gemeint.

„Bisher haben sie uns geholfen“, erwiderte Pjotr nicht minder ernsthaft.

Alles verlief nach Plan. Tschugunow hatte bisweilen den Eindruck, die einzelnen Komponenten ihres Projekts verhielten sich wie Sturmkolonnen, die aus verschiedenen Richtungen angreifen und den Feind in die Zange nehmen. Seltsamerweise war jedoch ausgerechnet jene „Sturmkolonne“, deren Aufgabe am einfachsten schien, bisher gegenüber ihrem Soll im Rückstand.

„Vasilij, bereite die Präsentation der neuen Glaubensgemeinschaft vor“, sagte Pjotr in leicht gereiztem Ton. Seit ihrem letzten Beisammensein in seinem Haus außerhalb Moskaus war eine Woche vergangen.

„Ist es denn üblich, eine Glaubensgemeinschaft zu präsentieren?“

„Nein, aber es gilt ein paar öffentliche Veranstaltungen zu organisieren, bei denen die Öffentlichkeit mit der neuen Idee vertraut gemacht wird. Außerdem müssen wir einen Juristen anheuern, der den Prozeß der Registrierung in die Wege leitet. Wenn man uns Steine in den Weg legt, setzen wir uns mit den Heiden von Mari-El in Verbindung und treten massenhaft in ihre Religionsgemeinschaft – oder wie das bei ihnen heißt – ein. Diese ist nämlich bereits registriert. Wenn es mit Mari-El nicht hinhaut, fährst du in die Ukraine, wo sich gegenwärtig schon Jura aufhält und wo einige unserer Gesinnungsgenossen von der UNA-UNSO im Parlament sitzen. Sie werden uns dabei helfen, unsere Glaubensgemeinschaft in der Ukraine zu registrieren, und dann können wir hier als Filiale auftreten. Du bist also gefordert, mein Freund.“

„Entschuldigung, Pjotr, aber du verlangst zuviel von mir. Ich muß mich schließlich um die Studenten kümmern, und das nimmt viel Zeit in Anspruch.“

„Soll das etwas heißen, daß du noch unterrichtest?“

„Darum geht es nicht. Ich spreche von den Studenten, die wir auf die kommenden Krawalle einstimmen.“

„Diese Aufgabe kannst du an Ljocha Nikolski abtreten. Ein flotter Bursche aus unserem Kommando, erinnerst du dich noch an ihn? Er ist gegenwärtig der Leiter der studentischen Betriebsgewerkschaftsleitung beim Moskauer Institut für Luftfahrt.“

„Und wo bringen wir seinen Stab unter?“

„Warum nicht bei uns, im Büro des Verbandes?“

„Hast du nicht selbst gesagt, daß unsere Räumlichkeiten abgehört werden?“

„Dann sollen sie sie doch abhören, bis sie schwarz werden. Der junge Kerl wird ihnen so viel Arbeit bereiten, daß ihnen die Ohren summen werden. Übrigens ist der politische sowie der propagandistische Kampf der Studenten völlig legal. Und wir setzen uns in der Zwischenzeit in unsere Klöster ab.“

„Aber die gibt es doch noch gar nicht!“

„Bis Frühling muß es sie geben. Leg dich also tüchtig ins Zeug, mein Freund.“

„Apropos Ljocha: Weißt du nicht, daß der auch bei den Flugzeugen mitmischt?“

„Keine Sorge, mit seinem jugendlichen Enthusiasmus bewältigt der spielend zwei Aufgaben zugleich.“

Alle Hauptakteure – Jura, Siegfried, der Bombenbastler, Ljocha Nikolski – arbeiteten fieberhaft an den ihnen zugewiesenen Aufträgen. Ab und zu erhielten sie von Tschugunow Anweisungen oder Geld. Vasilij kümmerte sich um die juristische Absicherung der Legalisierung der neuen Glaubensgemeinschaft, während Tschugunow für den neuen Glauben warb, vorderhand allerdings nur auf Veranstaltungen in Moskau.

Auch an diesem Abend trat er vor einer großen Zuhörerschaft unterschiedlicher Zusammensetzung auf. Im Saal waren auch ein paar Fernsehkameras aufgestellt. Dies verwunderte Tschugunow nicht, entsprach seine Idee zur Neugründung einer heidnischen Glaubensgesellschaft in Rußland doch voll und ganz dem Zeitgeist. Für die Massenmedien war sie in verschiedener Hinsicht ein gefundenes Fressen. Erstens war sie höchst skandalträchtig: Bei den Diskussionen darüber kamen alle möglichen Aspekte zur Sprache, welche die Massen erhitzten, von der Vielweiberei bis zu den Geheimnissen der russischen Geschichte. Zweitens war das Ganze nicht politisch, zumindest auf den ersten Blick nicht, was bedeutete, daß es nicht der in Rußland de facto bestehenden Zensur unterlag. Drittens war das Thema frisch und originell und füllte das Vakuum aus, das sich heutzutage, in der Periode der „neuen Stagnation“, in den russischen Massenmedien breitgemacht hat. Somit entsprach es einer objektiven Logik, daß sich die Massenmedien gierig auf dieses Thema stürzten.

Die Kampagne wies freilich noch einen anderen Aspekt auf, der bei vielen Leuten – nicht aber bei der Führungsspitze – für Aufregung sorgte. Gar manche ahnten, daß die neue Religionsgemeinschaft gewissermaßen einen doppelten Boden hatte und daß der Augenblick kommen würde, wo die Vertreter dieser Gemeinschaft die kühnsten Hoffnungen und Sehnsüchte der Massen, die vom Regime restlos die Nase voll hatten, offen aussprechen würden. Diese heimlichen Hoffnungen und Sehnsüchte besaßen nämlich einen klassischen religiösen Charakter. Auch der Normalbürger, der von allem nur eine verschwommene Ahnung haben mochte, sagte sich: Jawohl, unsere Götter existieren, und sie werden uns helfen. Wir haben es bisher einfach unterlassen, sie darum zu bitten, doch nun werden wir dies tun. Und wir werden ihre Priester bitten, unsere Bitten zu unterstützen. Dann wird ein Wunder geschehen, und mit unseren Feinden wird es aus sein. In unserem Lande wird dann Überfluß und Glück herrschen. Wir müssen es nur versuchen und nur fest daran glauben. Letzten Endes ist dies ja so einfach.

„Und wie stellt ihr euch zur Idee der Vergeltung?“ ertönte eine Frage aus dem Saal.

„Liebe Landsleute! Meine Damen und Herren! Fragen ganz ähnlicher Art sind in diesem Saal schon mehrmals gestellt worden, und ich kann nicht mehr tun, als immer wieder folgendes zu betonen: Es geht nicht darum, wie wir uns dazu stellen! Schließlich geht es um einen Glauben und nicht um eine politische Doktrin. Und ein Glaube hat keine Patentinhaber, die zu irgendwelchen Fragen nach freiem Ermessen Stellung beziehen können. Drücke ich mich verständlich aus?“

„Jawohl“, erscholl es im ganzen Saal. „Aber sagen Sie trotzdem das eine oder andere zum Paradies, zur Hölle, zur Seele.“

„Laut unserem Glauben gibt es weder Paradies noch Hölle. Es gibt eine unsterbliche Seele, und es gibt das Gesetz des Karma. Wer dieses Leben würdig lebt, wird es im nächsten Leben besser haben und weniger leiden müssen. Doch wenn er im nächsten Leben sein Glück leichtfertig verspielt, wird seine kommende Existenz wiederum mit einer schweren Hypothek behaftet sein. Daraus ist folgende Lehre zu ziehen: Wenn es dir gut geht, dann verscherze dein Glück nicht! Benutze es, um anderen Menschen zu helfen, um den göttlichen Willen zu verstehen und dazu beizutragen, daß dieser göttliche Wille in Erfüllung geht.

Ist dir das Glück jedoch nicht hold, so fürchte dich nicht vor dem Tod. Ein heroischer Untergang wird dir im nächsten Leben hoch angerechnet, und uns stehen noch viele Leben bevor. Ist dieser Glaube nicht der Grund dafür, daß beispielsweise die Japaner so unglaublich tapfer sind? Sie glauben nämlich an die Reinkarnation. Laut den semitischen Religionen hat der Mensch hingegen nur ein einziges Leben; diese Lehre macht die Seele demütig und den Menschen leicht lenkbar.

Paradies und Hölle spielen sich also hier auf Erden ab, und jede Seele durchlebt Paradies und Hölle viele Male. In dieser Hinsicht vermitteln die semitischen Religionen – Judentum, Christentum, Islam – zutiefst irrige Vorstellungen, obgleich manche ihrer Glaubenssätze unleugbar gewisse Wahrheiten enthalten. Ich denke beispielsweise an die Lehre von der Vorherbestimmung im Protestantismus. Sie entspricht im wesentlichen der Wahrheit. An unserem Schicksal ist vieles vorherbestimmt. Doch wie geht es dann weiter? Schließlich kann man Glück und Unglück sehr unterschiedlich erleben; aus einem Sieg kann man mit schweren Verlusten hervorgehen, und aus einer Niederlage kann man Gewinn ziehen. Und wo werden diese Verluste und dieser Gewinn sichtbar?“

„Im nächsten Leben.“

„Und wenn Paradies und Hölle auf der Erde existieren, wo liegen sie dann? Ich räume freimütig ein, daß mich die Götter bezüglich des Paradieses nicht aufgeklärt haben. Bezüglich der Hölle hingegen... Wie Sie wissen, beschreiben heutzutage viele Menschen ihre Erinnerungen an ihren Aufenthalt in einer Zone, die man den Grenzbereich nennt. Bei einer dieser Erinnerungen hat mich folgende Schilderung beeindruckt: Ein Volksmediziner schenkt einem Menschen auf magische Weise die Möglichkeit, einen anderen vor dem Tod zu retten, und entsendet ihn, um die Seele des Sterbenden auf ihrem Weg ins Jenseits abzufangen. Von dieser Möglichkeit künden übrigens viele Religionen der nördlichen Völker.

Dieser Schilderung zufolge ist der sterbende Mensch durch und durch sündhaft gewesen, und der Retter fängt seine Seele auf dem Weg zur Hölle ab. Die Beschreibung dieser Hölle ist wirklich hochinteressant. Ein grauer, von Wolkenschichten bedeckter Himmel; ein eisiger, schlammiger Dunst; eine ungeheure, öde Ebene. Kein einziges Bäumchen, kein einziger Strauch ist am Horizont zu sehen. Unter den Füssen nasser Schnee. Vorn liegt ein halb zugefrorener, seichter, grauer Fluß. Rundherum ist alles grau, schmutzig-weiß und kalt. Erinnert euch das nicht an etwas ganz Bestimmtes, meine Landsleute?“

„Was wollen Sie damit sagen?“ fragten einige Zuhörer erbost.

Tschugunows Gesicht verzog sich zu einem leicht aggressiven Lächeln.

„Ich habe bisher noch gar nichts gesagt. Doch Ihre Empörung läßt darauf schließen, daß Ihnen bei meiner Beschreibung gewisse für Sie unangenehme Gedanken gekommen sind. Stimmt das?“

Das Lächeln schwand jäh von Tschugunows Gesicht, und er blickte mit flammenden Augen in den Saal.

„Bei den Semiten werden die Seelen in der Hölle gequält. Unsere Götter hingegen gebieten uns zu kämpfen und uns das Recht auf Glück zu erobern, wenn nicht in diesem Leben, so doch im nächsten. Und wenn du in die Hölle gerätst, dann kämpfe dort mit den Teufeln! Kämpft und fürchtet euch nicht davor, diese schmutzige, kalte, graue Hölle verlassen zu müssen! Versucht sie zu vernichten! Macht euer Land frei und schön! Und sorgt dafür, daß es nicht zum Konzentrationslager für alle sündigen Seelen der Welt wird!“

„Dann ist die Hölle für Sie also Rußland?“ raunte der ganze Saal entgeistert.

„Ja, ja und nochmals ja! Doch das Russenland, das Lichte Russenland, von dem es hieß, es sei wunderschön und die Zierde der Welt, war keine Hölle. Zur Hölle wurde es erst, nachdem man es in ein Rußland verwandelt hatte, in dem seit vielen Jahrhunderten, bis zum heutigen Tag, Rohlinge und Mörder herrschen und in dem orthodox-semitische Popen die Menschen einer Gehirnwäsche unterzogen und ihnen eingeschärft haben, sie dürften nicht kämpfen!

Jawohl, viele Seelen, die sich in Rußland abgequält haben, werden in anderen Ländern geboren, wo ihnen ein glückliches Leben beschieden ist. Dies ist der Grund dafür, daß viele Menschen der verschiedensten Nationalitäten eine so unerklärliche Liebe zu Rußland empfinden. Eine solche unerklärliche Liebe zu anderen Ländern gibt es bezeichnenderweise nicht.

Eine irrationale Liebe zu Rußland zeichnet Menschen aus, deren Seelen in einem früheren Leben in diesem kalten, bösen Land gelitten und dadurch ihre früheren Sünden verbüßt haben. Doch eine höhere Form der Reinigung ist einzig jenen vorbehalten, die für die Vernichtung der Hölle im Lichten Russenland kämpfen. Und der Tag ist nicht mehr fern, wo unser Land aus einer russischen Hölle zum Paradies des Lichten Russenlandes werden wird. Dann werden hier nicht mehr die Seelen von Übeltätern aus allen Ländern und Völkern wiedergeboren werden, sondern Seelen, die dicht vor der Erkenntnis des Göttlichen Plans stehen.

Glaubt ihr etwa, der Mythos von der Letzten Schlacht, die sich im Legendenschatz so vieler Völker findet, sei einfach aus der Luft gegriffen? Mitnichten; sie verrät ein mystisches Wissen um die Zukunft!

Und dieser Krieg ist nahe. Ausbrechen wird er hier bei uns. In Rußland. Unser Land ist der Last, eine weltweite Hölle zu sein, überdrüssig! Es wurde zur Hölle, als es den Glauben an seine eigenen guten Götter verriet – an Swarog, Weles, Daschbog, die wunderbare Lada, den kühnen Perun – und die blutrünstigen Märchen des Alten Testaments als seine geheiligten Überlieferungen zu ehren begann.

So bekamen wir das, worum wir selbst gebetet hatten. Als Herrscher bekamen wir Unholde, Widerlinge und Sadisten vom Typ des jüdischen Königs David, wir bekamen einen Peter den Ersten und einen Josef Stalin. Vergleicht diese Staatsmänner mit König David, dem Organisator von Völkermorden. Lest parallel die Geschichte Rußlands und das Alte Testament. Dann wird euch alles klar.

Ein aufschlußreiches Detail: Die Entstehung Rußlands fiel mit der sogenannten Kleinen Eiszeit zusammen, als das Leben auf unseren Ebenen durch die Gewalt der Natur unerträglich wurde.

Das Ende Rußlands fällt mit der globalen Erwärmung zusammen. Bei uns werden in der Gegend um Wologda noch Aprikosenbäume blühen, und an den Gestaden des Weißen Meeres werden Eichenwälder rauschen. Nur selten wird der Himmel dann von Wolkenschichten verhüllt sein, und nasser Schnee wird nicht mehr sein als eine gelegentliche Warnung seitens der Götter sein, eine mahnende Erinnerung daran, wie die Hölle aussehen kann.“

„Wir haben genug gehört! Sie sind ein Feind Rußlands! Ohne die Orthodoxie wird Rußland zugrunde gehen! Sie sind ein Wolf im Schafspelz! Sie tun nur so, als seien Sie ein russischer Nationalist!“

„Bitte keine hysterischen Zwischenrufe, meine Herren! Siegfried, sorge für Ordnung im Saal!“ brüllte Tschugunow.

Vermutlich beeindruckte der ungewöhnliche Name Siegfried die Zuhörer; jedenfalls wurde es im Saal augenblicklich mäuschenstill. In den Gängen zwischen den Sitzreihen standen Siegfrieds Burschen.

„Wir können offenbar weitermachen. Auf Fragen, die mit Rußland zusammenhängen, gebe ich keine Antwort. Ich kämpfe nicht für Rußland, sondern für das Lichte Russenland. Mir ist völlig egal, was aus dieser weltweiten Kläranlage für sündhafte Seelen wird, die sich Rußland nennt. Zur Frage des russischen Nationalismus bin ich Ihnen allerdings eine Erklärung schuldig. Einige Leute in diesem Saal haben bei meinen Worten empört gebrüllt. Auch ohne sie zu fragen, weiß ich aber ganz genau, daß diese Schreier, die sich als russische Nationalisten gebärden, noch 1979 Kommunisten und Internationalisten waren. Ich war damals zwar noch ziemlich unpolitisch, habe jedoch im Organisationskomitee einer Gesellschaft mitgearbeitet, aus der später die Pamjat-Bewegung hervorging. Sie, meine Herren, die sich so lautstark als russische Nationalisten aufspielen, haben 1993 vor dem Flimmerkasten zugeschaut, wie das Weiße Haus sturmreif geschossen wurde, aber ich hielt mich damals in jenem Haus auf.

Ich kenne die heutigen patriotischen Kränzchen in- und auswendig. Alle diese Nationalisten sind es erst seit der Mitte der neunziger Jahre, als ihnen klar wurde, daß ihre geliebten Kommunisten nie wieder an die Macht zurückkehren würden. Hätte ich die Möglichkeit dazu gehabt, so hätte ich diese verkappten Kommunisten mit einem Bulldozer in einer Schlucht begraben. Nun ja, verzeihen Sie mir diesen groben Scherz.

Da wir nun schon einmal von Politik und nicht von Religion sprechen, möchte ich mich an jene unter Ihnen wenden, die sich im verworrenen Dickicht der Ideologie zurechtfinden möchten. Der russische Patriotismus und der russische Nationalismus sind Feinde. Dies ist gar nicht so paradox, wie es auf den ersten Blick anmutet. Einer der Begründer der Rassenlehre, Graf de Gobineau, bezeichnete den Nationalismus als natürliches menschliches Gefühl, während der Patriotismus, um es in der Sprache von heute auszudrücken, für ihn das Resultat einer propagandistischen Gehirnwäsche war, die nur den Interessen der herrschenden Bürokratie diente. Kluge Geister wußten also schon vor langem Bescheid.

Aber warum sollen wir uns noch länger bei den Problemen der patriotischen Politik aufhalten? Die Schizo-Patrioten sind in diesem Saal ja ganz offenkundig in der Minderheit. Kehren wir also zur Frage des Glaubens zurück. Gibt es zu diesem Thema noch Fragen?“

„Wer waren Sie in Ihrem früheren Leben?“

„Und Sie? Weiß der Mensch etwa, wer er früher war?“

Die schlanke junge Frau in der zweiten Reihe sah ihn mit hellen grauen Augen an, aus denen der brennende Wunsch sprach, etwas Übernatürliches zu begreifen.

„Sie sind doch ein Prophet. Ihnen sind Gaben verliehen, die uns gewöhnlichen Sterblichen abgehen.“

„Wie kommen Sie bloß darauf, daß ich ein Prophet sein soll? Aber ich will Ihre Frage beantworten. Woher ich es weiß, brauche ich Ihnen nicht zu sagen, aber sie dürfen mir jedes Wort glauben. Im früheren Leben war ich deutscher Kampfpilot. 1943 wurde ich südlich von Gelendschik abgeschossen und später zur Strafe für meine Sünden in Rußland wiedergeboren. 1941, als die Deutschen die Luftherrschaft besaßen, hatte ich mich nämlich nicht besonders gut aufgeführt. Darum mußte ich mich in diesem Land abquälen, um die Voraussetzungen für eine Wiedergeburt unter glücklicheren Umständen zu schaffen. Das Wort ‚Karma’ kommt übrigens aus dem Sanskrit und bedeutet ‚Arbeit’. Die Seele leidet und ‚arbeitet’, indem sie sich von den Sünden einer früheren Existenz reinigt. Es ist dies wahrhaftig eine harte Arbeit, eine sehr harte sogar, besonders wenn man die höhere Logik der Ereignisse nicht begreift. Ich habe mich ungeheuer angestrengt und in der Tat vieles erreicht, mußte aber dafür stets einen höheren Preis zahlen als andere.

Erst als ich gewisse Dinge, über die wir heute gesprochen haben, zumindest teilweise begriffen hatte, habe ich meinen Lebensstil geändert. Sie können mir glauben oder nicht, aber ich bin seither nie mehr krank geworden.

Und ich glaube. Ich glaube mit voller Inbrunst sowohl an Swarog als auch an seinen germanischen Kollegen Thor und an alle Götter unseres arischen Pantheon. Und sie helfen mir. Wahrscheinlich sind allerdings auch sie nur Vollstrecker des Willens des schaffenden Weltalls, dem es gefallen hat, uns als Helfer bei der Verwirklichung seines Plans zu wählen.“

Ihm schien es, die Mehrzahl der Anwesenden verstehe ihn und teile seinen Glauben. Doch der Glaube dieser Menschen bedurfte der Bestätigung. Nicht in Form von Zaubertricks, die man Wunder nennt, sondern in Gestalt echter Heldentaten.

Und der große Swarog segnete ihn und seine Mitkämpfer, um ihnen Kraft zur Vollbringung dieser Heldentaten zu schenken.

Kapitel 17. Himmlischer Donner

Der Winter neigte sich seinem Ende zu, doch vom Nahen des Frühlings war nichts zu spüren. Es schneite und schneite; bisweilen lugte die Sonne zwar hinter einer Wolkendecke hervor, aber sie spendete keine Wärme.

Heute jedoch schien tatsächlich die Sonne, und der Schnee, der auf dem mächtigen Feld lag, glitzerte in ihrem Schein.

Ein kleines, fast zwerghaftes Flugzeug vollzog über dem Feld eine Wende und setzte zur Landung an. Die Skier glitten über den Schnee, und dann kam das Flugzeug fast unmittelbar vor einer Menschengruppe zum Stillstand.

Ljocha Nikolski stellte den Motor ab und sprang aus der Maschine in den Schnee – vorausgesetzt, es konnte überhaupt von einem „Sprung“ die Rede sein, denn der Rumpf des Flugzeugs war löchrig und bestand aus lauter leichten Aluminiumröhren. Die Flügel waren aus Stoff. Von konventionellem Typ war einzig und allein der Motor mit seinem Propeller, der hinter dem Pilotensitz angebracht war, falls diese löchrige Verflechtung einiger Röhren diese Bezeichnung verdiente.

„Eine halbe Stunde Aufenthalt, und dann fliegst du wieder los“, sagte Tschugunow. „Ist die Zugkraft groß genug?“

„Alles hart an der Grenze“, antwortete Alexei, Aspirant des Moskauer Instituts für Luftschifffahrt, Nationalist und Studentenführer. „Natürlich wäre es besser, wenn das Feld ein wenig schief wäre; dann könnte man leichter starten.“

„Vielleicht wäre es empfehlenswert, einen Beschleuniger einzubauen? In Form einer Pulverladung. Es würde den Start sehr erleichtern, und dann könnte man ihn abwerfen. Die Gefahr einer unangenehmen Überraschung ließe sich dadurch wesentlich verringern. Nach der Operation muß man so oder so schleunigst wegfliegen, um sich vor den rasenden Feinden in Sicherheit zu bringen.“

„Wir werden uns Ihren Vorschlag durch den Kopf gehen lassen“, entgegnete Ljocha mit seinem üblichen leichten Lächeln.

„Übrigens: Wie läuft es mit Siegfrieds Burschen? Machen sie Fortschritte in der Kunst des Fliegens?“

Siegfried, der neben ihnen stand, lauschte ihrem Gespräch schweigend.

„Sie stecken mitten in der Ausbildung.“ Die Verlegenheit war Ljocha anzusehen.

„Rück mit der Sprache raus. Gibt es Probleme?“

„Pjotr Petrowitsch, stellen Sie sich vor, wie schwierig es ist, Leuten innerhalb einiger Monate das Fliegen beizubringen!“

„So schwierig ist es nun auch wieder nicht. In den fliegenden Abteilungen der US-Nationalgarde lernt man in drei Monaten fliegen. Im Ersten Weltkrieg wurden Piloten mit zehn Stunden Flugerfahrung in den Kampf geschickt, und genau dasselbe war bis 1944 in der UdSSR üblich. Und wir schulen unsere Leute ja nicht zum Luftkampf. Sie sollen nur losfliegen, landen, ihr Geschäft verrichten und...“

„Ihr Geschäft verrichten? Pissen sollen sie also?“, grinste Ljocha.

„Du bist mir ja ein Humorist. Nein, sie sollen etwas ganz anderes tun: Wegfliegen sollen sie! Die ganze Operation muß aber wie am Schnürchen klappen, und deine fliegende Schlange muß sich nach getaner Arbeit unbedingt wieder in die Lüfte erheben. Kapiert?“

„Erfolgt die Landung auf Skiern?“

Tschugunow warf einen fragenden Blick auf Siegfried. „Jawohl“, sagte dieser.

Durch das Land ging eine Welle von Protestkundgebungen gegen die sich unerbittlich verschlechternden Lebensbedingungen. Freilich konnte man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die Demonstrationen nicht allein auf die – in der Tat unerträglichen – Verhältnisse zurückgingen. Wer sich die Mühe machte, die Entwicklung aufmerksam zu verfolgen, erkannte zwangsläufig, daß eine höhere Kraft diese Kundgebungen lenkte oder zumindest den Widerstand dagegen blockierte.

Wie ein Blitz aus heiterem Himmel brachen nun noch Studentenunruhen aus. Zu den Studenten gesellten sich die Schüler der höheren Klassen. Während die jetzigen Studenten immerhin noch die Möglichkeit hatten, sich der Einberufung zum Militär zu entziehen, besaßen die Schüler der höheren Klassen diese Chance nicht mehr.

Die Machthaber waren ganz offensichtlich ratlos; keiner von ihnen hatte eine derart rasche Zunahme der Proteste erwartet, und außerdem war es klar, daß die Demonstranten durchaus nicht von einem einzigen Zentrum aus gelenkt wurden. In dieser Lage entstanden spontan immer neue Herde des Widerstands gegen die Regierung, und es entsprach der Natur der Dinge, das diese stellenweise einen ganz apolitischen Charakter aufwiesen und in Ausschreitungen ausarteten. Es war lediglich eine Frage der Zeit, wann es zu einem Gewaltakt kommen würde, der das Pulverfaß explodieren ließ.

Das wissenschaftliche Seminar zum Thema „Rußland und die islamische Welt“ wurde schon zum zweiten Mal in den Räumlichkeiten der Duma abgehalten. Es wimmelte nur so von hochkarätigen Teilnehmern; unter anderem waren nicht weniger als zwölf Botschafter islamischer Staaten anwesend.

Auch beim besten Willen konnte man Pjotr Tschugunow nicht als Freund des Islam einstufen, doch seine kenntnisreiche Einschätzung verschiedener Probleme brachte ihm auch bei Andersdenkenden Respekt ein. Grossen Beifall hatte beispielsweise ein aus seiner Feder stammender historischer Essay gefunden, in dem er darlegte, daß der Islam von den drei im Nahen Osten entstandenen Religionen – die beiden anderen sind das Judentum und das Christentum – vom Standpunkt der Interessen des Volkes aus die annehmbarste ist. Auch die eine oder andere Initiative des Verbands Russischer Ingenieure hatte das Interesse einiger „islamischer Genossen“ erweckt.

Außerdem wiesen gewisse Anzeichen darauf hin, daß Tschugunow in keiner Hinsicht dem Standardtyp des käuflichen russischen Politikers am Rande des politischen Spektrums entsprach. Dies allein war schon ein Grund, um ihm mit Achtung zu begegnen. Man spürte: Mit diesem Mann konnte man ernsthaft diskutieren.

Die Mehrheit der Anwesenden erinnerte sich noch an die Rede, die er ein Jahr zuvor im Rahmen desselben Seminars gehalten hatte, und rechnete damit, daß er sich ähnlich wie damals äußern würde. Doch nein, diesmal waren seine Ausführungen kurz und bündig:

„Ihre Exzellenzen“, wandte er sich an die Botschafter, „Herr Vorsitzender, verehrte Anwesende. Hier sind heute viele wichtige Fragen zur Sprache gekommen, und schon aus Zeitgründen kann ich ganz unmöglich zu ihnen allen Stellung beziehen. Doch möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf ein zentrales Problem lenken, vor dessen Hintergrund viele andere der aufgeworfenen Fragen schlicht bedeutungslos werden. Das Thema unseres Seminars lautet ‚Rußland und die islamische Welt’. Aber Rußland steckt gegenwärtig in einer schweren sozialen und politischen Krise. Als Fachmann für Systemanalyse und die Theorie der Prognostizierung muß ich Sie darauf hinweisen, daß jede beliebige Prognose zu Krisenzeiten stark spekulativen Charakter trägt.

Prognostizieren und planen kann man nur Dinge, die auch nach der Krise noch Bestand haben werden. Dieser Sachverhalt scheint den unter uns weilenden Vertretern der russischen Machtstrukturen übrigens entgangen zu sein. Sie gehen offenbar davon aus, daß die heutige Situation noch eine unbestimmte Zeit lang andauern wird. Mann kann diese Menschen verstehen; schließlich steht es ihnen nicht frei, nach eigenem Ermessen zu handeln. Aber Sie, meine Herren Vertreter der islamischen Welt, müssen begreifen, daß sich in unserem Land schon innerhalb eines halben Jahres alles ändern wird!

Suchen Sie deshalb nach Möglichkeiten, Ihre Interessen in diesem Land unter veränderten Bedingungen zu verfechten! Machen Sie sich Gedanken darüber, welcher Art diese veränderten Bedingungen sein könnten. Denken Sie darüber nach, wer in diesem Land künftig eine Schlüsselrolle spielen könnte, und nehmen Sie Kontakt zu diesen Leuten auf!

Das Verhalten zahlreicher ausländischer Politiker im heutigen Rußland erinnert mich an die Intrigen, die im Januar 1917 am Zarenhof gesponnen wurden. Verlieren Sie ihre Zeit nicht mit solchen Spielen, meine Herren!

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.“

Die im Saal anwesenden Kreml-Vertreter platzten schier vor Wut, und nur die Anwesenheit von zwölf Botschaftern hielt sie davon ab, einen Skandal zu provozieren.

Beim Büfett trat ein unauffälliger Mann an Tschugunow heran, der schon beim vorherigen Seminar vor einem Jahr mit ihm gesprochen hatte.

„Herr Professor, das letzte Mal habe ich mir Rechenschaft darüber abgelegt, daß es in vielen Fragen ausgezeichnete Perspektiven zur Zusammenarbeit zwischen uns gibt. Bedauerlicherweise war es nicht möglich, die notwendigen Entscheidungen so rasch zu treffen, wie Sie es sich gewünscht hatten. Doch nichts hindert uns daran, diese Fragen von neuem zu erörtern.“

„Bedauerlicherweise haben alle diese Themen ihre Aktualität seither eingebüßt, Herr Berater. Erst nach dem Sturz des heutigen Regimes, der innerhalb der kommenden sechs Monate zu erwarten ist, werden wir auf sie zurückkommen können“

„Ist das Ihre Prognose?“

„Natürlich ist es eine Prognose. Was denn sonst?“

„Wie Sie wissen, existiert in der Theorie der Prognose der Begriff der Plan-Prognose.“

„Ach so, dann sind Sie also ebenfalls Spezialist auf dem Felde der Prognostik und somit Kollegen?“

„Aber Herr Professor, wie könnte ich mich bezüglich meiner theoretischen Kenntnisse bloß mit Ihnen vergleichen!“

„Sie übertreiben meine wissenschaftlichen Verdienste. Diese sind ziemlich bescheiden.“

„Aber Sie sind doch recht bekannt.“

„Wissen Sie, bei uns in Rußland pflegt man scherzhaft zu sagen, diese oder jene Person sei in einem engen Kreis weltbekannt.“

Der Berater lachte vergnügt.

„Und doch, Herr Professor, sind gewisse islamische Kreise – um Ihren Ausdruck aufzugreifen – in den Prozeß der...“ – er hielt einen Augenblick inne und suchte nach einer unverfänglichen diplomatischen Formulierung – „den Prozeß der Korrektur des politischen Modells verwickelt“.

„Dann sind diese islamischen Kreise also an einer solchen Korrektur interessiert?“

„Die islamische Welt ist durchaus kein monolithischer Block. Doch aller Wahrscheinlichkeit nach werden sich Kreise finden, die tatsächlich daran interessiert sind.“

„Diesen interessierten Kreisen würde ich raten, den innenpolitischen Prozeß in unserem Lande...“ - er hatte sagen wollen „aktiv zu beeinflussen“, wählte aber dann eine jesuitisch raffinierte Formulierung – „in den kommenden zwei oder drei Wochen mit äußerster Aufmerksamkeit zu beobachten“.

„Sie sind also der Ansicht, die an einem Wandel des politischen Modells interessierten Kreise sollten den innenpolitischen Entwicklungen in Ihrem Land erhöhte Aufmerksamkeit schenken?“

„Leider kenne ich diese Herren nicht und habe keine klaren Vorstellungen von ihren gegenwärtigen Interessen.“

Bei diesen Worten blickte Tschugunow seinem Gesprächspartner mit einem wölfischen Lächeln ins Gesicht. Nur schade, daß man ein Lächeln nicht an ein Dossier anheften kann...

„In der gegenwärtigen Situation braucht es allerdings nicht viel Phantasie, um sich auszumalen, welche Interessen diese Herren verfolgen“, fuhr Tschugunow fort. „Sie fallen alles in allem mit den Interessen sehr vieler anderer Menschen zusammen, insbesondere wohl mit denjenigen jener islamischen Kreise, auf die Sie hingewiesen haben.“

„Vielen Dank. Es war hochinteressant, sich mit Ihnen zu unterhalten.“

„Ganz meinerseits, Herr Berater.“

Es war immer noch sehr kalt, doch der Duft des Frühlings hing bereits in der Luft. Oder machte es nur so den Anschein? War es letzten Endes gar nicht der Duft des Frühlings, sondern der Duft der Freiheit, der in Rußland vielen Menschen in die Nüstern stach?

In einem kleinen baschkirischen Städtchen verspürte man diesen Duft besonders stark, besonders bei der Jugend. Etwas mehr als ein Jahr zuvor hatte sich dort ein unbedeutender Zwischenfall zugetragen. Die Massenmedien berichteten damals, einige Burschen hätten in einem vor allem von jungen Menschen besuchten Café drei Milizionären, denen ihre Macht offenbar allzu sehr zu Kopf gestiegen war, eine Abreibung verabreicht. Das Innenministerium entschied darauf, ein Exempel zu statuieren. Einheiten der Krawallpolizei OMON rückten in die Stadt ein und verprügelten zwei Wochen lang jeden jungen Mann, der ihnen in die Fänge geriet. Die OMON-Schläger führten sich auf wie Besatzer.

Tschugunow hatte diese Ereignisse damals am Fernsehen verfolgt. Das Wüten der OMON-Leute hatte ihn nicht sonderlich verwundert; schließlich wußte er seit 1993, daß diese tatsächlich Okkupanten seines Landes waren. Und brutalere, den Volksmassen gegenüber feindlicher gesinnte Okkupanten als die Rohlinge von der OMON konnte man sich kaum vorstellen. So dachte wenigstens Tschugunow; ob zu Recht oder zu Unrecht, sei dahingestellt.

Und nun geschah das Unglaubliche: Einige junge Kerle, denen der Duft des Frühlings und der Freiheit offenbar den Verstand geraubt hatte, beschloß, „den Bullen abermals eine Lektion zu erteilen“, und setzte diesen Entschluß prompt in die Tat um. Die Stadt erstarrte vor Entsetzen.

Die Strasse beschrieb einen leicht abfallenden Bogen um einen Hügel, änderte dann jäh ihre Richtung und wand sich um den nächsten Hügel. In dieser von zahllosen Hügeln übersäten Gegend spürt man, daß die Berge des Ural nicht mehr allzu weit entfernt sind, auch wenn man noch nicht von einem eigentlichen Vorgebirge sprechen kann.

Beim Bau der Strassen wurde darauf geachtet, daß sie möglichst nicht steil ansteigen und abfallen. Darum schlängelte sich dieser Straßenabschnitt zwischen Hügeln durch, welche ihn im Format eines Schachbretts umrahmten.

Die Busse rollten auf einer fast leeren Strasse und fuhren in jenen Abschnitt ein, der sich schräg mit einer fiktiven Gerade zwischen den Spitzen der beiden Hügel schnitt. Bei den Insassen der Busse handelte es sich um OMON-Leute. Ihr Auftrag bestand darin, sich die wildgewordenen Jugendlichen vorzunehmen, die sich offenbar für weiß wer hielten und die ihnen vor einem Jahr erteilte Lektion allem Anschein nach bereits wieder vergessen hatten. Diesmal gedachten sie ihnen einen Denkzettel verabreichen, den sie zeit ihres Lebens in Erinnerung behalten würden.

Solche Gedanken gingen vielen der Männer durch den Kopf, die sich in den Bussen ihrem Bestimmungsort näherten. Diesmal galt es nicht zu kämpfen, sondern zu strafen. Nicht einmal in ihren schlimmsten Albträumen hätten sie sich ausgemalt, daß ihnen in Rußland dasselbe bevorstehen würde wie weiland bei ihren Einsätzen in Tschetschenien.

„Kruzitürken!“ fluchte der Fahrer des ersten Busses, der auf den groben Asphaltflicken, welche diesen Teil der Strasse übersäten, ins Schleudern geraten war. „Was sind das bloß für miese Reparateure! Eine Pfuscharbeit sondergleichen!“

Ein potentieller Kontrahent hätte ihm wahrscheinlich geantwortet, in Rußland gebe es zu wenige Straßenreparateure, weil es zu viele Polizisten gebe, und darum seien die Reparateure nicht imstande, qualitativ hochwertige Arbeit zu verrichten. Doch in diesem Fall hätte der Kontrahent unrecht gehabt. Die Flicken auf der Strasse stammten nämlich keineswegs von Reparateuren.

Als der letzte Bus in den mit Flicken übersäten Straßenabschnitt eingebogen war, der erste diesen jedoch noch nicht verlassen hatte, explodierten die „Flicken“, oder besser gesagt die Sprengstoffladungen, die ihrem Aussehen nach an Asphalt erinnerten. Ausgelöst wurde die Detonation durch einen Funkspruch. Auf in den Ladungen verborgenen Zünder hätte man mit einem Hammer einschlagen können, ohne daß sie explodiert wären; sie reagierten lediglich auf ein Funksignal.

Als Tschugunow die jungen Ingenieure ein paar Monate zuvor mit der Herstellung solcher Sprengkörper beauftragt hatte, fürchtete er, das Ganze werde mit einem Fiasko enden. „Eine ganz einfache Sache“, hatte der schlaksige junge Mann mit Brille, ein frischgebackener Absolvent des Moskauer Instituts für chemische Feintechnologie, damals gegrinst, und sein Kollege, der eben die Moskauer Universität für Radiotechnik, Elektronik und Automatik abgeschlossen hatte - ein kleinwüchsiger, stämmiger Bursche, der irgendwie an Tschugunow erinnerte -, pflichtete ihm eifrig bei.

Die Autobusse, in denen die „Rächer“ saßen, hatten sich durch die Wucht der Detonationen verkrümmt. Selbstverständlich waren nicht alle ihrer Insassen außer Gefecht gesetzt; durch eine solche Explosion kann man einen Bus nämlich nicht so gründlich zerstören, daß alle Passagiere getötet oder schwer verwundet werden. Die nicht oder nur leicht verletzten OMON-Leute sprangen aus ihren Fahrzeugen, um sich gegen die Angreifer zu verteidigen. Daß ihnen der Schreck in den Gliedern saß und sie die Lage nicht auf Anhieb richtig einzuschätzen vermochten, versteht sich von selbst, doch immerhin waren sie Profis und verfielen nicht in Panik.

Auf den rund einen Kilometer entfernten Gipfeln der Hügel waren Maschinengewehre in Stellung gegangen. Es handelte sich um alte, aber durchaus brauchbare Waffen des Modells Degtjarew, welche dieselben Patronen verwendeten wie die bekannten Mosin-Gewehre. Eine solche Kugel kann noch auf eine Distanz von mehr als einem Kilometer tödlich wirken. Die Schützen waren offensichtlich keine Meister ihres Faches; sie gaben lange Salven ab und zielten nicht allzu genau. Dennoch blieb den ins Kreuzfeuer geratenen OMON-Leuten nichts anderes übrig, als in den Straßengräben in Deckung zu gehen.

Dies taten sie flugs, und sie schickten sich schon an, den mittelmäßigen MG-Schützen zu Leibe zu rücken, als eine neue Serie von Explosionen erfolgte. Die Straßengräben waren auf dieser Strecke nämlich buchstäblich mit Minen gespickt. Nun war bei den „Rächern“ nicht den geringsten Wunsch mehr übrig, die MG-Schützen anzugreifen, zumal von ihnen selbst nicht mehr allzu viele übriggeblieben waren...

Auf der anderen Seite des Hügels begannen Motoren zu dröhnen. Die winzigen Flugzeuge rollten den Abhang hinunter, erhoben sich – mühsam, aber selbstbewußt – in die Luft, gewannen rasch an Höhe und entfernten sich von der Strasse. Niemand bekam sie zu Gesicht, denn die Gegend war menschenleer, und von der Strasse aus konnte man sie nicht sehen, weil die Hügel dazwischen lagen.

„Die Ware ist eingekauft. Keinerlei Beanstandungen“, piepste das Funkgerät  in Tschugunows Auto.

„Prima.“ Er wählte eine Nummer: „Entschuldigen Sie, die Reparateure werden nicht gebraucht.“

„Verstanden.“

Schon eine Stunde nach dem Überfall war kein einziger der daran Beteiligten weniger als fünfzig Kilometer von der Stadt entfernt.

In der Nacht fiel nasser Schnee, und die Ermittler, die am folgenden Morgen die Spitze der Hügel untersuchten, fanden dort nichts weiter als verschossene Hülsen. Doch selbst wenn die Götter diesen Schnee nicht gesandt hätten – was hätten die Spuren von Jagdskiern, die sich im Feld verloren, schon verraten können? Nichts!

Ganz Rußland verfolgte die Ereignisse atemlos. Es war mittlerweile jedem klar, daß sich der Widerstand des Volkes nur unterdrücken ließ, wenn das Volk unbewaffnet war. Verfügte es hingegen über Waffen, so waren die Tage der Machthaber gezählt. Das Imperium hatte es nicht einmal fertiggebracht, das kleine Tschetschenien endgültig zu unterwerfen. Und waren die „Rächer“ etwa in der Lage, vor jedem ihrer Autos einen Sprengstoff- und Minendetektor anzubringen und mit zwanzig Stundenkilometern kreuz und quer durch Rußland zu fahren? Es fehlte dem Regime schlicht und einfach an den notwendigen Mitteln, um jeden Herd des Volkswiderstandes auszuschalten.

Zusätzliche Brisanz erhielt die Lage dadurch, daß sich der Überfall in Baschkirien zugetragen hatte, also einer überwiegend muselmanischen Republik. Überall im Lande erhoben sich Muslime zur Verteidigung des Städtchens und drohten für den Fall einer abermaligen Strafexpedition unverhüllt damit, ihre Glaubensgenossen in ganz Rußland zu mobilisieren.

Allerdings gab es nicht den geringsten Hinweis darauf, daß die Muslime die Hände im Spiel gehabt hatten. Die Bevölkerung des Städtchens bestand überwiegend aus Russen. Nichtsdestoweniger verbreiteten die Muslime selbst über alle möglichen inoffiziellen Kanäle eifrig Desinformation über einen bevorstehenden Aufstand aller islamischen Bevölkerungsgruppen. Ganz offensichtlich wollten sie von den Geschehnissen profitieren.

Und wenn der Überfall letzten Endes doch ihr Werk gewesen war? Zumindest gewann man den Eindruck, die radikalen Muslime bereiteten sich auf ähnliche Aktionen vor. Vielleicht hatten sie das Massaker an den OMON-Leuten gemeinsam mit irgendwelchen unbekannten Bundesgenossen organisiert? Wenn dies aber der Fall war, über welche Mittel verfügten sie überhaupt?

Ganz offensichtlich mußten die Machthaber zuerst die Lage einschätzen, ehe sie sich zu massiven Reaktionen anschicken konnten. Und die Zeit lief ihnen davon. Daß die Rebellen, welche die OMON-Leute aufgerieben hatten, ungestraft davongekommen waren, verlieh ihren Gesinnungsgenossen, die vergleichbare Aktionen planten, mächtig Auftrieb und ermunterte außerdem die Demonstranten, welche überall im Lande eine ständig wachsende Zahl von Protestkundgebungen inszenierten, zu einem immer kühneren Vorgehen.

Kapitel 18. Das karpatische Taufbecken

Während sich die westlichen Hänge der Karpaten durch hohe Feuchtigkeit auszeichnen, sind die östlichen weit trockener und wärmer. Anfang April stand der Frühling in den Vorkarpaten bereits in voller Blüte. Natürlich war der Schnee noch nicht vollständig geschmolzen, doch gab es bereits Wege, wo man ungehindert laufen konnte.

Genau dies taten sie auch und legten auf den Serpentinen kleiner Bergwege einen Kilometer nach dem anderen zurück. Der karpatische Frühling versetzte sie in einen Rauschzustand. Alles und jedes schien vor Lebenskraft zu strotzen: Das erste Grün auf den Hängen, die ungestüm knospenden Blätter, das Rauschen der zahllosen Sturzbäche. Und die liebenswerte Sonne am zärtlich-blauen Firmament.

Die Armeestiefel knirschten auf dem Kies, und von den Leibchen rieselte der Schweiß. Tschugunow rannte mit den anderen. Die einzige Vergünstigung, die er sich gewährte, war, daß er nicht in Armeestiefeln lief wie die übrigen, sondern in Adidas-Turnschuhen mit Gumminoppen.

In dieses Lager war er zunächst als Inspektor gekommen – immerhin wurde es ja mit seinem Geld unterhalten -, doch gab es noch andere Gründe. Nach der baschkirischen Aktion tat er gut daran, sich möglichst weit weg vom Ort der dramatischen Ereignisse und am liebsten überhaupt nicht in Rußland aufzuhalten. Außerdem war es längst an der Zeit, die ukrainischen Freunde persönlich kennenzulernen; bisher waren sämtliche Kontakte über Jura gelaufen. Dann gab es noch eine ganze Reihe anderer, subtilerer Fragen, die es demnächst anzupacken galt. Schließlich konnte es nur von Nutzen sein, wenn er unter den Kämpfern eine gewisse Autorität erwarb und ganz nebenbei noch etwas für seine Gesundheit tat. Die beiden letzten Ziele verwirklichte er gleichzeitig. Während er an dem knochenharten Training teilnahm, fühlte er mit Entzücken, daß seine Kräfte sichtlich wuchsen und er von Tag zu Tag jünger wurde. Siegfrieds Adler brachten ihm aufrichtigen Respekt, teils sogar Bewunderung entgegen.

Die Läufer hatten eben den letzten Aufstieg geschafft. Unten, auf einer sanft abfallenden Wiese inmitten eines Buchenhains, erschien ihr Lager. Es bestand aus bescheidenen, aber durchaus gefälligen Bretthäuschen. Ferner gab es eine Kantine, ein Sportfeld sowie einen mächtigen Bretterbeleg, der sowohl für Übungen unter freiem Himmel als auch als Ort für nächtliche Sitzungen oder allgemeine Versammlungen dienen konnte.

Nun setzten die Läufer auf dem leicht abschüssigen letzten Teil des Weges zum Endspurt an, und schon bald erreichten sie das Lager, wo sie sich gleich zum Reck begaben.

„Jeder macht zwölf Drehungen; dann geht es an den Stufenbarren und anschließend marsch in die Dusche. Frühstück in zwanzig Minuten“, befahl der Instruktor knapp, aber unmißverständlich.

Tschugunow trat mit den anderen zum Reck, wo er vierzehn Drehungen absolvierte. Den Stufenbarren schenkte er sich; danach ging er zu einem kleinen See, der an eine Bucht gemahnte und neben einem Bergbach, dessen Wasser ihn speisten, künstlich errichtet worden war. Tschugunow zog sich aus und tauchte in dieses Becken. Sein erhitzter Körper spürte die Kälte nicht. Er schwamm den Rand des Seeleins entlang und führte erst jetzt allmählich, wie die Kälte zuerst seinen Hals befiel und sich von dort aus ausbreitete. Hals und Kehle sind bei solchen heilsamen Bädern die empfindlichsten Körperteile. Ohne sie hätte er dreimal länger baden können. Er warf den Kopf energisch hoch, erwärmte dadurch seinen Hals und rieb ihn dann noch eifriger ab als den Rest seines Körpers.

Schon seit geraumer Zeit liebte Tschugunow diese eiskalten Bäder nach einer großen körperlichen Anstrengung über alles. Als junger Mann wäre er dabei wahrscheinlich krank geworden. Bei sich zu Hause pflegte er von April bis November im See zu baden, und hier nutzte er jede Gelegenheit zu einer solchen Erfrischung, was sein Ansehen bei den Kämpfern, Jura und Siegfried noch mehrte.

Was war das? Eine zweite Jugend? Oder ein zweites Leben? Er erinnerte sich an das Lieblingsmärchen aus seiner Kindheit und die Worte des Krieger-Zauberers: „Ich, Basch Tscherik, das Stählerne Haupt, schenke dir ein zweites Leben!“

Ich danke dir für dieses zweite Leben, Swarog!

Er dampfte förmlich, und seine Haut war tiefrosa, ja fast rot.

„Sie sehen großartig aus, Herr Professor!“ Am Rand des Beckens stand De Croix; er trug einen leichten Tarnanzug – einen Armeeanzug zwar, aber einen so eleganten, daß man sich den Belgier darin ohne weiteres in mondäner Gesellschaft hätte vorstellen können. So schien es wenigstens Tschugunow, doch vielleicht war dies bloß der irrige Schluß eines einfachen russischen Menschen, der Westeuropa lediglich vom Hörensagen kennt.

„Entschuldigen Sie, Herr Professor, aber als man mir sagte, daß sie in diesem entsetzlich kalten Wasser baden, wollte ich es einfach nicht glauben und beschloß mich selbst davon zu überzeugen. Ich bitte nochmals um Entschuldigung.“

Er hatte englisch gesprochen.

„Keine Ursache“, erwiderte Pjotr auf deutsch.

„Ach so, Sie sprechen Deutsch? Für mich wäre es leichter, wenn wir uns in dieser Sprache unterhalten könnten“, sagte der De Croix auf deutsch.

Pjotr lachte; er hatte den Belgier nur der Spur nach verstanden.

„Nein, Herr De Croix. Sprechen wir englisch! Und reden Sie bitte nicht in komplizierten Sätzen, denn ich kann nicht besonders gut englisch. Auf deutsch kenne ich nur ein paar Redewendungen; ich habe diese Sprache nie gelernt.“

„Alles klar“, erwiderte De Croix ernsthaft. „Ich möchte mir gleich nach dem Frühstück mit Ihnen unterhalten. Sie haben doch nichts dagegen?“

„Gewiß nicht.“

Sie saßen an einem kleinen Tisch, der sich am Rand des Bretterbelegs befand. Dieser Rand erhob sich über den Abhang, und vom Tisch aus eröffnete sich ein schwindelerregender Ausblick auf das ins Licht der Frühlingssonne getauchte Tal. Pjotr war ähnlich gekleidet wie De Croix, wenn auch natürlich nicht so stutzerhaft. Zu Beginn der Unterredung waren auch Jura und sein alter Freund Andrej Schkilko, ein bekannter Aktivist der UNA-UNSO sowie Abgeordneter des ukrainischen Parlaments, zugegen. Einem Uneingeweihten wäre die Freundschaft dieser beiden Männer, die in Bosnien ohne weiteres auf einander hätten schießen können, völlig unbegreiflich vorgekommen. Doch ist dies eine höchst primitive Sichtweise imperialer Spießbürger, denen jedes ritterliche Denken zutiefst fremd ist. Kipling hat es großartig formuliert:

Was sind schon Stamm, Land und Geschlecht
Wenn der Starke dem Starken
Am Rand der Erde
Von Angesicht zu Angesicht entgegentritt.

Die Logik des Schicksals hatte es gewollt, daß Andrej und Jura zuerst aufrichtige Freunde wurden, dann begriffen, daß sie viele gemeinsame Ideale hatten, und sich schließlich zu Waffenbrüdern in einem gemeinsamen Kampf entwickelten.

Bei diesem Projekt hatte Andrej die Stützpunkte in der Ukraine zur Verfügung gestellt, wo sich die Mitstreiter Pjotrs, Juras und Siegfrieds auf die nationale Revolution zur Befreiung des russischen Volkes vorbereiteten, und er sorgte jetzt dafür, daß sie vor neugierigen Blicken abgeschirmt blieben.

Jura sprach noch schlechter Englisch als Pjotr und beteiligte sich nicht am Gespräch. Andrej beherrschte diese Sprache offenbar weit besser, als es auf den ersten Blick den Anschein machte. Er äußerte gegenüber De Croix ein paar höfliche Floskeln, zwinkerte Jura zu, entschuldigte sich und ging mit Jura weg. Nun waren Pjotr und De Croix zu zweit.

„Herr De Croix, ich möchte Sie gerne ‚Bruder Guillaume’ nennen.“

„Und was hindert Sie daran, dies zu tun?“ fragte der Belgier.

„Alle meine Vorfahren waren freie Menschen; es gab nicht einen einzigen Leibeigenen unter ihnen. Doch einen Nachfahren der Merowinger ‚Bruder’ zu nennen, fällt mir nicht leicht.“

„Die Fürsten De Croix waren nur eine jüngere Nebenlinie der berühmten Merowinger.“

„Aber trotzdem waren sie Fürsten.“

„Ach lassen Sie doch die Förmlichkeiten, Pjotr – darf ich Sie so nennen?“

„Selbstverständlich.“

„Was die Merowinger betrifft, so haben diese tatsächlich ihre Wappen und ihr Blut in ganz Europa hinterlassen. Überall, wo man einen Bären mit Axt im Wappenschild führt, finden sich unsere Spuren. Dies gilt auch für das russische Jaroslawl.“

„Ja, in alter Zeit war Europa wirklich einig.“

„Und es wird es wieder sein!“

„Ich teile Ihre Auffassung.“

„Übrigens, Pjotr, warum nutzen die Muslime eure Siege so weidlich aus? Einigen von uns bereitet dies Kopfzerbrechen. Wissen Sie, letztes Jahr haben muslimische Extremisten in Belgien einen unserer berühmtesten Dichter ermordet. Überhaupt hoffen wir, in Ihrer Person einen Verbündeten im Kampf gegen den Islam zu finden.“

„Sie haben ihn schon gefunden. Wir bleiben unserem Schwur treu, auch wenn wir ihn nicht förmlich abgelegt haben. Sie verstehen doch sicher, worauf ich anspiele.“

„Ja.“

„Was die Muslime angeht, so sind diese nichts weiter als zeitweilige Verbündete in einer bestimmten Phase des Kampfes. Wir führen einen Krieg bis aufs Messer und können es uns einfach nicht leisten, auf Verbündete zu verzichten. Sind Sie mit dieser Erklärung zufrieden?“

„Voll und ganz. Reden wir von den Finanzen. Ich habe zu Ihrer Unterstützung weitere fünf Millionen Euro mitgebracht.“

„Ich danke Ihnen. Gestatten Sie mir nun, Ihnen einige aktuelle Fragen zu erklären.“

„Bitte sehr.“

„Das russische Volk war zu einer nationalen Revolution bereit. Doch zu dieser erfolgreichen Durchführung fehlte es an zwei Dingen. Erstens gab es keine klar formulierten revolutionären Ziele und keine klare Distanzierung von jenem internationalen Staat, der sich Russische Föderation nennt. Zweitens gebrach es an Mitteln zur Finanzierung dieser russisch-nationalen, aber gegen die Russische Föderation gerichteten Revolution. Drücke ich mich verständlich aus?“

„Vollkommen.“

„Sobald die Ziele der Revolution mit aller Klarheit formuliert waren und die Informationsblockade gegen diese Idee aufgehoben wurde, war mit dem Auftreten äußerer Verbündeter zu rechnen. Bei diesen konnte es sich um Chinesen, um Muslime, um den Westen als Ganzes, um Europa oder um Japan handeln. In jenem einzelnen Fall hätten wir unsere Ziele auf einem anderen Weg erreicht. Dies mag verwunderlich scheinen, aber wir hätten unsere Zielsetzungen vermutlich in jedem Fall verwirklicht, und wer die neuen Perspektiven nicht rechtzeitig begriffen hätte, hätte zu den Verlierern gehört.

Der erste, der dies verstand, waren Sie. Sie haben waghalsig, aber richtig kalkuliert. Vermutlich war dies der Wille der Götter. Wir freuen uns, daß wir die unabdingbare Unterstützung von arischen Brüdern bekommen haben und nicht beispielsweise von den Muslimen, die allzu lange gezögert haben.

Wir danken Ihnen, aber wir wissen, daß auch Sie auf uns angewiesen sind. Hätten Sie gezaudert, so hätten wir andere Unterstützer gefunden. Doch genug mit dem ‚wenn’ und dem ‚aber’. Wir stehen im gleichen Lager, und wir verraten unsere Freunde nicht. Das wissen Sie.

Nun hätte ich eine Frage. Meiner Ansicht nach vertreten Sie Europa, nicht aber den Westen in seiner Gesamtheit. Habe ich mit dieser Einschätzung recht?“

„Sie irren sich nicht, Pjotr. Sie sind ein sehr intelligenter Mensch. Aber Sie kennen den Westen nicht.“

„Das stimmt.“

„Im gegebenen Fall führen Ausdrücke wie ‚Europa’ oder ‚der Westen’ in die Irre. Ihre Fragestellung ist nicht korrekt. Verstehen Sie mich?“

„Ja, Guillaume.“

„Ich müßte Ihnen sehr viel erklären, doch fehlt mir die Zeit und die Möglichkeit, dies jetzt zu tun. Darum drücke ich mich knapp und vereinfachend aus: Wir vertreten in erster Linie Europa, darüber hinaus jedoch auch den Westen als Ganzes. Wir möchten gerne einen Teil der Russischen Föderation als Bestandteil unserer Welt sehen. Sie selbst nennen diesen Teil ‚Russenland’. Ohne das Russenland kann es kein starkes und autarkes Europa geben. Ohne ein starkes Europa gibt es keinen Westen. Ohne einen weißen, europäischen, arischen Westen läßt sich der Göttliche Plan nicht begreifen, und die Erde hat keine Existenzberechtigung mehr.

Dies wußten die Merowinger, die Bruce, die Saint-Clair und viele andere. Doch wir, die wir sehr viel hatten, haben es verloren. Und nun setzen Sie am Rande Europas zum Sturm der Festung an, ohne selbst zu wissen, wie Sie sich anstellen sollen. Haben Sie mich verstanden?“

„Alles außer dem letzten Satz.“

„Das ist nicht so wichtig. Alles in allem haben Sie mich verstanden. Es bedarf kaum der Erwähnung, daß wir nicht die einzigen waren, welche die orangenrote Revolution bestellt haben, ja wir waren dabei nicht einmal die wichtigsten Akteure. Der Hauptakteur ist der ‚andere Westen’. Können Sie mir folgen?“

„Ja.“

„Aber wir spielen unser Spiel im Rahmen dieses Projekts; in Ihnen sehen wir die Vorhut in unserem gemeinsamen Kampf, und wir sind bereit, diese Vorhut mit unserer gesamten schweren Artillerie zu unterstützen.“

„Aber aus dem Hinterhalt, aus einer verdeckten Stellung?“

„Richtig; wir dürfen uns nicht exponieren. Doch täuschen Sie sich nicht: Sie haben nichts zu verlieren.“

„In der Tat, wir haben nichts zu verlieren, Guillaume. Und deshalb möchte ich Ihnen einige Zeichnungen überreichen, nach denen Sie uns bitte die entsprechenden Gegenstände besorgen wollen.“

„Stehen sie im Zusammenhang mit Ihren Meisterwerken auf dem Gebiet der Fliegerei?“

„Sie stehen im Zusammenhang mit einer Atombombe.“

„Wir ahnten schon, daß es darauf hinauslaufen würde.“

„Sie haben ja selbst gesagt, daß wir nichts zu verlieren haben...“

„Wir stellen nur eine Bedingung: Die Bombe darf unter gar keinen Umständen den Muslimen in die Hände geraten!“

„Sie können beruhigt sein, das ist völlig ausgeschlossen. Wir werden lediglich über ein oder zwei Stück verfügen und diese selbst einsetzen, gegen Ziele auf dem Territorium Rußlands – falls sich dies überhaupt als nötig erweist, wohlverstanden. In diesem Fall müssen Sie mit Hilfe Ihrer Massenmedien die Welt davon überzeugen, daß dies der Kreml selbst getan hat, um seine Macht zu behaupten. Überhaupt sind wir ganz allgemein auf die entschiedene Unterstützung durch Ihre Medien angewiesen, beispielsweise in der Frage der Wiedergeburt der heidnischen Glaubensgemeinschaft in Rußland. Darüber hinaus gilt es natürlich Druck auf die russischen Bosse auszuüben. Alle von ihnen haben alle Geld im Westen. Greifen Sie also zum Mittel der finanziellen Erpressung. Und verhalten Sie sich während der Periode der Aktivisierung der Massen völlig passiv.“

„Kein Problem, wird gemacht. Die von Ihnen aufgezählten Punkte sind durchwegs recht trivial. Wir haben ohnehin bereits dementsprechende Pläne ausgearbeitet. Doch das ist nicht das Wichtigste. Das Wichtigste ist: Wann schlägt die Stunde X?“

“Ich glaube, die Entscheidung fällt noch vor dem Herbst.“

Guillaume blickte Tschugunow aufmerksam an und erhob sich dann. Auf seinem Gesicht lag ein feierlicher Ausdruck. Pjotr stand ebenfalls auf.

„Ein Schwert haben wir nicht“, sagte der Belgier, legte seine rechte Hand auf Tschugunows Schulter und sprach:

„Ich, Fürst De Croix, Prinz aus dem Geschlechte der Merowinger, schlage dich zum Ritter.“

In weniger feierlichem Ton fügte er hinzu:

„Die Feierlichkeiten verschieben wir auf die Zeit nach dem Sieg.“

Tschugunow sah ihm direkt in die Augen und sagte – natürlich unter grober Verletzung des Protokolls und nur einer unerklärlichen Intuition folgend:

„Danke, Guillaume. Aber du weißt, daß ich den Sieg nicht mehr erleben werde.“

Guillaumes Kehle zuckte. Ohne die Augen abzuwenden, sagte er:

„Du bist ein Ritter von echtem Schrot und Korn, Pjotr.“

Er schwieg einen Augenblick und fügte dann hinzu:

„Und doch...

Wie kann ich still und ruhig im Grabe liegen

Während meine Brüder bis zur Hüfte im Blute waten?

Diese beiden Zeilen zitierte er auf französisch. Pjotr hatte sie bisher immer nur in seiner Muttersprache gehört, begriff jedoch instinktiv, was der Belgier deklamierte.

Kapitel 19. Die Feuerfee

Nachdem er längs der Desna zweihundert Kilometer zurückgelegt hatte, landete der Pilot an einem einsamen Ort in der Gegend von Brjansk. Tschugunow wurde von seinen Mitstreitern erwartet. Das Flugzeug flog weiter, zu einem ihrer Stützpunkte. Tschugunow selbst machte einen Bogen um Moskau und fuhr direkt zu seinem Haus, seiner „Einsiedlerklause“.

Es standen entscheidende Wochen bevor, und da tat man gut daran, sich vorher ein wenig zu entspannen. Er wählte ihre Nummer:

„Tigerchen?“

„Bist du in der Stadt, mein Tölpelchen?“

„Gewiß doch.“

„Du bist doch sicher wie immer ‚hundemüde’, hegst aber zugleich allerlei Wünsche?“

„Woher du das bloß alles weißt?“

Sie lachte. „Das Mondkalb hat es mir gesagt“, scherzte sie und fuhr fort:

„Schon bald werden wir unseren Liebeshunger stillen, mein Haudegen. Ich werde versuchen, mich zu kontrollieren, und wir werden neue Therapiemethoden ausprobieren. Ich werde mich bemühen, dir keinen körperlichen Schaden zuzufügen, mein Lieber. Einverstanden?“

„Und ob!“

Aus irgendwelchen Gründen verspürte er diesmal keine Lust, sich mit ihr über die bevorstehenden Aktionen und deren Chancen zu unterhalten, brachte es aber auch nicht fertig, mit ihr nur unverbindlich zu plaudern. Sie begriff dies offensichtlich und verhielt sich ihm gegenüber wunderbar zärtlich und rücksichtsvoll.

In Moskau überschlugen sich die Ereignisse. Im ganzen Land gärte es, ohne daß Tschugunow und seine Kameraden dazu beigetragen hätten. Man spürte, daß es kein Zentrum gab, von dem aus der Widerstand geleitet wurde. Es begann ein heftiges politisches Tauziehen: Die Linken versuchten immer resoluter, die sozialen Proteste für sich zu vereinnahmen und die Demonstrationen von Menschen reiferen Alters von den Kundgebungen der Jugendlichen zu trennen, damit erstere keinen Einfluß auf letztere ausüben konnten.

Es konnte niemandem entgehen, daß denjenigen, welche die sozialen Protestkundgebungen anfangs geduldet hatten, die Kontrolle über diesen Prozeß längst entglitten war. Sie waren ratlos und wußten nicht, ob es empfehlenswert war, die demonstrierenden Massen einfach den Linken zu überlassen. Wenn nein, wer würde sich dann an die Spitze der Proteste stellen?

Wie immer in solchen Situationen hatten die Jugendlichen einen Heidenspaß an dem Ganzen. Sei es aus jugendlichem Leichtsinn oder infolge einer kindischen List ihrer anderen Anführer, jedenfalls „vergaßen“ sie einfach, wer ihre Protestdemonstrationen in Gang gebracht hatte.

Es lag in der Natur der Dinge, daß bei diesen Aktivitäten auch ethnische Konflikte aufflammten. Allerdings behinderten diese die Entwicklung der Revolution eher; die Lage war ohnehin schon bis zur Weißglut erhitzt, und die ethnischen Auseinandersetzungen schufen gewissermaßen einen dritten Herd des Protestes und des Widerstands.

In erster Linie galt es die kochende Stimmung zu kanalisieren. Zu diesem Zeitpunkt trafen Jura und Siegfried in Moskau ein. Beide strahlten Enthusiasmus und Optimismus aus.

Ohne sich um Sicherheitserwägungen zu scheren, trafen sie sich in den Räumlichkeiten des Verbands Russischer Ingenieure. Dort herrschte mittlerweile ein heilloses Chaos, denn der Stab Alexej Nikolskis, dem man ursprünglich nur einige Zimmer zugewiesen hatten, hatte sich unverständlicherweise im ganzen Gebäude breitgemacht. Falls es, wie Jura argwöhnte, unter den anderen Mietern solche gab, die „mithörten“, erschwerten die ungestümen Studenten ihnen die Arbeit erheblich.

Tschugunow und seine Freunde verzichteten auf ausgeklügelte Sicherheitsmaßnahmen und begnügten sich damit, im Pjotrs Kabinett einfach eine wirksame Anti-Abhöranlage zu installieren, worauf sie ganz offen über ihre Pläne sprachen.

„Es ist höchste Zeit, zu aktiven Handlungen überzugehen“, sagte Siegfried kampfeslustig.

Diesmal erhob der sonst so vorsichtige Jura keine Einwände.

„Meine Herren, was versteht ihr unter aktiven Handlungen?“ fragte Tschugunow. „Wen sollen wir einschüchtern, wen umlegen? Meiner Ansicht nach ist es dazu noch zu früh. Die Machthaber sind auch so schon gelähmt und desorientiert. Sie sind nicht mehr fähig oder auch nur willens, die ständig anwachsende Protestlawine zum Stillstand zu bringen.

In dieser Situation wäre es völlig sinnlos, eure Männer fürs Grobe auf den einen oder anderen Vertreter des Regimes loszulassen. Letztere haben ohnehin die Hosen voll und tun keinen Mucks. Wenn man jetzt gegen sie zuschlägt, könnten sie sich verzweifelt zur Wehr setzen wie eine in die Enge getriebene Ratte.“

„Was schlägst du also vor?“ wollte Jura wissen. „Wir haben eine Handvoll Kämpfer ausgebildet; teils haben sie das volle Ausbildungsprogramm, teils eine verkürzte Variante davon absolviert, und sie brennen ungeduldig darauf, zeigen zu können, was sie gelernt haben. Ich spreche als Profi. Sonst zerstreuen sie sich nämlich in alle vier Himmelsrichtungen oder drehen irgendwelche krummen Dinger. Schließlich gibt es unter ihnen eine ganze Menge ehemaliger Kollegen unseres Bruders Siegfried“, kicherte er.

Halb im Scherz, halb im Ernst betitelten Jura und Siegfried einander seit ihrem gemeinsamen Aufenthalt im karpatischen Lager bisweilen als „Brüder“.

„Eure Männer brauchen nicht unbedingt herumzuballern oder mit Sprengstoff zu hantieren. Man kann sie auch als Straßenkämpfer oder als Ordner bei unseren Veranstaltungen einsetzen.“

„Dafür haben wir sie nicht ausgebildet“, murrte Jura.

„Wir haben sie auch nicht ausgebildet, um einen langen Partisanenkrieg zu führen. Erst wenn die Unruhen ihren Höhepunkt erreicht haben, schlagen wir zu, und dann werden wir sehen, wie sich die Dinge entwickeln. Entweder ein rascher Sieg oder ein totaler Rückzug. Glücklicherweise gibt es ja Orte, wohin wir uns zurückziehen können, nämlich unsere Basen in der Ukraine. Den nächsten Versuch zur Durchführung einer solchen Revolution werden dann wahrscheinlich bereits andere unternehmen.“

„Einverstanden“, pflichtete Jura ihm bei und fuhr nach einer kurzen Pause fort:

„Mir scheint, seit deinem Gespräch mit dem Belgier bist du vorsichtiger und nicht mehr so draufgängerisch wie vorher. Oder irre ich mich da?“

„Ja und nein. Es ist einfach so, daß wir kurz vor dem Finish stehen, und da kann man sich einfach keine Fehler leisten.“

„Was ist deiner Meinung nach jetzt unsere Hauptaufgabe?“

„Die Schaffung einer großen neuheidnischen Glaubensgemeinschaft. Dazu brauchen wir auch eure forschen Jungens, und zwar um die Macht der neuen Organisation zu demonstrieren und möglichen Konkurrenten auf die Finger zu klopfen.“

„Das schaffen wir mit der linken Hand!“ sagte Siegfried im Brustton der Überzeugung.

„Sei gegrüßt, Bruder Pjotr, du Ritter aus dem Hause der Merowinger!“ Vitali war so fröhlich wie nie zuvor.

Sie hatten sich auf Vitalis Anregung getroffen.

Pjotr stöhnte innerlich. Der Mann wußte wirklich über alles und jedes Bescheid! Doch verlor er nicht die Fassung und erwiderte:

„Sei gegrüßt, Bruder Vitali.“

„Da bleibt dir die Spucke weg, nicht wahr? Als ich beim Nachrichtendienst arbeitete, habe ich alle möglichen prominenten Persönlichkeiten aus aller Welt kennengelernt. Aber ich kann dich beruhigen. Unsere Feinde wissen nichts Konkretes über dich.“

„Und was wissen sie zumindest in großen Zügen?“

„Weißt du, entweder aus Zerstreutheit oder aber aus einer genialen Intuition heraus verhältst du dich erstaunlich richtig. Das korrupte Pack, das gegenwärtig noch an der Macht ist“ – zum ersten Mal in ihrer Bekanntschaft verwendete der ansonsten sorgsam auf seine Wortwahl bedachte Vitali einen solchen Kraftausdruck – „kann sich nicht einmal im Traum vorstellen, daß ein Mann, der in einer kleinen Mietwohnung lebt, eine ernsthafte Bedrohung darstellen könnte“.

„Und der Zwischenfall in Baschkirien?“

„Die Muslime haben der Bande eine Heidenangst eingejagt. Dazu kommt, daß ihr alles perfekt organisiert habt. In solchen Situationen können Amateure erstklassige Leistungen erbringen. Euch verdächtigt also kein Mensch.“

„Wie läuft unser literarisches Geschäft?“

„Wenn wir schon bei diesem Thema sind: Hier hast du dein Honorar.“

Vitali zog ein dickes Bündel Geldscheine aus der Tasche. Nachdem Pjotr das Geld gezählt hatte, versuchte er es in der Innentasche seiner Weste zu verstauen, doch dies gelang ihm nicht, und er steckte es in seinen Aktenkoffer. Vitali betrachte ihn schmunzelnd.

„Gibt es keine Scherereien mit der Steuerinspektion? Mit diesen Vögeln möchte ich lieber nichts zu tun haben“, sagte Tschugunow.

„Keine Sorge“, beruhigte ihn Vitali. „Meine Juristen müssen schließlich dafür arbeiten, daß ich sie bezahle. Nebenbei war das Honorar nicht der Grund dafür, daß ich dich um ein Treffen gebeten habe. Wie entwickelt sich die Sache mit der Glaubensgemeinschaft?“

„Ich wollte mich heute bei dem dafür zuständigen Kameraden erkundigen.“

„Ja, tu das.“ Vitali überreichte Pjotr eine Visitenkarte. „Hier ist übrigens die Telefonnummer des Verwaltungsbeamten, der euch dabei helfen wird, die bürokratischen Prozeduren bei der Registrierung rasch zu erledigen.“

„Wie kommt es, daß uns die Bürohengste plötzlich so lieb haben?“

„Sie haben euch keineswegs lieb, sondern handeln aus kühler Berechnung. Sie brauchen etwas, was das Volk von den Demonstrationen ablenkt, und da kommt ihnen eure neue Religion gerade recht. Außerdem seid ihr ja schon in der Ukraine und in Westeuropa registriert und könnt die Registrierung eurer Glaubensgemeinschaft somit auch bei uns erzwingen. Unter diesen Umständen war es für uns nicht schwer, einen Mann zu finden, der bereit ist, euch zu helfen.“

„Sind die sogenannten staatstragenden Kräfte nicht durchs Band Anhänger der orthodoxen Kirche?“

„Den sogenannten staatstragenden Kräfte steht das Wasser selbst bis zum Hals“, belehrte ihn Vitali. „Sie gehören fast schon zur Opposition. Und die eigentlichen Machthaber sind verzweifelt darauf angewiesen, daß sich die Lage wenigstens einigermaßen entspannt. Da kommt ihr mit eurem neuheidnischen Projekt wie gerufen, zumal ihr keinen roten Heller verlangt. Weiter als ihre eigene Nase sehen diese Herrschaften nämlich nie.“

„Aber wir haben doch im Zusammenhang mit dem neuheidnischen Projekt bereits einige für diese Leute sehr genierliche Losungen ausgegeben.“

„Das ist im Moment ihre geringste Sorge. Ihr Vorgehen ist ein klassisches Beispiel für eine Entscheidung, die unter Zeitdruck und ohne ausreichende Information gefällt wurde.“

Schon eine Woche später war die neue Glaubensgemeinschaft registriert, und gleich darauf wurde das Datum des allrussischen Gründungskongresses des neuen Glaubens bekanntgegeben.

Tschugunow entschied, die neue Religionsgemeinschaft der Öffentlichkeit auf eine höchst originelle Weise bekanntzumachen. Zu der bevorstehenden Versammlung waren alle neuheidnischen Gruppierungen – oder besser gesagt ihre Vertreter – eingeladen. Zur Durchführung der Veranstaltung wurde einer der größten Säle Moskaus gemietet, doch der Platz reichte trotzdem bei weitem nicht für alle. Deshalb mußten sich die Interessenten, falls sie es nicht schon vorher getan hatten, in Moskau in kleine Gruppen untergliedern, von denen jene einen Vertreter entsenden durfte. Das Ganze erinnerte irgendwie an eine mehrstufige Wahl.

Es versteht sich von selbst, daß Tschugunows Leute bei der Auswahl der Geladenen das letzte Wort hatten, doch ließen sie es absichtlich zu, daß rund ein Viertel davon zu ihren unversöhnlichen Gegnern gehörten und knapp ein weiteres Viertel leicht als opportunistische Konjunkturritter erkennbar waren. Es war den Organisatoren nämlich daran gelegen, schon frühzeitig einen vorentscheidenden Sieg über potentielle „Häretiker“ davonzutragen und zugleich den Eindruck zu erwecken, bei der Veranstaltung laufe alles spontan, ja „mit elementarer Urkraft“ ab. Dies war äußerst wichtig, weil auch andere Versuche zur Gründung einer neuheidnischen Glaubensgemeinschaft zu verzeichnen waren. Hinter diesen standen teils leicht durchschaubare Provokateure, teils ehrgeizige Dummköpfe, welche nur ganz verschwommene Vorstellungen von den Perspektiven der neuheidnischen Idee hatten.

Nach den üblichen feierlichen Erklärungen sowie improvisierten Gebeten zu Swarog, Perun und den anderen russischen Göttern lief der Kongreß nach den Regeln einer gesellschaftlich-politischen und nicht etwa einer religiösen Veranstaltung ab. Auch die Dummköpfe, die Provokateure und die Vertreter der „häretischen“ Minderheit meldeten sich zu Wort. Sie wurden vom Saal einträchtig ausgepfiffen und dann von Siegfrieds Burschen herauskomplimentiert. Dies bestärkte die Mehrheit in Saal immer mehr in ihrem Gefühl der Einheit.

Nun trat einer der bekanntesten Konkurrenten Tschugunows ans Rednerpult. Es handelte sich um einen ehemaligen Sportler, der eine Art Mischung aus einer Kampfsportschule und einer Mafia-Organisation gegründet hatte, jedoch um jeden Preis den Eindruck erwecken wollte, er sei etwas Besseres als jene vulgären Sportmafiosi, von denen es in Rußland nur so wimmelt. Mit dem Geld, das er dabei verdiente, gab er eine Serie angeblich neuheidnischer Traktate heraus, die nicht nur nach Ansicht Tschugunows, sondern auch nach dem Urteil vieler anderer intelligenter Menschen von äußerst dürftiger Qualität waren und keine Spur von Verständnis des göttlichen Plans, dafür aber um so mehr Propaganda für die imperiale Idee enthielten.

„Dieser Schafskopf weiß noch nicht einmal, daß sich ein Imperium und jede beliebige Variante des Heidentums radikal ausschließen“, dachte sich Tschugunow jedesmal, wenn er die Machwerke dieser „heidnischen“ Mafia durchblätterte. „Ein Imperium gleitet rasch in einen autoritären Monotheismus ab. Dies läßt sich sogar den Geschichtsbüchern für die Schule entnehmen. Die Religion eines jeden Imperium ist zwangsläufig der semitische Monotheismus in einer seiner drei herkömmlichen Varianten.“

Übrigens sprach es Bände, daß sich dieser Westentaschen-Cäsar trotz seiner Extravaganz und seinem oppositionellen Gehabe prächtig mit den Machthabern verstand und bei keiner einzigen ernsthaften oder auch nur symbolischen Widerstandsaktion mitgewirkt hatte. Freilich liess sich nicht leugnen, daß er imposant aussah. Seine hellen Augen hoben sich scharf von seinem mit Runzeln übersäten, länglichen Pferdegesicht ab, und sein langes blondes Haar wallte wie bei einem altheidnischen Priester auf die Schultern herab.

Ja, die Imagemaker hatten gute Arbeit geleistet, schoß es Tschugunow durch den Kopf, während er diesen Mann betrachtete. Allerdings hatte das Regime diesen Maulhelden gegen Ende der neunziger Jahre als Provokateur nicht mehr nötig gehabt und ihn ins Pfefferland geschickt. Mit einem Schlag verlor er dadurch sein Einkommen, seine Imagemaker und den Schutz durch die Polizei.

Doch nun witterte er augenscheinlich eine Chance, als Trittbrettfahrer bei einem chancenreichen Projekt mitzuwirken und womöglich zu erreichen, daß ihn seine ehemaligen Herren wieder auf ihre Gehaltsliste setzten und zu irgendwelchen „militanten“ Aktivitäten anspornten.

Bei keiner Veranstaltung der Opposition hatte dieser Mann je etwas Neues gesagt. Er begnügte sich stets damit, sein Publikum zu beschimpfen und sämtliche Anwesenden als Memmen und Hasenfüsse zu betiteln. Da ihm kaum je jemand Paroli bot, konnte er die Rednertribüne jeweils mit geschwollenem Kamm und im Bewußtsein verlassen, wieder einmal bewiesen zu haben, daß er ein knallharter Kämpfer war.

Damit hatte er nicht einmal so unrecht, denn früher war er in der Tat vor Memmen und Hasenfüssen aufgetreten. Doch diesmal stieß der „knallharte Kämpfer“ auf entschlossenen Widerstand.

Sobald er mit seinen üblichen groben Ausfällen begonnen hatte, erhob sich Tschugunow vom Stuhl des Vorsitzenden. Ohne sich auf eine Diskussion einzulassen, donnerte er: „Siegfried, schmeiß diesen Lümmel raus, der unsere würdige Versammlung verunglimpft.“

Der „Kämpfer“ war alles andere als ein Schwächling und hatte eine ganze Anzahl von Anhängern im Saal. Doch Siegfrieds Burschen waren ebenfalls nicht aus Pappe, und außerdem stand die überwältigende Mehrheit des Publikums auf ihrer Seite. Nach einem kurzen Handgemenge vor den surrenden Fernsehkameras wurden der „Kämpfer“ und seine Leute unter dem Gejohle der Anwesenden mit Schimpf und Schande aus dem Saal gejagt.

Die nicht allzu zahlreichen Unschlüssigen, die Zeugen dieser Ereignisse geworden waren, gingen mit fliegenden Fahnen ins Lager der Sieger über. Die Kunde von der Stärke und Geschlossenheit der Swarogssöhne würde sich nun wie ein Lauffeuer durch das ganze Land verbreiten.

„Gewiß, es ist nicht ohne Gewalt abgegangen, aber Krieg ist Krieg“, dachte sich Tschugunow. „Verzeihe mir diesen nicht ganz edelmütigen Gedanken, werter Stammvater, doch er ist sehr wohl am Platz. Der Verzicht auf solche rauhen Methoden hat schließlich dazu geführt, daß eure naiven Kinder von einer fremden, semitischen Schar überwältigt wurden, und nicht einmal ihr, die arischen Götter, konnten dies verhüten. Doch wir haben daraus die notwendigen Lehren gezogen.“

„Brüder und Mitstreiter!“ wandte sich Tschugunow an das Publikum, als sich die Lage im Saal nach der schimpflichen Vertreibung des „Kriegers“ wieder einigermaßen beruhigt hatte. „Ich weiß nicht, von wem dieser Hornochse, der sich erfrecht hat, unsere würdige Versammlung zu schmähen, heute sein Geld kriegt. Meinen Informationen zufolge wurde er früher sowohl von den Bullen als auch vom Geheimdienst und der Armee finanziert. Offenbar hat man ihm aber den Geldhahn zugedreht, und darum wollte er sein Glück wohl bei uns versuchen.“

Die Anwesenden brachen in herzhaftes Gelächter aus, und Tschugunow fuhr fort:

„Es lohnt sich nicht, dem Unsinn, den er bisher immer verzapft hat und auch heute wieder verzapfen wollte, irgendwelche Beachtung zu schenken. Aber...“

Effekthascherisch schaltete er eine Pause ein.

„Aber, meine Brüder und Mitkämpfer, in einem Punkt könnte dieser Hansdampf in allen Gassen sehr wohl recht haben.“

Der Saal knisterte förmlich vor Spannung.

„Leider haben viele Menschen eine sehr primitive Auffassung vom Glauben an die alten Götter. Sie meinen, unser alter Glaube erlaube, dem die christlichen Moralvorstellungen fremd sind, erlaube es jedem, zu tun und zu lassen, was er wolle. Jawohl, unsere Götter sehen es gerne, wenn ihre Nachkommen ungezwungen und fröhlich sind, aber wodurch unterscheiden wir uns noch von vulgären Hedonisten, wenn die Fröhlichkeit das einzige Merkmal unseres Glaubens ist? Sinken wir dann nicht zu primitiven Kreaturen ab, denen Leute wie unser ‚knallharter Kämpfer’ mit Fug und Recht eine Standpauke halten dürfen? Die Frage ist rein rhetorischer Art.

Ungezügelte Fröhlichkeit und heidnische Liebe sind stets eine Belohnung für harte Arbeit und vollbrachte Leistungen – oder ein Vorschuß, wenn ihr so wollt. Wer nicht begreift, daß unser Glaube in erster Linie Arbeit und Kampf bedeutet, hat den Göttlichen Willen nicht verstanden.

Jawohl, unsere Arbeit ist frei, unsere schöpferischen Leistungen sind überschäumend, in unserem Kampf sind wir nicht wählerisch in der Wahl unserer Mittel und fühlen uns durch keine Regeln gebunden. Jawohl, Arbeit, schöpferisches Wirken und Kampf spenden ihrem Wesen nach Freude. Aber dadurch werden sie nicht zu etwas anderem. Auch eine Arbeit, die man freudvoll verrichtet, erfordert Schweiß, auch eine schöpferische Tätigkeit, die man mit Inbrunst betreibt, verlangt ungeheure Opfer, und auch ein Kampf, den man mit Freude aufnimmt, erheischt Selbstaufopferung.

Daß wir zu all dem bereit sind, müssen wir durch einen Treueschwur gegenüber unseren alten Göttern bezeugen. Ein solcher Schwur beschränkt sich nicht auf Worte. Er wird durch Feuer und Leiden erhärtet. Was ist das nun für ein Schwur?

Wir, die wir die schwere Aufgabe auf uns genommen haben, die Wiedergeburt des alten Glaubens in die Wege zu leiten, zeigen durch unser Beispiel, welcher Art dieser Schwur ist.

Wir fürchten uns nicht, ein Brandmal zu empfangen, das uns jeden Rückzug versperrt und es uns verunmöglicht, einfach abzutauchen und unseren Idealen zu entsagen.

Jeder, der es wünscht, kann dieser Eideszeremonie beiwohnen.

Verlangen wir nun von allen, die unsere Religion angenommen haben, sich diesem Ritual unverzüglich zu unterziehen? Nein. Man kann glauben, was wir glauben, und ein aktives Mitglied unserer Gemeinschaft sein, ohne die Einweihungszeremonie durchlaufen zu haben. Der Entscheid hierzu muß auf einen freien Willensakt zurückgehen.

Doch jene, die beim Kampf um die Rückkehr unserer Götter ins Land ihrer Nachfahren der Vorhut angehören wollen, müssen vor euch allen beweisen, daß sie das Recht hierzu besitzen. Von ihnen wird verlangt, daß sie sie den Eid des Feuers ablegen.

Es ist jetzt Ende Mai, die Zeit, wo die Natur vor Leben pulsiert. Der Augenblick ist gekommen, mit unseren Göttern zu verschmelzen und ihnen unseren Glauben unter Beweis zu stellen. Deshalb laden wir alle heute Anwesenden ein, in einer Woche dabeizusein, wenn die ersten Priester unseres Glaubens den Feuereid leisten. Als erster werde ich selbst ihn ablegen.

Das Publikum erstarrte vor Bewunderung und Neugierde.

Die Idee, daß die Führer der heidnischen Glaubensgemeinschaft ihre Treue gegenüber den alten Göttern durch eine Tat demonstrieren sollten, war schon vor geraumer Zeit entstanden, fast unmittelbar nachdem Tschugunow den Beschluß zur Gründung einer solchen Gemeinschaft gefaßt hatte. Erstaunlicherweise reagierten die potentiellen Mitglieder darauf mit glühendem Enthusiasmus. Unter den nationalistischen Studenten, wo dieser Gedanke zuerst aufgekeimt war, meldeten sich gleich zahlreiche Freiwillige.

„Gott ist Gott, aber sei auch du kein Hundsfott“, lautet eine alte Volksweisheit. Andererseits gilt aber auch: „Zwinge den Narren, zu Gott zu beten, und er schlägt sich die Stirne wund.“ Tschugunow machte sich Gedanken darüber, wie sie es vermeiden konnten, sich bei dieser Zeremonie „die Stirne wundzuschlagen“.

Die Grundidee des Rituals war von Anfang an klar: Es galt seine Standhaftigkeit und Treue gegenüber den Göttern dadurch zu zeigen, daß man sich mit einem glühenden Eisen ein Mal in den Leib brannte. Auch dessen Form stand von Beginn an fest: Das Swarog-Quadrat. Dieses würde besonders eindrücklich wirken, wenn es klar und deutlich auf der linken Seite der Brust angebracht wurde. Doch die Ärzte, die Tschugunow zu Rate zog, dämpften seinen Enthusiasmus. Durch die linke Seite der Brust führen zahlreiche Nerven. Werden diese beschädigt, kann man nur allzu leicht zum Krüppel werden. Sehr viel ratsamer schien es da, das Mal in die linke Schulter zu brennen.

Ein weiteres Problem ergab sich dadurch, daß man kein „schönes Abzeichen“ erhält, wenn man das Swarog-Quadrat gegen die Haut preßt. Dadurch entsteht lediglich eine verschwommene Narbe, durch welche sich Sekundärnarben ziehen.

Nach langen Überlegungen gelangten sie zum Schluß, die ästhetischste und verhältnismäßig ungefährlichste Variante bestehe in einem Brandmal in Form einiger Punkte, die den Eindruck erweckten, in den Knoten und Gipfeln des Swarog-Quadrats zu liegen. Dabei galt es darauf zu achten, daß die Verbrennungen lediglich die Haut in Mitleidenschaft zogen.

Auf diese Weise würde das Brandmal die Gestalt einiger entsprechend angeordneter Dornen von ungefähr einem Millimeter Länge aufweisen, Diese Dornen mußten einer Art Kreis entspringen, der seinerseits kalt sein und die Funktion eines Begrenzers erfüllen mußte.

Nach einigen Experimenten hatten sie die Form des Brandmals sowie die Technologie seiner Zubereitung – Erhitzung und Anbringen des Begrenzers – entwickelt.

„Vielleicht ist das gar kein Brandmal, sondern eine Tätowierung“, meldeten sich Skeptiker zu Wort.

„Mitnichten“, wehrte Tschugunow ab. „Der Schmerz, der Gebrauch des Feuers, das in unserem Glauben als heilig gilt, sowie die Überwindung der eigenen Schwäche müssen real sein. Wir empfangen das Zeichen unseres Schwurs gegenüber unseren Göttern und keine Tätowierung, wie sie bei kriminellen Banden üblich ist.“

Schließlich stimmten alle dem Entwurf zu.

Eine hohe Steilwand hing über dem malerischen Tal. Er bestand aus reinem Sand, der einst durch geschmolzenes Gletscherwasser angeschwemmt worden war. An den Fuß der Steilwand schmiegte sich ein halbrundes ausgetrocknetes Flußbett, auf ihrer Höhe wuchsen mächtige Föhren, die den Eindruck erweckten, sie würden demnächst in die Tiefe stürzen. Doch nein, sie standen unerschütterlich, und ihre Wurzeln hafteten tief im Sand.

Das alte Fußbett war von wundervollen Wiesen umrahmt, die im Mai und Anfang Juni von bunten Blumen übersät waren. In diesem Abschnitt des Tales hatten in grauer Vergangenheit Tempel der alten Götter gestanden. Die Bewohner der Gegend hatten Tschugunow erzählt, daß es damals unmittelbar neben dieser Steilwand und dem Flußbett drei solche Tempel gegeben habe.

Eine Gruppe von Findlingen, die irgendwann von einem Fluß an den Fuß des Steilhangs geschwemmt worden waren, bildete eine Erhöhung am Rand des Flußbetts. Pjotr gewann sofort den Eindruck, diese drei Findlinge hätten einen Altar der alten Götter gebildet.

Verschiedene Gründe hatten ihn dazu bewogen, diesen Ort für die Durchführung des Rituals zu wählen. Erstens hatte dort tatsächlich ein Heiligtum gestanden. Zweitens war die Stätte wunderbar malerisch. Drittens war der Zugang zu ihr von der einen Seite her leicht, nicht jedoch von der anderen, was jenen, die der Zeremonie beizuwohnen wünschten, eine gewisse Anstrengung abverlangte. Viertens sprach auch seine Abgeschiedenheit für diesen Ort. Fünftens und letztens war er nicht sonderlich weit von Tschugunows Haus entfernt, wohin er sich nach dem Ritual zu begeben gedachte.

Selbstverständlich hatten sich nicht alle, die eine Woche zuvor beim Gründungskongreß der neuen Glaubensgemeinschaft zugegen gewesen waren, eingefunden, um Zeugen der Zeremonie zu werden, doch einige hundert Personen waren immerhin erschienen. Unter den Anwesenden herrschte eine Atmosphäre der ungeduldigen Erwartung, das Gefühl, einem Mysterium beizuwohnen, sowie zugleich rein menschliche Neugier auf ein sensationelles Schauspiel.

Am Fuß der Findlinge loderte ein Scheiterhaufen, in dem die Brandeisen zur Rotglut erhitzt wurden. Pjotr stieg auf die Findlinge. Sein Oberkörper war nackt; seine aus weißen Jeans und Turnschuhen bestehende Bekleidung war einfach, modisch und zugleich untadelig ästhetisch. Unsere Götter sind nämlich Technokraten und brauchen keine archaische Theatralik. Diese ist nichts weiter als Kitsch für windige Idole. Wir haben Feuer und Blut. Echtes Feuer und echtes Blut.

Tschugunow hob die Hand. Auf der Wiese herrschte atemlose Stille.

„Wir entbieten unseren Göttern den Treueschwur“, sprach Tschugunow. „Mit Feuer, Eisen und Blut, ohne Furcht vor Schmerzen, voller Hoffnung und Glauben.“

Die Menschen auf der Wiese verwandelten sich in regungslose Standbilder. Ihre Köpfe rauschten, ihre Münder waren ausgetrocknet, die Herzen wie gelähmt. Das war keine Komödie, sondern Wirklichkeit. Nicht jedem war es vergönnt, Zeuge einer derartigen heiligen Handlung zu sein und an etwas zugleich Großartigem und Schrecklichem teilhaben zu dürfen. Alle empfanden tiefe Besorgnis – wenn plötzlich etwas schiefging, wenn der Führer, der Priester, der Prophet plötzlich zu zittern begann? „Nur Mut, los, zögere nicht!“ rief die ganze Wiese lautlos.

Auf einen wortlosen Wink Tschugunows hin zog einer seiner jungen Mitstreiter, der einen dicken Handschuh trug, das rotglühende Brandeisen aus dem Scheiterhaufen, streifte den aus Keramik bestehenden Begrenzer über und reichte Pjotr das verhältnismäßig kühle Ende des Stiels. Tschugunows rechte Hand steckte ebenfalls in einem Handschuh. Schließlich konnte er nicht das Risiko eingehen, sich am Stiel zu verbrennen und das Eisen fallen zu lassen.

Ohne zu zaudern legte Pjotr das Brandeisen an seine linke Schulter. Da ringsherum Totenstille herrschte, war das leise Zischen der versengten Haut deutlich zu hören.

Ein brennender Schmerz durchfuhr ihn. Er konnte nicht einschätzen, wie lange er das Eisen, das diese Qual verursachte, an seine Schulter pressen mußte. „Laß es fallen, laß es fallen!“ schrie sein ganzer Körper, der im Nu mit Schweiß bedeckt war.

Doch plötzlich schloß sich eine kühle Hand um seinen linken Unterarm. Die dünnen, zarten Finger schienen seinen Arm zugleich zu halten und zu streicheln.

Und da geschah ein Wunder! Der Schmerz ließ augenblicklich nach, und seine Seele durchwallte grenzenloses Entzücken. Er schleuderte das Brandeisen weg, und mit Siegermiene wandte er sich der Tigerin zu. Das stand sie neben ihm und hielt seinen rechten Arm. Sie trug ein leichtes, rotes Kleid, das in der Sonne zu lodern schien, sowie weisse Sportschuhe, die einen reizvollen Gegensatz zu ihrer feurigen Schönheit bildeten.

Mit grenzenloser Bewunderung und Verehrung sah sie ihn an.

„Ich danke dir, meine Feuerfee!“ donnerte Tschugunow in exstatischer Verzückung.

Nun erdröhnte die Wiese von begeisterten Hurrarufen. Man hatte den Eindruck, die Menschen wollten ihre Stimmbänder zum Platzen bringen, um sich mit ihren Schreien darüber hinwegzutrösten, daß nicht sie es waren, die nach vollbrachtem Einweihungsritual auf diesen Findlingen standen.

Lena reichte ihm einen Krug mit irgendeinem Getränk. Er leerte ihn mit einem Zug. Allem Anschein nach handelte es sich um einen zugleich stärkenden und tonisierenden Trank. Er verspürte weder Schmerz noch Müdigkeit. Dennoch zog sie ihn sanft, aber entschlossen von den Findlingen hinab; an deren Fuß rieb sie ihm die Schulter mit einer kühlen, duftenden Flüssigkeit ein und warf ihm ein sauberes weißes Hemd über.

Eine Welle grenzenloser Liebe und Zärtlichkeit durchfuhr ihn. Jawohl, sie war die Gesandte der Götter. Er legte seinen Arm um ihre Schulter, und ohne auf die Anwesenden zu achten, bedeckte er ihr Gesicht mit leidenschaftlichen Küssen.

Sie entzog sich ihm sofort und fragte:

„Tut es nicht weh?“

„Nein!“

„Na gut, Enkel des Swarog, gehen wir!“

Sie setzten sich auf eine für sie vorbereitete Bank, die aus dünnen Brettern gezimmert war, und sahen zu, wie sich Siegfried dem Ritual unterzog.

Es versteht sich von selbst, daß Lenas Erscheinen, ja selbst die Art und Weise, wie sie gekleidet war, nicht dem Zufall zuzuschreiben waren. Im Prinzip war alles sorgfältig durchdacht gewesen. Doch bei solchen Dingen darf man nicht von vorne herein vom Erfolg überzeugt sein, und subjektiv empfand Pjotr alles, was geschah, als unerwartete Fügung des Schicksals, als Wunder.

An jenem Tage unterzogen sich nach Pjotr und Siegfried noch drei weitere Männer dem Ritual. Dann begann ein echtes heidnisches Fest. Mit überbordender Heiterkeit befreiten sich die Anwesenden von der ungeheuren Spannung, die sich in ihnen angestaut hatte, als sie Zeugen einer Zeremonie sein durften, bei der sie nun, nachträglich, nur allzu gerne die Akteure gewesen wären.

Mit ihrer ausgelassenen Fröhlichkeit und ihrer ungeheuchelten, exstatischen Verehrung der ersten Propheten des neuen Glaubens bestätigten sie ihre Zugehörigkeit zu diesem, auch wenn sie diese vorderhand noch nicht durch ihre Teilnahme an dem schmerzhaften Ritual unter Beweis gestellt hatten.

Tschugunow verbrachte die nächsten Tage gemeinsam mit Lena. Es war nicht ganz leicht, die Folgen des – wenn auch leichten – Schocks zu überwinden, den die rauhe Zeremonie ausgelöst hatte. Doch seine Feuerfee tat alles, um den Heilungsprozeß zu erleichtern, sowohl als Ärztin wie auch als Frau.

Nach diesen Geschehnissen verbreitete sich die neue Religion mit ungeahnter Schnelligkeit und lenkte die öffentliche Meinung tatsächlich mehrere Wochen lang von den immer fruchtloseren Protestkundgebungen ab.

Kapitel 20. Ein Springerzug

„Die Probleme, denen sich das Land gegenübersieht, bedürfen zu ihrer Lösung adäquater politischer Mechanismen“, sagte der Präsident in seiner Ansprache an das Volk. „Und wir arbeiten weiter an der Vervollkommnung unseres politischen Systems. Schon seit längerer Zeit stellt sich die Frage, ob wir nicht zu Wahlen nach Parteilisten übergehen sollen. Jene Parteien, die über massiven Rückhalt im Volk verfügen, werden in der Lage sein, Lösungen für die dringlichen Probleme zu finden, die sich unserem Lande stellen. Wir haben uns mit der Staatlichen Duma sowie dem Föderationsrat auf einen Plan für beschleunigte Reformen in dieser Richtung geeinigt. Bis es soweit ist, werden wir auf dem sozialen, dem wirtschaftlichen sowie dem militärisch-politischem Sektor keinerlei weitreichenden Beschlüsse treffen. Um diese Probleme wird sich die neue Duma kümmern, die das Vertrauen des ganzen Volkes genießen und sich auf die sozial aktiven Schichten unserer Gesellschaft stützen wird, auf die Aktivisten aller Parteien, die ihre Lebensfähigkeit unter Beweis gestellt haben werden.“

Der Verteidigungsminister schaltete den Fernseher ab. Er kannte den Text der Ansprache beinahe auswendig und wollte sich den Mann, der ihn verlas, einfach nochmal ansehen. „Du Strolch, du Halunke“, dachte der Minister. „Der Jämmerling hat auf der ganzen Linie kapituliert. Die Bestimmungen, welche die Studenten vom Militärdienst freistellen, bleiben unangetastet, denn wer wäre schon dumm genug, jetzt, vor den Wahlen, die Verantwortung dafür zu übernehmen? Wie in drei Teufels Namen soll ich das bloß meinen Generalen erklären?

Bei den Wahlen wird sich die Regierungspartei trotzdem eine Abfuhr holen, aber natürlich werden die Ergebnisse dreist gefälscht. Dies wird den Anstoß zu Massenprotesten geben, und diese werden im Gegensatz zu den gegenwärtigen gut organisiert sein und ein respektables Ziel verfolgen. Und dann ergibt sich bei uns haargenau dasselbe Szenarium wie damals in der Ukraine.

Der jetzige Herr im Kreml wird sich als Bannerträger der Gerechtigkeit und Gesetzlichkeit gebärden, und die Hohlköpfe, die ihn sowie seine angebliche Regierungspartei verteidigen, stehen dann da wie begossene Pudel. Sie werden von Glück reden können, wenn sie nicht „durch Selbstmord vom Lichte scheiden“ wie die Männer fürs Grobe in der Ukraine anno 2005 oder die Financiers der KPDSU anno 1991.

Alles wird genau nach seinem Plan ablaufen! Was für ein gemeiner Lumpenhund!

Und was soll ich selbst in dieser Lage tun? Soll ich mich von diesen miesen Generälen am Gängelband führen lassen? Warum eigentlich? Bin ich vielleicht mit ihnen verwandt oder verschwägert? Sollen sie doch tun, was sie wollen. Dasselbe gilt für die Leute vom Geheimdienst und der Polizei. Ich stehe voll und ganz auf dem Boden der Legalität und vertrete eine durchdachte, gemäßigte Politik. Die Armee hat sich nicht in die Politik einzumischen.

Und wenn diese Fieslinge, die ‚staatstragenden Patrioten’, obsiegen? Auch diese Möglichkeit gilt es durchaus in Betracht zu ziehen. Aber soweit wird es schwerlich kommen.“

Die hübsche dunkelhäutige Außenministerin der Vereinigten Staaten von Amerika fühlte sich in ihrer Rolle völlig sicher. Dennoch verspürte sie ab und zu das Bedürfnis, aller Welt zu zeigen, wie weit sie, eine Nachfahrin schwarzer Sklaven, es in diesem Land gebracht hatte. Ohne die Grenzen des Schicklichen zu überschreiten, wies sie die Nachkommen der weißen Herren ihrer Ahnen gelegentlich in die Schranken.

Auch diesmal waren ihre Formulierungen völlig korrekt und sachlich, jedoch nichtsdestoweniger recht scharf.

Der für heikle Fragen der Zusammenarbeit mit Rußland verantwortliche Beamte, ein großgewachsener, farblos wirkender Blonder, hatte zum Rapport bei seiner strengen Chefin antraben müssen.

„Warum haben sie die Reform der gesetzgebenden Macht und die Verkündung vorzeitiger Wahlen so lange hinausgezögert? Oder hat Ihr Amt wieder einmal Pfuscharbeit geleistet und von ihnen keinerlei Garantien für die Einhaltung der vertraglich eingegangenen Verpflichtungen erhalten?’

„Sehen Sie, Madame, es gab Komplikationen. Hätten sie sich im April und Mai genau an unsere Abmachungen gehalten, wäre ihnen die Kontrolle über die Situation womöglich entglitten.“

„Was waren denn das für Probleme?“

„Die sozialen Proteste und Jugendunruhen hatten das Land stark destabilisiert, und verschiedene Gruppierungen innerhalb der Elite pochten auf äußerst unpopuläre Maßnahmen. Unter diesen Umständen hätten vorzeitige Wahlen nach Parteilisten Ergebnisse zeitigen können, die dazu geführt hätten, daß die orangenrote Revolution zu einem völlig unberechenbaren Prozeß ausgeartet wäre.“

„War es denn wirklich nicht möglich, diese sogenannten ‚Gruppierungen innerhalb der Elite’ – beim Wort Elite verzog sie ihre hübschen, wenn auch ein wenig zu großen Lippen verächtlich – „an die Kandare zu nehmen?“

„Madame, das Problem liegt darin, daß der gegenwärtige Präsident beständig zwischen verschiedenen Fraktionen in seiner Umgebung lavieren muß und ihm dies allem Anschein nach sehr schwer fiel.“

„Aber jetzt hat er seine Bewegungsfreiheit wiedergewonnen, und zwar ohne jemanden auf die Füße zu treten?“

„Ja, es sieht ganz so aus, als sei ihm dies geglückt. Es scheint keinen ernsthaften Widerstand gegeben zu haben.“

„Dann soll er sich jetzt aber bitteschön sputen!“

„Er tut schon jetzt, was er kann, und verspricht die angekündigten Schritte schon für diesen Herbst.“

„Was ist denn das für eine Art, unsere Freunde bei kaltem Wetter auf der Strasse herumstehen zu lassen! Sie werden sich wohl wie damals in der Ukraine in Zelten die Zehen abfrieren. Und in Rußland ist es noch kälter. Konnte er das Ganze denn nicht schon im Mai erledigen?“

„Sie machen sich Sorgen um das Wohlergehen der orangenroten Demonstranten?“

„Ich fürchte, daß sie die Kälte nicht aushalten und nach Hause gehen werden, Jeff. Eine solche Lappalie könnte alles zum Platzen bringen.“

„Aber in der Ukraine sind sie ja auch nicht nach Hause gegangen.“

„Rußland ist nicht die Ukraine, Jeff!“

Immerhin war die Außenministerin früher Spezialistin für die Sowjetunion gewesen.

„Ihr könnt mit der Randale Schluß machen, Ljoscha“, sagte Tschugunow in seinem Kabinett in den Räumlichkeiten des Verbandes russischer Ingenieure zu Alexej Nikolski. „Euch Studenten tastet vor den neuen Wahlen niemand mehr an. Ihr könnt also Entwarnung geben. Von nun an haben alle unsere Anstrengungen der Entwicklung der neuheidnischen Glaubensgemeinschaft zu gelten.“

„Pjotr Petrowitsch, wir sind keine beliebig verfügbare Manövriermasse!“ protestierte Alexei gekränkt.

„So ist das Leben, Ljoscha. Wer hat gesagt, daß es leicht sein wird? Vergiß nicht, daß ihr im Rahmen des neuheidnischen Projekts prächtige Chancen habt, sowohl Randale zu machen als auch etwas für euer Image zu tun. Rauft euch beispielsweise mit den Orthodoxen, auf den Strassen und vor den Fernsehkameras! Das erlaubt man euch vorderhand noch.“

„Es zeigt sich also wieder einmal, daß Religion Opium für das Volk ist. Eine andere Religion allerdings, und für ein anderes Volk.“

„Ach Ljoscha, du hast von Tuten und Blasen keine Ahnung. Durch die Gründung einer neuen Glaubensgemeinschaft bauen wir gewissermaßen das Skelett. Um dieses herum wachsen später Fleisch und...“

„Und was?“

Tschugunow wies mit der Hand bedeutungsschwer auf die Wände und die Decke. Es war dies eine unmißverständliche Warnung vor möglichen Abhörern. „Errate es doch selbst!“ antwortete er zwinkernd.

„Ich habe es schon erraten, aber wie soll man das den Massen erklären?“

Du bist der Jungführer. Erkläre du es ihnen.“

„Einverstanden, ich werde das tun.“

„Übrigens: Wie reagiert die Öffentlichkeit auf unsere Ideen?“

„Nach eurem schaurigen Einweihungsritual geradezu prächtig. Die Menge dürstet nach solchen Schauspielen, und die jungen Frauen geraten förmlich in Extase. Jede möchte gerne die Rolle der Feuerfee spielen. Leider befürchte ich, daß wir zu wenig Freiwillige für das Ritual finden werden, um jeder dieser Frauen eine solche Möglichkeit zu bieten.“

„Weißt du, wir haben das Rezept für eine Salbe ausgetüftelt. Wenn man die Schulter damit eingerieben hat, empfindet man erheblich weniger Schmerzen. Stelle dieses Rezept unauffällig jenen zur Verfügung, welche sich der Zeremonie gerne unterziehen möchten, aber Angst haben.“

„Aber Sie selbst haben diese Salbe nicht aufgetragen?“

„Wofür hältst du mich eigentlich? Natürlich nicht. Schließlich glaube ich aufrichtig an unsere Götter. Aber jetzt müssen wir leider Religion und Politik vermengen. Verschaffe also den Furchtsamen zumindest die Gelegenheit, dem Mysterium als Zeugen beizuwohnen, und ihren Freundinnen die Möglichkeit, sich selbst in der Rolle der Feuerfee vorzustellen. Sie haben dies redlich verdient.“

Er räkelte sich in seinem Sessel und fügte nachdenklich hinzu:

“Jetzt, wo sich mein Leben seinem Ende zuneigt...“

„Was reden Sie da! Ihr Leben neigt sich noch längst nicht seinem Ende zu.“

„Oh doch. Vielleicht ist mir nur noch eine ganz kurze Frist beschieden. Ich wiederhole: Jetzt, wo sich mein Leben seinem Ende zuneigt, verstehe ich die Frauen allmählich. Natürlich finden sich unter ihnen primitive Weiber, über deren moralische und intellektuelle Nichtigkeit keine auch noch so lange Beine und kein noch so hübsches Gesicht hinwegtäuschen können. Andererseits gibt es unter ihnen auch wirklich wunderbare Geschöpfe, und zwar weit mehr, als man gemeinhin ahnt. Für den Mann ist es eine absolute Pflicht, einer solchen Lady, einer solchen Prinzessin wenigstens für eine Stunde oder einen Tag die Möglichkeit zu bieten, sich als das zu fühlen, was sie tatsächlich ist – als Königin. Dies erreicht man keinesfalls mit Brillantendiademen, sondern durch seine Bereitschaft zu demonstrieren, daß man notfalls bereit ist, um seiner schönen Dame willen Blut zu vergießen.“

„Mir schiene es besser, ihr für das ganze Leben den Status einer Königin zu garantieren.“

„Für das ganze Leben geht es nicht, Ljoscha. Wir sind nicht so stark, wie wir gerne wären. Vielleicht wird es im lichten Russenland so sein. Dafür kämpfen wir jedenfalls. Übrigens scheint mir, daß die Frage der medizinischen Hilfeleistung für unsere Mitstreiter für uns schon in naher Zukunft aktuell werden könnte.“

Alexei wies mit der Hand vielsagend auf Wände und Decke, wie es Tschugunow eben getan hatte. Dieser grinste und fuhr in lautem Ton fort:

„Siehst du, jede beliebige Religionsgemeinschaft beschäftigt sich neben allem anderen auch mit karitativen Aufgaben. Auch wir dürfen hier keine Ausnahme machen. Zunächst einmal wollen wir unsere diesbezüglichen Möglichkeiten inventarisieren. Hier hast du die ersten Daten.“

Er überreichte Alexei die Visitenkarte seiner Feuerfee.

„Es macht ganz den Anschein, unser Minister wolle am Rand des Geschehens bleiben“, sagte der ungeschlachte General mit dem fleischigen Gesicht und beugte sich schwerfällig über den ovalen Tisch.

Das Ruhezimmer war äußerst luxuriös eingerichtet, doch der Tisch war für den General eindeutig zu niedrig. Seine Gesprächspartner, zwei Männer in Zivil, die es sich auf den ebenfalls niedrigen Sesseln bequem gemacht hatten, nickten beinahe zugleich, und der General fuhr fort:

„Ohne seine Unterstützung – und zwar seine aktive Unterstützung – können wir den Widerstand gegen die Orangenroten nicht erfolgreich organisieren.“

„Vielleicht täten wir gut daran, unsere Demonstranten schon frühzeitig zu mobilisieren?“ schlug der jüngere der beiden Männer in Zivil in lebhaftem Ton vor, aber der ältere dämpfte seinen Eifer:

„Die Organisation von Demonstrationen ist zwar in erster Linie eine Frage des Geldes und hängt nur teilweise vom Enthusiasmus der potentiellen Randalierer ab. Doch um den Enthusiasmus unserer möglichen Anhänger ist es nicht allzu gut bestellt, und dies bedeutet, daß wir mehr Geld brauchen. Leider sind unsere Gegner uns aber auch in diesem Punkt um Ellenlängen voraus.“

Er hielt für einige Augenblicke inne und spann seinen Gedankengang weiter:

„Es gibt bloß einen einzigen Ausweg: Wir müssen ihre Pläne resolut durchkreuzen und sie zu einem Spiel zwingen, bei dem es keine Regeln mehr geben wird, weder offizielle noch inoffizielle.“

„Und wie können wir das erreichen?“ entfuhr es dem General.

„Denken wir darüber nach.“

Der General plusterte sich unwillkürlich auf, und der jüngere der beiden Zivilisten erinnerte sich an eine Anekdote über einen Fähnrich, dessen Wahlspruch lautete: „Wozu nachdenken; schütteln muß man die Kerle!“ Nur mühsam vermochte er ein Lächeln zu unterdrücken. Er sagte:

„Wozu sind wir eigentlich auf die Unterstützung des Verteidigungsministers angewiesen? Die Truppen des Innenministeriums schaffen das doch sicher auch.“

„Diese Variante haut nicht hin“, wehrte der Ältere ab. „Entweder müssen alle maßgeblichen Ministerien und Organisationen – das Verteidigungsministerium, das Innenministerium und der Geheimdienst – zusammenspannen, oder aber der Präsident muß uns unterstützen. Doch der Präsident hat das Handtuch geworfen, und ein einheitliches Vorgehen der erwähnten Ministerien und Organisationen ist nicht zu erreichen. Wir müssen uns also etwas anderes einfallen lassen. Aber glauben Sie nicht, meine lieben Genossen“ – hier verzog er sein Gesicht zu einem hämischen Grinsen – „daß wir hier mit hausbackenen Methoden weiterkommen. Wir müssen also unsere grauen Zellen aktivieren, uns ins Zeug legen und die nötigen Risiken eingehen.“

„Schon gut, Andrejitsch“, brummte der General, „du kannst dir deine Effekthascherei und Geheimnistuerei schenken. Höchstwahrscheinlich hast du schon alles gründlich durchdacht. Schieß also los!“

„Ach übrigens, hast du dieses Zimmer auf Wanzen absuchen lassen?“

„Letzte Woche. Wer, bitteschön, kann hier Wanzen anbringen?“

Die beiden Zivilisten warfen einander bedeutungsvolle Blicke zu.

„Wie wäre es, meine Kollegen, wenn wir das nächste Wochenende auf die Jagd gingen?“

Der General dachte einen Augenblick nach: „Keine üble Idee. Aber wir gehen besser fischen. Die Jagdsaison hat schließlich noch nicht begonnen.“

„Gut, dann gehen wir also fischen“, pflichtete ihm der ältere der beiden Zivilisten bei.

„Dummköpfe“, dachte der uns bereits bekannte Geheimdienstmann. Die Götter hatten es gewollt, daß er es war, der heute das Kabinett des Generals abhörte.

Der Westwind trieb eine niedrige Steilwelle vor sich her. Sie rollte über das seichte Wasser hinweg und zerfiel brausend in eine Reihe von Sturzwellen,

deren Höhe um so geringer wurde, je mehr sie sich dem Ufer näherten, bis die letzte von ihnen sanft und kraftlos den Sand des Strandes leckte.

„Genau so verlieren viele Pläne allmählich ihre Dynamik und versickern schließlich im Sande der Alltäglichkeit“, dachte Guillaume de Croix melancholisch, während er den Strand am Ostufer des Ärmelkanals von der Terrasse eines kleinen Cafés aus betrachtete.

Der Himmel war bedeckt, doch das Wetter war warm, nach russischen Maßstäben sogar heiß. Nichtsdestoweniger war der Strand beinahe leer und das Café ebenfalls.

„Worüber denken Sie nach, Guillaume?“ fragte ihn der ältere, jedoch energische und rüstige Gentleman, den wir schon früher kennengelernt haben.

„Über die Nichtigkeit und Eitelkeit des Lebens.“

„Lassen Sie doch die Faxen, Guillaume. Dieses Rußland hat Sie in eine wehmütige Stimmung versetzt. Übrigens habe ich bemerkt, daß es ein magisches Land ist. Die meisten Leute, die dort gelebt haben, verändern ihren Charakter.“

„Was hat denn Rußland damit zu tun, Milord? Ich bin nur ein paarmal dort gewesen und nie für lange“, erwiderte de Croix. Aus irgendwelchen Gründen klang sein Tonfall gereizt.

„Aha, meine Bemerkung hat bei Ihnen also einen rohen Nerv berührt, geben Sie es nur zu. Und warum? Sie hatten den Eindruck, ich wolle Rußland kritisieren, und schickten sich gleich zu seiner Verteidigung an.“

„Ihre Gedankengebäude sind allzu kühn. Erzählen Sie lieber, was unsere geliebte schwarze Schönheit Price zur Verwirklichung des Projekts tun will, dem unser Interesse gilt.“

„Wie, Guillaume, Sie nennen diese Dame ‚unsere geliebte Schönheit’? Das ist nicht korrekt, Herr Fürst.“

„Gegenüber wem, Milord? Gegenüber einer Nachfahrin schwarzer Sklaven, welche die Nachkommen von Königen wie Marionetten an ihren Fäden tanzen läßt?“

„Sie sind ja ein Reaktionär, wie er im Buche steht, Herr Fürst.“

„Jawohl, ich bin Reaktionär und ich bin Fürst.“

„Sie mögen die Amerikaner nicht besonders, Guillaume. Sie können ihnen nicht verzeihen, daß Ihr Großvater 1948 in einem amerikanischen Lager Selbstmord begangen hat und Sie Obersturmbannführer De Croix von der SS-Brigade Wallonien niemals gesehen haben.“

„Sie wissen sehr gut, daß es kein Selbstmord, sondern Mord war. Übrigens war mein Großvater nicht Obersturmführer, sondern Hauptsturmführer.“

„Nehmen Sie es doch mit den Details nicht so fanatisch genau, Guillaume.“

„Lassen wir das. Da wir schon bei unserem Projekt gelandet sind, erklären Sie mir doch bitte, welches Ziel diese Frau Price mit ihrer Rußlandpolitik eigentlich anstrebt, in Tschetschenien beispielsweise. Wollen die Amerikaner die Unabhängigkeit Tschetscheniens oder des gesamten Nordkaukasus?“

„Ich glaube, daß eine solche Entwicklung sie ganz im Gegenteil schockieren würde.“

„Völlig richtig. Sie werden in der Tat schockiert sein, wenn dies geschieht. Aber warum unterstützen sie dann heimlich die Separatisten?“

„Vermutlich aus Prinzipientreue...“

„Stellen Sie sich doch nicht naiver, als Sie sind!“

„Dann tun sie es, um Rußland möglichst nachhaltig zu schwächen. Habe ich recht?“

„Und warum sollte dies in ihrem Interesse liegen? In Rußland sind doch Amerikas Laufburschen am Ruder! Oder wollen sie Rußland allen Ernstes Sibirien abzwacken? In Sibirien können sie doch gar nicht leben, ja nicht einmal in Zentralrußland; dort erfrieren sie schlicht und einfach, glauben Sie mir dies.“

Bei diesen Worten zog er die Schultern ein wie damals Tschugunow im eisigen Wasser des Schwimmbeckens.

„Und was wäre Ihrer Ansicht nach für uns die beste Variante, Guillaume?“

„Haben wir diese Frage etwa nicht schon oft besprochen?“

„Aber die Ereignisse überstürzen sich, Guillaume. Legen wir unseren Kurs also genau fest. Schließlich sind Sie ja jetzt gewissermaßen unser Vertreter in Rußland.“

„Die Männer, die wir suchten und fanden, haben ihren Kurs weit besser festgelegt, als wir es hätten tun können. Schließlich kennen sie die Lage in ihrem Land und seinen Nachbarländern besser. Sie wollen Rußland kleiner und dafür ethnisch homogener machen, indem sie den Kaukasus – und möglicherweise noch einige anderen Territorien – abstoßen. Dann wollen sie Rußland in ein Russenland verwandeln, ein europäisches, zivilisiertes Land. Ein solches war es, als man es Gardarik nannte, das Reich der Städte, in das unsere Ahnen, die Merowinger, ihre Handwerksmeister entsandten, damit sie Erfahrung erwerben sollten.

Dieses ‚lichte Russenland’, wie sie es nennen, wird einen unabtrennbaren Teil Europas bilden. Es wird Europa dabei helfen, sich des islamischen Ansturms zu erwehren und die frechen Yankees loszuwerden. Ohne das Russenland wird es kein Europa geben, und ohne ein weißes Europa gibt es keine Zukunft für die weiße Rasse.

Doch kann man sich nicht an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen. Sie können sich nicht ohne uns befreien und wir uns nicht ohne sie.

Wir beide, Sie und ich, wissen aber noch mehr. Wir wissen, daß die Erde keine Zukunft mehr hat, wenn das zivilisierte, weiße Europa sich nicht wieder anschickt, den göttlichen Plan zu begreifen.“

„Sehr gut, Guillaume, alles in allem haben Sie recht, auch wenn Ihre letzte These eindeutig von Ihrem Spezialgebiet beeinflußt ist. Es ist mir schon früher aufgefallen, daß Astrophysiker ein ganz besonderer Menschenschlag sind.“

„Ich bin nicht nur Astrophysiker, sondern auch Nachfahre von Königen, die zugleich große Denker waren.“

„Gut, streiten wir nicht darüber, Guillaume. Ich möchte Sie aber zu besonderer Behutsamkeit mahnen. Immerhin mischen wir bei einem fremden Spiel mit. Ich meine das Spiel der Initiatoren der orangenroten Revolution. Vorderhand können wir es uns nicht erlauben, unsere Karten aufzudecken und unsere wahren Ziele erkennen zu lassen. Ich will nicht verhehlen, daß ich lange gezögert habe, ehe ich mich auf dieses Unterfangen einließ, und erst die ausführlichen Diskussionen mit Ihrem Vetter Henry halfen mir bei der Ausarbeitung des Projekts, das letzten Endes zu unserem gemeinsamen werden wird, in seinen ersten Etappen jedoch unter der Aegide und im Interesse jener abläuft, die wir beide ‚den anderen Westen’ nennen.“

„Ach, Sie können sich gar nicht vorstellen, wieviel näher uns beiden dieses ‚lichte Russenland’ steht als der ‚andere Westen’.“

Kapitel 21. Das Femegericht

„Nun verrate mir mal, was wir als nächstes tun werden, Petrowitsch“, sagte Siegfried.

Sie saßen am Ufer des Flusses, ganz in der Nähe von Tschugunows Haus.

„Als nächstes setzen wir deine Idee in die Tat um, mein Freundchen.“

„Meinen schneidigen Burschen jucken schon lange die Fäuste“, sagte Siegfried in sadistisch-verträumtem Ton.

„Die Fäuste brauchen sie vorderhand noch nicht zu gebrauchen.“

„Du beliebst wohl wieder einmal zu scherzen? Wenn das so weiter geht, kommen die Kerle noch ganz aus der Übung.“

„Reichen ihnen denn die Krawalle bei den Demonstrationen und das Spektakel bei unseren heidnischen Schauspielen denn nicht aus?“

„Das ist nur eine Art Warmlaufen. Immerhin haben wir erstklassige Kämpfer ausgebildet und keine Hilfspolizisten.“

„Da gebe ich dir völlig recht, mein Freund. Doch wir wollen den Dingen nicht vorgreifen.“

Tschugunow sah Siegfried plötzlich wehmütig an.

„Die Entwicklung steuert tatsächlich auf große Schlachten zu. Es wird schon bald so weit sein, daß wir schießen müssen und auf uns geschossen wird. Übereile nichts, Siegfried.“

Unversehens sang er einen Satz aus einem bekannten Lied: „Ohne uns gibt’s keine Keilerei, ihr Jungens.“

„Du wirkst heute so traurig, Professor.“

„Ich bin überhaupt nicht traurig, mein Freund. Ich habe nur eine bestimmte Vorahnung, oder besser gesagt ein bestimmtes Vorwissen.“

„Na gut, lassen wir das. Schließlich bist du kein x-beliebiger Infanterist. Wir werden niemandem erlauben, dir auch nur ein Haar zu krümmen. Für uns bist du unersetzlich.“

„Jeder von uns ist unersetzlich und einzigartig und trägt das ganze Universum in sich. Dies gilt für mich, für jeden deiner Burschen und für den hintersten Gassenaffen. Übrigens nimmt ein Arier sein Schicksal mit erhobenem Haupt hin. Mit uns ist Gott!“

„Mit uns ist Gott!“ bestätigte Siegfried.

In allen Tempeln der neuen Religion wurden Predigten gehalten, in denen die Heiligkeit des Volkswillens betont und alle Wahlfälscher verflucht wurden. Die Zeitungen machten sich seit einiger Zeit offen über die exotischen Rituale der Neuheiden lustig, und auch die Öffentlichkeit nahm sie immer weniger ernst. Das Projekt war drauf und dran, seinen anfänglichen Schwung zu verlieren. Um in den Meinungsumfragen wieder zuzulegen, beschlossen die Führer der Gemeinschaft, die eben erwähnten außergewöhnlichen Maßnahmen zu treffen und das Thema der bevorstehenden Wahlen auszuschlachten, das die Öffentlichkeit in wachsendem Masse in seinen Bann zog.

„Die Satanisten versuchen sich als Verteidiger der Volksinteressen aufzuspielen“, zitierte die respektable Unabhängige Zeitung einen Moskauer Komsomolzen. „Doch das ist ein leicht durchschaubarer Trick. Die kurzlebige Popularität der Neuheiden sinkt dank der Wiedergeburt der politischen Aktivität der Massen rasch auf Null ab.“ „Die Satanisten und Feinde Rußlands verleumden die staatlichen Institutionen“, empörte sich die offiziöse Russische Zeitung.

„Wir können ja gespannt sein, was sie demnächst schreiben werden“, dachte Tschugunow, als er im „Bürotempel“, wie sie das neue Stabsquartier nannten, die Zeitungen durchblätterte. Er wählte eine Telefonnummer.

„Wasilij?“

„Hallo Petrowitsch.“

„Komm zu mir.“

Schon bald erschien Wasilij im Büro.

„Wie reagieren unsere Gläubigen auf die jüngsten Ereignisse? Stehen dir irgendwelche wenigstens einigermaßen zuverlässige Informationen über die Stimmung unserer Anhänger zur Verfügung?“

„Wir stehen am Scheideweg. Es ist an der Zeit zu entscheiden, ob wir eine Religion sein wollen, oder eine Partei von Fanatikern, welche die Religion lediglich als Tarnmäntelchen gebrauchen, oder sonst etwas. Wenn wir uns um diesen Entscheid drücken, stehen wir demnächst vor einem Scherbenhaufen. Seit der Feuertaufe glauben unsere Anhänger wirklich. Schließlich zeigt die Geschichte, daß es ohne gewisse schlagende Erfolge, die dann als Wunder gedeutet werden, weder Religionen noch quasireligiöse ‚Parteien eines neuen Typs’ gibt.

Hinsichtlich der Religionen ist dies von Anfang an klar. Aber die Bolschewiken hatten 1917 ganz einfach mordsmäßig Glück, und Hitler wäre nie geworden, was er wurde, hätte er auf wirtschaftlichem, politischem und militärischem Feld nicht eine Reihe echter Erfolge errungen, beispielsweise die augenblickliche Überwindung der Arbeitslosigkeit, die politische Kapitulation vermeintlich stärkerer Gegner oder den Blitzsieg über Frankreich.“

„Das ist mir alles klar, Wasilij. Bereite die Massen also auf ein Wunder vor.“

„Wird denn eines geschehen?“

„Du mußt nur fest daran glauben, mein Freund. Immerhin bist du ja einer der Priester der neuen Religion.“

Tschugunow hatte sich dieses Produkt schon seit langem – noch vor seiner Heirat – besorgen wollen. Damals waren ihm seine Nachbarn, freche Kaukasier, mit ihrem losen Treiben mächtig auf den Wecker gegangen. Zu ihrem eigenen Glück zogen sie schon bald weg, und zwar... nach Holland. Später erfuhr Tschugunow, daß das Oberhaupt der Sippe dort prompt hinter Gittern gelandet war. Die Familie, die eine Anzahl Wertgegenständen aus der UdSSR mitgenommen hatte, machte pleite und kehrte zurück, allerdings nicht mehr in die UdSSR, sondern in ein bourgeoises Rußland.

Ja, für die zivilisierte Welt waren diese Bergjuden tatsächlich eine unerhörte Bereicherung... Was sollte man hierzu schon sagen.

Doch damals galten Pjotrs Gedanken nicht der Politik, sondern einer ganz anderen Frage: Er hatte nämlich gehört, daß es technisch möglich sei, einen Menschen mit Hilfe von Infraschall umzubringen, und versuchte sich eine solche Apparatur zu beschaffen. Er brachte in Erfahrung, daß sich der elektronische Teil problemlos anfertigen ließ, während die Herstellung des akustischen Teils weit schwieriger war. Dann nahmen ihn andere Dinge in Anspruch, und er verlor sein Interesse an dieser Frage, aber später traf es sich, daß er mehrmals mit Projekten biophysischen Charakters konfrontiert wurde – Geräten, die einen Menschen mittels einer Frequenz von 7,6 Hertz permanent außer Gefecht setzen können.

Nachdem er Vorsitzender des Verbandes russischer Ingenieure geworden war, griff er seine alte Idee auf. Großer Gott, wie genial das russische Volk doch war! Es reichte völlig, eine bestimmte Aufgabe zu stellen, und schon meldeten sich massenweise Leute mit Vorschlägen für ihre Lösung zu Wort.

Zuerst lösten sie das Problem der Reproduktionseinrichtung. Das Problem liegt darin, daß seine linearen Ausmaße mit einer langen Welle vergleichbar sein müssen, wobei die genannte Frequenz einer Länge von mehr als zehn Metern entspricht. Es gelang jedoch, diese Dimension erheblich zu verringern; die Oberfläche war zwar recht groß, aber die Konstruktion wies die Gestalt einer sogenannten fraktalen Struktur auf, was bedeutet, daß sie auf komplexe Weise gewellt ist. Dadurch wird es möglich, die Apparatur in einem Minibus unterzubringen, aber auch in diesem Fall muß die Kraft, welche auf das akustische System einwirkt,  groß genug sein, um eine tödliche Wirkung der Infraschallausstrahlung zu gewährleisten.

Dieses zweite Problem stellte zunächst eine unüberwindliche Hürde dar. Es wäre erforderlich gewesen, die Energie aus einer stationären Quelle zu beziehen, und dies verunmöglichte eine Verwendung der Vorrichtung als mobile Waffe.

Die Idee zur Lösung dieses Problems war keinem anderen als Tschugunow selbst gekommen. Warum mußte die Energiequelle eigentlich über längere Zeit hinweg verfügbar sein? Es war schließlich durchaus möglich, eine Turbine von anderthalb bis zwei Metern Länge und außerordentlich großer Kraft zu konstruieren. Gewiß, in einem Minibus kann man keine ausreichende Menge Treibstoff unterbringen, um eine solche Turbine lange in Betrieb zu halten, aber dies war auch gar nicht nötig. Vierzig bis sechzig, vielleicht maximal achtzig Sekunden reichten völlig aus.

Nun galt es noch das Problem des Lärms zu lösen, den eine solche Turbine verursachen würde, aber dies war bereits eine rein technische Angelegenheit. Dämpfer für Mobiltelefone würden den Lärm auf ein vertretbares Maß verringern.

So gelang es ihnen, in die Seitenwand ihres Minibusses eine Quelle lenkbaren, tödlichen Infraschalls einzubauen. Die einzige Schwierigkeit bestand darin, daß die im Wagen sitzenden Operatoren, auch wenn sie sich außerhalb dieser Quelle befanden, äußerst unangenehmen Nebeneffekten ausgesetzt waren, doch würde sich das Risiko im Rahmen halten.

Somit war die schauerliche unsichtbare Waffe bereit. Vor ihrem ersten Ernsteinsatz war sie von Siegfrieds Kämpfern sogar getestet worden. Die Einzelheiten dieser Testversuche interessierten Tschugunow nicht; er erfuhr lediglich, daß sie vollkommen erfolgreich verlaufen waren. Ihre Opfer waren Feinde gewesen, die Siegfried ursprünglich mit den alten, konventionellen Mitteln hatte erledigen wollen.

Der Mercedes des Vorsitzenden des Zentralen Exekutivkomitees [ZIK] kam vor dem Gebäude, in dem sich sein ehrwürdiges Amt befand, zum Stillstand. Aus dem Begleitwagen sprangen seine Leibwächter, schauten rasch nach links und nach rechts und schirmten den Vorsitzenden mit ihren Leibern fachkundig ab, während er zum Portal seines Amtsgebäudes schritt.

Tschugunow hatte letztendlich beschlossen, mehrere Varianten der Apparatur herstellen zu lassen. Die einen waren in einem Minibus, die anderen in einem großen Bus untergebracht. Letztere waren wirksamer, und der Autobus selbst wirkte respektabler. Sie besorgten sich das Nummernschild einer Automobilherstellerfirma, die für die Regierung arbeitete. Solche Nummernschilder kann man in Rußland für ein Schmiergeld erhalten. Zwar waren die Preise in den letzten Jahren mächtig in die Höhe geschnellt, aber an Geld fehlte es ihnen dank Bruder Guillaume ja nicht.

Aus dem nicht besonders glücklich geparkten Autobus erscholl ein kurzes Geheul. Die Leibwächter drehten sich wie auf Kommando in diese Richtung, wurden jedoch blitzartig durch einen Infarkt außer Gefecht gesetzt. Dasselbe Geschick ereilte tragischerweise auch den Mann, den sie bewachten.

Das Geheul verstummte, und der Autobus setzte sich langsam in Bewegung.

Innerhalb zweier Wochen erlagen mehr als zehn Beamte, von denen alle Eingeweihten und auch ein großer Teil der Öffentlichkeit wußten, daß sie bei den skandalösesten Wahlfälschungen der letzten Jahre die Hand im Spiel gehabt hatte, jäh von Infarkten dahingerafft. In den Tempeln der neuen Religion dankte man den Göttern feierlich und öffentlich für diese gerechte Vergeltung.

Für die Massenmedien war dies ein gefundenes Fressen, und zwar nicht nur für die russischen. Die durch die langjährigen Bemühungen der Herren eben dieser Massenmedien verdummte Bevölkerung akzeptierte die Version, wonach der Tod der Wahlfälscher auf göttliche Einwirkung zurückging. Sie waren innerlich bereit, sie zu akzeptieren.

„Die Rache der Götter!“ lauteten die Schlagzeilen der Medien. „Wir glauben daran!“ beteuerten Zeitungen und Zeitschriften, die für die Neuheiden noch vor kurzem nichts als Hohn und Spott übrig gehabt hatten. „Wer ist der nächste?“ rätselten andere und nannten potentielle Opfer – nicht nur Einzelpersonen, sondern ganze Kooperationen. Diese fürchteten sich bereits vor einer neuen Inquisition und zweifelten nicht daran, wer an deren Spitze stehen würde. Sie begriffen nicht, daß es bei Anhängern der arischen Götter keine Inquisition geben kann, daß aber Rache nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht des Ariers ist.

Währenddessen saßen die Kämpfer, welche die Infraschall-Waffe so erfolgreich eingesetzt hatten, in ihrem karpatischen Ausbildungslager, um ihre durch die Nebenwirkungen der Waffe angeschlagene Gesundheit wiederherzustellen. Dort hielt sich auch Tschugunow auf, der Rußland sofort nach den ersten Anschlägen verlassen hatte.

Sowohl von operativem als auch von religiösem Standpunkt aus war dieses Vorgehen unbedingt vernünftig zu nennen. Schließlich lag der bedeutendste Tempel der neuen Glaubensgemeinschaft auf ukrainischem Territorium, wo die Religion auch zuerst registriert worden war. Da war es nichts als logisch, daß sich der Hohepriester zu einem für die Festigung des neuen Glaubens entscheidenden Zeitpunkt in diesem Tempel aufhielt. Gemeinsam mit den Göttern.

In Rußland begann nun das, was in Lehrbüchern für psychologische Kriegsführung als psychische Epidemie bezeichnet wird. Immer mehr Menschen glaubten an die Wahrheit des neuen Glaubens, und das einfache Volk spendete in dessen Tempeln Geld.

Auch etliche Personen, die sich selbst der Wahlfälschung schuldig gemacht hatten, eilten in die Tempel und brachten schriftliche Geständnisse ihrer Sünden mit. Mündlich vorgetragene Bitten um Vergebung wurden nämlich nur angenommen, wenn zuvor entsprechende Dokumente eingereicht worden waren. Am Fernsehen konnte man mitverfolgen, wie vor Angst halb wahnsinnige Beamte den Priestern und Zauberern mit zitternden Händen Papiere mit dem Eingeständnis ihrer Schuld überreichten.

Eine Welle von Skandalen erschütterte das Land. Das Regime verlor in den Augen der Öffentlichkeit jeden Anschein von Legitimität, denn die Geständnisse, aus denen hervorging, daß so gut wie alle Wahlen der letzten Jahre gefälscht worden waren, wollten nicht abreißen.

Es versteht sich von selbst, daß die Machthaber in Panik gerieten. Bei ehrlichen, streng nach den Vorschriften abgehaltenen Wahlen würden sie nicht den Hauch einer Chance haben. Die Polizei erhielt den Befehl, die Neuheiden massiv unter Druck zu setzen, und zahlreiche Aktivisten wurden verhaftet und verhört. Doch diese Männer, welche den Eid des Feuers abgelegt hatten, ließen sich nicht so leicht ins Bockshorn jagen. Jawohl, sie hatten um Gerechtigkeit gebetet. Jawohl, sie hatten um Rache gebetet. Jawohl, sie dankten ihren Göttern dafür, daß ihre Gebete erhört worden waren. Doch war es etwas verboten zu beten? Außerdem war ihre Glaubensgemeinschaft offiziell registriert, und es gab kein Gesetz, welches die Zensur von Gebeten vorsah. Und waren die bösartigen Fälschungen, die, wie sich mittlerweile herausgestellt hatte, gang und gäbe gewesen waren, etwa kein Verbrechen und keine Sünde gewesen? Die Herren von der Justiz taten übrigens gut daran, selber zum neuen Glauben überzutreten. Sie konnten sich ja selbst davon überzeugen, wie mächtig dessen Götter waren.

„Vielleicht ist wirklich etwas daran?“ dachten sich viele Justizbeamte, zumal immer mehr Menschen in ihrer Umgebung ebenso dachten. Die zynischeren unter ihnen fragten sich, ob sie es wirklich nötig hatten, Prozesse zu führen, die ihnen nicht nur keinen Gewinn verhießen, sondern sie im Gegenteil in Gefahr brachten, auch wenn niemand so richtig wußte, woher diese kam.

Dennoch gab es in der Justiz eine Anzahl von Leuten, welche die Neuheiden verbissen verfolgten und versuchten, aus ihnen Geständnisse herauszuprügeln. Sie mußten freilich feststellen, daß die Priester niedrigeren Ranges tatsächlich nichts wußten. Doch ihre Gewalttätigkeiten gegen die Anhänger des neuen Glaubens sollten nicht straflos bleiben.

„Schlag zu!“ sagte Tschugunow zu Siegfried.

Die Reihen dieser pflichtversessenen Justizbeamten lichteten sich rasch. Siegfried verfügte nämlich über genügend Kräfte und Mittel, um ihre Liquidierung zügig in die Wege zu leiten. Damit gab er sich allerdings nicht zufrieden. Er hatte Blut geschmeckt und begann theatralische Aktionen zu inszenieren, wie sie bei seinen Ahnen Brauch gewesen waren. So ließ er seinen Feinden eine Warnung in Form eines in eine Wand gerammten Dolches zukommen, an dem ein geflochtener Kranz aus Efeu hing.

Im frühmittelalterlichen Deutschland nannte man dies ein Femegericht.

Vermutlich waren diese theatralischen Drohungen ein Fehler. Die Regierungsspitze begriff nämlich, daß sie es nicht mit irgendeiner mystischen Sekte, sondern mit einer genial geplanten Kampagne zu tun hatte. Obwohl bisher keinerlei Beweise vorlagen, war jedermann klar, daß die Gebete in den neuheidnischen Tempeln, bei denen die Anhänger des neuen Glaubens ihre Götter um die Bestrafung der Wahlfälscher baten, den Auftakt zu dieser Destabilisierungskampagne gegeben hatten.

Das Regime befand sich in akuter Zeitnot und zugleich in Zugzwang. Alle gesetzlich vorgesehenen Mittel des Kampfes gegen die Opposition konnten seine Lage lediglich noch verschlimmern. Niemand glaubte den Machthabern auch nur noch ein einziges Wort. Das Ansehen der Kremlbosse war bereits so tief gesunken wie dasjenige der provisorischen Regierung vor der Oktoberrevolution, und weit und breit war kein Helfer in Sicht.

Nein, dies würde keine Orangen-Revolution werden. Die bevorstehende Revolution war offensichtlich ganz anderer Art.

Kapitel 22. Bekenntnis zum Haß

Tschugunow erhielt die Kassette von Mitarbeitern des “Tempelstablagers”, wie er und seine Kameraden ihren wichtigsten Stützpunkt – er war nach den klassischen Maßstäben der alten Tempel der Priester-Krieger und Zauberer gebaut - scherzhaft nannten.

Irgend jemand, vermutlich eine in Rußland wohnende Person, wollte Tschugunow eine Warnung zukommen lassen. Aus gewissen Indizien schloß Pjotr, daß es sich bei dem Betreffenden um seinen unbekannten Wohltäter aus dem Geheimdienst handeln mußte, der sich diesmal nicht damit begnügt hatte, ihnen unter Mißachtung seiner Dienstvorschriften gewisse ihm vorliegende Informationen zu übermitteln, sondern auf eigene Faust recht eigentliche Recherchen angestellt hatte, die jedenfalls mit höchster Lebensgefahr verbunden waren.

Ein wirkliches Wunder, das nicht auf menschliche Eingebung zurückging, dachte Tschugunow. Diesen Mann – den er sich aus irgendwelchen Gründen recht jung vorstellte – hatten ihnen tatsächlich die Götter gesandt, und sie hatten ihm geholfen, das Unmögliche zu schaffen. Jawohl, das Unmögliche. Sogar ein Laie wie er, Tschugunow, begriff das. Es war nun an ihnen, dieses Wunder nicht ungenutzt zu lassen und das ihnen überreichte Geschenk nicht leichtfertig zu verscherzen.

Solche Gedanken schossen ihm durch den Kopf, während er sich die Kassette aufmerksam anhörte.

Eine Stimme – er taufte den Sprecher „Nummer eins“ – sagte:

„Diese Jungens haben wirklich Schneid, und sie haben uns die Aufgabe ungemein erleichtert. Früher mußten wir uns mit einem Windbeutel von Präsidenten sowie mit Gruppierungen herumschlagen, die ihn innerhalb und außerhalb des Landes unter Druck setzten. Jetzt wissen wir, daß unsere wirklichen Feinde nicht diese Waschlappen sind, sondern echte Kämpfer - klug, fast schon genial, und kühn.“

„Und was bringt uns das?“ fragte Nummer zwei, ein offenbar wesentlich jüngerer Mann. „Hat das Auftreten dieser Leute etwa auch nur ein einziges unserer alten Probleme aus dem Wege geräumt? Meiner Ansicht nach haben sie uns nur zusätzliche Schwierigkeiten eingebrockt.“

„Das stimmt nicht“, antwortete Nummer eins. „Die alten Probleme sind dank ihnen mit einem Schlag verschwunden. Sowohl der Präsident als auch die Auftraggeber der Orangen-Revolution sind ratlos. Manche von ihnen können nicht verbergen, daß sie vor Angst schlottern. Es ist jetzt ein Kinderspiel, sie abzuservieren.“

„Und wie?“ grunzte Nummer drei, ein rüpelhafter Mensch mit heiserer Stimme, der anscheinend gewohnt war, herumzubrüllen und zu kommandieren.

„Und warum eigentlich?“ fragte Nummer zwei. „Warum sollen wir schon jetzt die Macht an uns reißen, sei es formal oder nur de facto? Wie sollen wir dann mit diesen Priestern und Hexenmeistern fertigwerden, die sich einen Spaß daraus machen, sich so aufzuführen wie die alten Germanen? Wer wird jetzt noch einen Finger rühren, um die Befehle von Leuten auszuführen, die das ganze Land für politische Feiglinge hält, und dadurch Kopf und Kragen riskieren? Warum sollen wir diese Befehle erteilen, die ohnehin toter Buchstabe bleiben? Was haben wir für einen Nutzen davon, für das Regime die Kastanien aus dem Feuer zu holen?“

„Aber was sollen wir dann tun?“ fragte Nummer drei in grobem Ton. „Sollen wir etwa das Handtuch werfen?“

„Genau das planen, nebenbei gesagt, manche unserer potentiellen Unterstützer“, bemerkte Nummer eins. „Wenn diese Nazipriester ans Ruder kommen, werden viele, die ihr Kapital in weiser Voraussicht im Westen angelegt haben und dadurch unfreiwillig zu ‚staatstragenden Patrioten’ geworden sind, sich als politische Flüchtlinge gerieren, als ‚Opfer des Faschismus’. Der humane Westen wird nicht nur ihr Kapital nicht konfiszieren, sondern ihnen sogar noch eine Unterstützung zahlen.“

„Bisher haben sich die Priester aber nicht als Faschisten zu erkennen gegeben“, wandte Nummer zwei ein.

„Lies doch die Schriften ihres obersten Ideologen! Von da bis zum Faschismus ist es wirklich nur noch ein Schritt.“

„Jetzt vereinfachst du aber. Die Forderung nach dem Verzicht auf den Kaukasus kann man sowohl von einem rassistischen als auch von einem demokratischen Standpunkt aus vertreten; sie läßt sich sehr wohl mit dem Geist der Zivilisation und der Menschenrechte vereinbaren. Er wäre ja ein Dummkopf, wenn er sich ungeniert faschistisch gebärden und dadurch in ein schlechtes Licht stellen würde, und ein Dummkopf ist er weiß Gott nicht.“

„Seine Freunde sind längst nicht so gescheit. Und er ist nicht unsterblich...“

„Genau!“ kicherte Nummer drei.

„Es versteht sich von selbst, daß wir diese Frage nicht aus den Augen verlieren dürfen. Aber mir scheint, wir sind vom Thema abgekommen. Wenn ich die Lage richtig einschätze, haben wir nur eine Chance, wenn wir ihr Spiel mitspielen und sie dann mit Hilfe des Westens stürzen. Wir können uns dann nämlich als ‚Kämpfer gegen den Faschismus’ profilieren. Habe ich nicht recht?“ fragte Nummer zwei.

„In vielen Punkten hast du sicher recht“, räumte Nummer eins ein.

„Nein, er hat nicht recht!“ protestierte Nummer drei energisch. „Wenn diese Kerle erst einmal an der Macht sind, treten sie sie nicht mehr ab. Auch wir können sie dann nicht mehr stürzen, nicht einmal mit Hilfe des Westens. Außerdem: Machen wir uns doch nichts vor, Genossen. Wer hat diese Leute wohl aufgepäppelt? Etwa nicht jener Westen, mit dessen Unterstützung ihr sie bekämpfen wollt?“

„Wir wissen bisher nicht, wer sie aufgepäppelt hat“, konstatierte Nummer eins in leicht bitterem Ton.

„Macht euch jedenfalls keine großen Hoffnungen auf den Westen“, sagte Nummer drei. „Schließlich habt ihr bis heute nicht herausgefunden, was er eigentlich will.“

„Dazu haben wir nun keine Zeit mehr“, hielt Nummer eins sachlich fest.

„Ein Grund mehr, nicht auf eine Zusammenarbeit mit dem Westen zu spekulieren.“

„Einverstanden“, stimmte ihm Nummer eins zu.

„Wir sind schon wieder vom Thema abgekommen“, sagte Nummer zwei in erkennbar gereiztem Ton. „Analysieren wir kurz die Lage. Erstens: Der Kreml hat klar zu erkennen geben, daß er bereit ist, die Macht an den erstbesten abzutreten. Zweitens: Im Moment ist niemandem daran gelegen, die Macht auf dem Tablett serviert zu bekommen, auch uns nicht. Drittens: Das Modell der Orangen-Revolution wirkt ganz von allein zusehends veraltet, und wir haben keinen Grund, uns vor den Orangen-Revolutionären zu fürchten. Viertens: Es gibt Kreise, die gerne ernten möchten, was die Orangen-Revolutionäre gesät haben. Genau dies tun die Neuheiden, über die wir bisher zu wenig wissen. Übrigens entwickeln sie schon jetzt gewisse Strukturen einer Selbstverwaltung auf unterer Stufe. Heute Selbstverwaltung, morgen Selbstverteidigung.

Dies wären die Hauptpunkte. Es gibt noch eine ganze Reihe anderer Momente, deren Aufzählung ich mir schenke. Die Frage lautet nun: Was wollen wir?“

„Eine gute Frage“, sagte Nummer eins langsam.

Es folgte eine Pause. Im Hintergrund hörte man ein Plätschern. Offenbar ein Fluß.

„Die Antwort auf diese Frage lautet: Wir wollen unseren Plan verwirklichen. Dieser ist im Grunde ganz einfach. Wir wollen, daß der Präsident die Macht an uns abtritt, und dann errichten wir ein Regime nach dem Muster des weißrussischen. Wir setzen die Geschäftsleute unter Druck. Ein bißchen; du brauchst also keine Angst zu haben, Wlad“ (dieser Satz war offenbar an Nummer zwei gerichtet). „Wir sorgen dafür, daß sich Otto Normalverbraucher ein bißchen bereichern kann, und selbst leben nicht schlecht. Wir behalten die Macht fest in unseren Händen und treten unser Eigentum an niemanden ab. Wir leben wie im Westen, aber in Rußland, nicht im Westen. Und wir erlauben dem Westen nicht, seine Nase in unsere Angelegenheiten zu stecken.“

„Ich glaube nicht, daß Lukaschenko dies für eine angemessene Beschreibung seiner Herrschaft halten würde“, knurrte Nummer drei.

„Ich diskutiere mit ihm ja auch nicht darüber“, antwortete Nummer eins.

„Früher haben uns die Orangen-Revolutionäre daran gehindert, diesen Plan zu verwirklichen, und nun kommen uns die Priester in die Quere. Also müssen die Priester weg. Mit Gewalt geht das nicht, denn erstens sind die Orangen-Revolutionäre noch längst nicht am Ende, zweitens ist der Präsident zu unentschlossen, und drittens verfügen die Priester bereits über ein beachtliches Potential. Es geht also nur über eine Intrige. Fragt sich nur, über was für eine?“

„Man muß sie als Monstren darstellen. Als Feinde aller, absolut aller: Des gegenwärtigen Regimes, des Westens und des Volkes. Ihre Ressourcen reichen nie und nimmer aus, um gleichzeitig gegen alle zu kämpfen“, regte Nummer eins an.

„Herrgott nochmal, warum reden wir eigentlich endlos um den heißen Brei herum? Eine Provokation braucht es, was denn sonst, und zwar eine, die sich gewaschen hat“, rief der Dritte erregt. „Das Meer muß sich von Blut röten. Wir schieben es den Priestern in die Schuhe. Dann fallen alle anderen wie die Berserker über diese her und machen Hackfleisch aus ihnen. Anschließend packen wir diesen Fuchs von einem Präsidenten an der Gurgel und zwingen ihn, uns die Macht zu übergeben, anfangs nur de facto, aber dann auch formal.“

„Einfach genial, General“, rief Nummer zwei begeistert.

„Hören wir also auf zu schwatzen; von nun an wird gehandelt! Mein Befehl lautet wie folgt: Wir bereiten eine Aktion vor. Ich habe bereits ein ganz bestimmtes Objekt im Auge. Ein Depot für chemische Kampfstoffe in der Gegend von Starowotkinsko. Wir jagen es in die Luft und machen dann die Priester dafür verantwortlich.“

„Dabei geht aber das halbe Wolgagebiet drauf“, wandte Nummer eins ein.

„Dafür überlebt die andere Hälfte. Schluß also mit dem Gequatsche! Ich kümmere mich um die Sprengung des Depots, und ihr fabriziert getürktes Beweismaterial gegen die Priester! Und dann fahren wir diesen Fuchs gemeinsam an die Gurgel. Das wäre alles. Die Zeit zum Zuschlagen ist gekommen.“

„Einverstanden“, sagte Nummer eins trocken.

„Einverstanden“, echote Nummer zwei. „Und wann soll das Depot in die Luft fliegen? Unser Aktionsplan hängt natürlich vom Datum ab.“

„In zwei Wochen?“

„Schon so früh?“

„Schon so früh? Verdammich, nein, erst so spät! Genug gequasselt, meine Herren. An die Säcke!“

Kapitel 23. Die Katastrophe wird abgewendet

Jura und Siegfried hörten sich die Kassette schweigend an.

„Was nun, Petrowitsch?“ fragte Siegfried, „zweifelst du immer noch daran?“

„Woran, Siegfried?“

„Daran, daß es fünf Minuten vor zwölf ist. Bisher hast du doch immer gesagt, es sei noch zu früh, und mit Gewalt erreiche man gar nichts...“

„Was soll das? Willst du mich etwa als Pazifisten darstellen, der ich nicht bin? Du hast recht, es ist in der Tat Zeit zu handeln. Übrigens liegt Starowotkinsk doch nicht allzu weit von deinem Heimatort entfernt. Also nichts wie los; Action ist gefragt. Es gilt nun alle unsere Möglichkeiten konsequent zu nutzen.“

„Dafür sind die Voraussetzungen dort nicht besonders günstig“, erwiderte Siegfried. „Wir werden also mit altbewährten Mitteln vorgehen müssen.“

„Gerade dazu und zu nichts anderem hast du deine Kämpfer ja auch ausgebildet, nicht für Krawalle und Straßendemonstrationen oder um ein paar lästige Bullen umzulegen. Los, Sigi, du bist jetzt als Fachmann gefordert.“

„Da lasse ich mich nicht zweimal bitten. Jura, warum schweigst du?“

„Wißt ihr, ich habe als einziger von euch in einem Krieg gekämpft, und ich sage euch als Profi, daß es schwer wird. Sehr schwer.“

„Meine Herren, ich konstatiere bei Ihnen einen bedenklichen Mangel an Enthusiasmus. Unter diesen Umständen empfiehlt sich vielleicht eine andere Variante: Wir übergeben die Kassette den Medien und handeln nach meinen Methoden“, sagte Tschugunow.

„Kommt gar nicht in Frage“, wehrte Siegfried entschieden ab. „Du hast uns nicht richtig verstanden. Wir möchten einfach als Spezialisten auf unserem Gebiet anerkannt werden, aber bisher haben wir den Eindruck gewonnen, als seien wir nur eine Art Laufburschen für allerlei Nebenaufgaben. Doch jetzt hat offenbar unsere große Stunde geschlagen, und wir möchten aus deinem Mund hören, Hohepriester, daß die Götter auf uns hoffen.“

„Die Götter hoffen auf euch, Siegfried.“

Die Aufgabe, eine Explosion zu verhindern, welche zur Vergiftung des halben Wolgagebiets führen konnte, war durchaus nicht leicht, weil sie keinen Hinweis darauf besaßen, wie der Feind vorgehen würde. Ein Überfall auf das Depot war nur eine mögliche Variante, denn schließlich war es auch denkbar, daß dieses schon jetzt von den Männern des Generals kontrolliert wurde. In diesem Fall würden die Täter sich ganz offiziell im Depot aufhalten, die Wachen auswechseln und dann ans Werk gehen. Sie würden Minen mit Zeitzündern legen und sich anschließend schleunigst aus dem Staub machen. Aber wie konnten sie den Anschlag unter diesen Umständen Terroristen in die Schuhe schieben und dazu noch glaubhaft machen, daß diese im Auftrag der Priester gehandelt hatten?

Nein, Siegfrieds Plan, das Depot von seinen Kämpfern umzingeln und jeden, der sich ihm näherte, abfangen zu lassen, bot keine Erfolgsgewähr. Sie alle, Jura nicht ausgenommen, mußten sich selbst an Ort und Stelle begeben.

Und abermals flog das winzige Flugzeug die Desna entlang, landete auf der Heide in den Wäldern von Brjansk, tankte auf, erhob sich wieder in die Lüfte und setzte schließlich in der Gegend von Twer zur Landung an. Den Rest des Weges konnte man im Auto zurücklegen. Alle Akteure standen in permanenter Verbindung miteinander, und alle arbeiteten für den Hohepriester.

Schon ein erster Augenschein erleichterte ihnen den Entscheid darüber, wie vorzugehen war. Es genügte, sich dieses in den Wäldern des Vorurals gelegene Depot und seine Umgebung anzusehen, um zu verstehen, wie sterbenslangweilig der Dienst dort war. Die Wachposten sowie das Bedienungspersonal litten an ständigen Depressionen und ertränkten ihren Frust im Alkohol. Einem Außenstehenden etwas verkaufen zu können, wäre ihnen als unerhörter Glücksfall erschienen, aber sie hatten nichts zu verkaufen. Der nächste kleine Flecken war zwanzig Kilometer entfernt und die Stadt Starowotkinsk siebzig.

Die hauptsächliche Schwierigkeit bestand darin, in diesem Nest aufzutauchen, ohne Verdacht zu erregen. Glücklicherweise traf es sich, daß Siegfried dort entfernte Verwandte hatte. Es verstand sich von selbst, daß es für ihn mit gewissen Risiken verbunden war, sich dort sehen zu lassen, aber es gab keinen anderen Weg. Immerhin würde schon bald ein regelrechter Krieg beginnen und keine politische Sonderaktion. Sich jetzt noch vor Fahndern und Verfolgern zu verstecken war sinnlos, denn in naher Zukunft würden sie ohnehin mit offenem Visier kämpfen müssen.

Nachdem Tschugunow im Laden dieses Weilers den ersten angetrunkenen Fähnrich gesehen hatte, begriff er sofort, daß Wachposten und Personal nach den Plänen des Generals über die Klinge springen mußten. Dieser würde sich hüten, sie auswechseln zu lassen, weil er wußte, daß sie dann nach der Katastrophe überall herausposaunen würden, daß man sie zum Glück am Abend zuvor ausgewechselt hatte.

Als erstes machten sie sich an den Fähnrich heran. Sie luden ihn bei Siegfrieds Verwandten ins Bad ein, das sich im Gemüsegarten befand, und fragten ihn dort aus. Mit stumpfem Gesichtsausdruck sah er Tschugunow und seine Mitstreiter an.

„Ich begreife wirklich nicht, was ihr von mir wollt, Männer.“

„Wir wollen, daß du für uns ein Treffen mit dem Chef des Depots arrangierst. Kannst du ihn hierher einladen? Hier hast du einen Vorschuß von tausend Dollar. Nachher kriegst du noch einmal soviel.“

„Sind die denn echt?“

„Wenn du darauf bestehst, bringen wir sie nach Starowotkinsk und wechseln sie dort.“

„Danke, nicht nötig. Übrigens fährt der Major morgen nach Starowotkinsk.“

„Hat man ihn dorthin bestellt, oder fährt er auf eigenen Wunsch dorthin?“

„Weiß ich es denn?“

„Bist du sicher, daß er fährt?“

„Ja.“

„Gut. Bleib vorläufig bei uns. Sonst plauderst du im Depot sicher alles aus.“

„Aber ich habe Dienst.“

„Du bist ja wirklich ein Ausbund an Pflichtbewußtsein! Hier hast du nochmals zweitausend Dollar zur Belohnung dafür, daß du noch einen Tag hier bleibst und Wodka trinkst. Du siehst, ich gebe dir tausend Dollar mehr als ursprünglich versprochen.“

„Sagt mal ehrlich, seid ihr vielleicht Spione?“

„Glaubst du denn allen Ernstes, für euch würde sich irgendein Spion interessieren? Wir sind Geschäftsleute und wollen deinem Chef ein geschäftliches Angebot machen.“

„Ihr kommt nicht zufällig aus Tschetschenien?“

„Habt ihr etwa Besuch von Tschetschenen bekommen?“

„Nein, aber man hat uns davor gewarnt.“

„Ist das lange her?“

„Ungefähr ein Jahr.“

„Siehst du, nicht einmal die Tschetschenen wollen von euch etwas wissen. Schau her. Hier hast du einen Kasten Vodka, Wurst, Käse, Brot, Salzgurken und Tomaten. Gönne dir ein wenig Entspannung. Serjoga wird dir Gesellschaft leisten. Du trinkst doch sicher nicht gern allein?“

„Machst du vielleicht Witze? Wer trinkt denn schon gerne allein? Aber Moment, wir hatten tatsächlich einen, der alleine trank. Der hat sich dann aufgehängt.“

„Wann war das?“

„Bei uns dreht jedes Jahr irgendeiner durch. Vor Langeweile.“

„Darum hängen sie sich also auf.“

Zum Depot führte eine Eisenbahnlinie, die beim Weiler in den Wald abbog. Die Landstrasse verlief anfangs parallel zur Bahnlinie, bog aber dann in umgekehrter Richtung – auf das Dorf zu – ab und führte von dort weiter nach Starowotkinsk.

Sie hielten den Geländewagen des Majors auf der Landstrasse vor dem Weiler an. Der Chauffeur, ein Soldat, der für eine gewisse Zeit in diese Gegend versetzt worden war, dachte nicht im Traum an Widerstand, als er die bewaffneten Männer in ihren Tarnanzügen sah, und der Major selbst döste und erwachte erst, als der Wagen schon zum Stillstand gekommen war.

Tschugunow und seine Männer führten die beiden von der Strasse weg. Der Major schien nicht übermäßig überrascht zu sein. Sein schlaffes, ungesund wirkendes, rötliches und fleischiges Gesicht verriet kein Gefühl außer einen müden Ekel vor allem und jedem. Seine eher heller als dunklen, aber glanzlosen Augen blickten Tschugunow und seine Freunde ohne jedes Interesse an.

„Wir wollen Ihnen Gelegenheit zu einem Nebenverdienst bieten und zugleich Ihr Leben retten, Major“, sagte Tschugunow. Seine Gefährten schwiegen.

„Ihr seid ja richtige Philanthropen“, sagte er und verzog seine dicken, welken Lippen verächtlich.

„Nicht ganz. Reden wir zuerst vom Geld. Hier haben Sie zehntausend Dollar dafür, daß Sie bereit sind, aufmerksam zuzuhören.“

Tschugunow schaltete ein Tonbandgerät ein und spielte dem Major den Schluß der Unterredung zwischen den drei Unbekannten vor. Beim Zuhören wurde der Offizier sichtlich munterer.

„Sie sind sich doch sicher im klaren darüber, daß Sie keine Überlebenschance haben, wenn dieser Plan durchgeführt wird?“ fragte Tschugunow.

„Klar, ich bin doch kein Dummkopf.“

„Sind Sie bereit, uns bei der Abwehr des Angriffs zu helfen?“

„Und wenn ich nicht dazu bereit bin?“

„Dann gehen wir weg.“

„Und die zehntausend Dollar darf ich behalten?“

„Sie haben doch das Band gehört.“

„Ihr seid wirklich komische Vögel. Wer seid ihr überhaupt?“

„Priester des neuen Glaubens.“

„Ach ja, ich habe vor einiger Zeit am Flimmerkasten eine Sendung über euch gesehen. Stimmt es tatsächlich, daß ihr mit euren Flüchen eine ganze Menge fettgemästeter Parasiten ins Jenseits befördert habt?“

„Sie haben es ja selber gesehen. Es kam doch am Fernsehen.“

„Dann betet zu euren Göttern und macht auch die Kerle unschädlich, die das Depot überfallen wollen.“ Bei diesen Worten lächelte der Major verschmitzt.

„Man muß den Göttern mit eigenen Händen helfen.“

„Wollt ihr mich auch mit eigenen Händen kaltmachen?“

„Wozu?“

Der Major richtete sich plötzlich auf und sprach in nüchternem, ernsthaften Ton.

„Vielleicht seid ihr Provokateure?“

„Und worin soll das Ziel einer solchen Provokation bestehen?“

Der Major machte ein schiefes Gesicht.

„Jetzt ist aber Schluß mit euren intellektuellen Diskussionen“, mischte sich Jura ein. „Geh mal zur Seite, damit ich ein Wörtchen mit dem da reden kann.“

„Aber die zehntausend lassen wir ihnen. Wir haben sie ihnen schließlich versprochen“, sagte Tschugunow und schickte sich an, sich in Richtung Strasse zu entfernen.

„Ehrlich gesagt würde ich nicht gerne darauf verzichten“, sagte der Major schnell. Er wollte verhindern, daß Tschugunow wegging, denn dieser schien ihm nichts Böses zu wollen.

„Dann denken wir am besten gemeinsam darüber nach, wie potentielle Angreifer es am sinnvollsten anstellen müßten, um sich eures Depots zu bemächtigen.“

„Die Bewachung ist an und für sich nicht schlecht organisiert“, erwiderte der Major. „Leider trinken die Männer zu viel. Aus Langeweile und Ausweglosigkeit. Die beste Strategie für einen Angreifer bestünde darin, eine Inspektion vorzutäuschen, etwa unter dem Vorwand, sie wollten kontrollieren, ob die Wache ihre Pflicht tut. Sie berufen unsere Wachposten ab, ersetzen sie durch ihre eigenen Leute, und die tun dann, was sie wollen. Anschließend geben sie Fersengeld. Allerdings tun sie gut daran, sich möglichst weit zu entfernen, denn wenn es bei uns wirklich kracht, bleibt im Umkreis von hundert Kilometern keine Maus mehr am Leben.“

„Dann empfiehlt es sich also, nicht wegzugehen oder wegzufahren, sondern wegzufliegen. Kann ein Hubschrauber innerhalb des Depots landen?“

„Ja, es gibt dafür ein Feld.“

„Und können sie sofort aus dem Hubschrauber aussteigen?“

„Wenn sie im Rahmen einer Inspektion kommen, dann am besten durch das Eingangstor. Der Landeplatz für Hubschrauber liegt in der Mitte des Territoriums. Das bedeutet viel Lärm und viel Aufsehen. Und wenn sie zufällig eines der Gebäude beschädigen, wo das Material gelagert wird, gehen sie gemeinsam mit uns drauf.“

„Nächste Frage: Müssen sie das Eingangstor zu Fuß durchschreiten, oder können sie es im Auto durchfahren? Erwecken ein paar zusätzliche Autos bei euch keinen Verdacht? Diese bleiben ja zurück, während die Männer abfliegen.“

„Der Henker weiß, was dann noch bei uns zurückbleibt. Doch selbst wenn sie alle ihre Autos zurücklassen, können wir diese ohne weiteres im Depot unterbringen. Bei uns fehlt es sowieso ständig an Fahrzeugen.“

„Also ist eine unangemeldete Inspektion das wahrscheinlichste Szenarium. Die Angreifer betreten das Depot, setzen die Wachposten im Vorraum außer Gefecht, öffnen das Einfahrtstor und lassen die Autos mit ihren Komplizen herein, worauf diese das ganze Personal niedermachen. Dann inszenieren sie irgendeinen Trick, um den Verdacht auf uns zu lenken, legen Minen mit Zeitzündern und verlassen das Depot mit Helikoptern. Aber sagen Sie, können Sie sich auch ein anderes Szenarium vorstellen?“

„Sie könnten beispielsweise die Absperrung durchbrechen, die Wachposten vor dem Depot ausschalten und dann in dieses eindringen. Die erste Variante wäre jedoch sehr viel einfacher.“

„Einverstanden. Aber nehmen wir mal an, sie kommen nicht per Auto, sondern zu Fuß, massieren sich im Eingangsraum...“

„Jetzt erinnere ich mich! Ich habe Sie am Fernsehen gesehen!“ unterbrach ihn der Major jäh. „Sie waren es doch, die...“ Er sprach den Satz nicht zu Ende.

„Wer denn sonst? Wer interessiert sich denn für Sie, Major, und für Ihre Fähnriche und Soldaten; wer interessiert sich schon für die Menschen, die bei diesem schmutzigen Spiel ins Gras beißen müssen. Anscheinend ist es euch ja selbst egal, ob ihr demnächst im Dunst eurer eigenen Gifte krepiert oder von Killern abgestochen werdet wie die Hammel.“

Der Gesichtsausdruck des Majors veränderte sich unversehens. Vor Tschugunow stand plötzlich kein Staatsbeamter mit vom ständigen Alkoholgenuß aufgedunsenem Gesicht mehr, sondern ein Intellektueller, der einst an einer Akademie Fächer wie Biochemie, Pharmazeutik und Meteorologie studiert hatte und seinen Gesprächspartner jetzt aufmerksam anblickte. Es schien, als habe er die Erbärmlichkeit und Sinnlosigkeit seines Lebens als Chef eines Giftgasdepots mit einem Schlag begriffen und plötzlich eingesehen, daß er in Wirklichkeit für etwas ganz anderes bestimmt war, sich jedoch bisher nie Gedanken darüber gemacht hatte, wofür.

„Geben Sie es doch zu, Professor, ihr seid auch keine Engel. Ihr führt einen regelrechten Krieg. Ihr inszeniert ungeheuerliche Provokationen. Ihr seid alles andere als ein wohltätiger Verein.“

„Erstens haben nicht wir damit angefangen. Wäre dies alles denn nötig gewesen, wenn man die Wahlen nicht gefälscht und eine anständige Politik betrieben hätte, wenn bei uns Leute in der Regierung säßen, die ja keine Engel zu sein brauchten, aber wenigstens nicht so ungeniert auf das Volk und seine Interessen pfeifen, ihre eigenen Landsleute nicht bei inszenierten Terrorakten in die Luft sprengen und keine endlosen Kriege im Kaukasus anzetteln würden, die in einem Rußland, das diesen Namen verdient, einem russischen Rußland, kein Mensch braucht. Und so weiter.

Sie haben also angefangen, nicht wir. Aber das ist noch längst nicht alles. Ganz Rußland hat ungeduldig darauf gewartet, daß wir oder Menschen wie wir erscheinen und dafür sorgen, daß die da oben nicht mehr ungestraft tun können, was sie wollen.

Zweitens: Wenn Sie nicht nur die Gesamtlage, sondern gewisse konkrete Ereignisse genauer unter die Lupe nehmen, wird es Ihnen zwangsläufig klar, daß ausnahmslos jeder neue Konflikt von der Gegenseite provoziert worden ist. Sie lassen uns einfach keine andere Wahl, als mit unseren Mitteln darauf zu reagieren. Welche Möglichkeiten stehen uns eigentlich noch offen? Sollen wir alles beim alten lassen?“

„Mit diesem Tonband könnt ihr doch eine gewaltige Medienkampagne inszenieren.“

„Dann lassen sie euer Depot in der Tat in Ruhe und hecken dafür eine andere Teufelei aus. Apropos Medienkampagnen: Haben die Machthaber nicht immer wieder unter Beweis gestellt, daß sie sich keinen Deut um die öffentliche Meinung scheren? Sicher, eine Medienkampagne braucht es schon, aber eine so massive, daß das Regime sie nicht überleben kann.“

„Ihr könnt mich als euren Bundesgenossen betrachten“, sagte der Major. „Ich versichere euch, daß denen nichts besonders Originelles einfallen wird. Der beste Beweis dafür, daß ihr auf dem richtigen Weg seid, wäre tatsächlich eine solche Inspektion. Wenn keine solche auftaucht, hat man euch wahrscheinlich einen Bären aufgebunden, oder man hat euch hierhergelockt, um euch in diesen Wäldern kaltzumachen.“

Tschugunow warf Jura einen Blick zu, aber dieser schwieg eisern weiter.

„Sehr gut, Major, wir warten drei Tage ab. Wenn man uns bis dann keine Inspektion ankündigt und keine solche unangemeldet auftaucht, fahren wir weg.“

„Und wenn sich die Inspektoren am vierten Tag einstellen?“ wandte der Major besorgt ein.

„Aha, Sie glauben mir also“, sagte Tschugunow in feierlichem Ton. „Dann tun wir gut daran, uns ein wenig genauer über die Modalitäten unserer Zusammenarbeit zu unterhalten. Wir kümmern uns das, was außerhalb des Depots geschieht, und ihr sorgt dafür, daß die Inspektoren rechtzeitig gestoppt werden. Wahrscheinlich ist es nicht nötig, daß wir uns in eure Arbeit innerhalb des Depots einmischen. Sonst geraten wir und Ihre Leute einander noch in die Haare.“

„Und die Hubschrauber?“

„Die schießen wir ohne Vorwarnung noch im Anflug ab.“

„Was meinst du, war dieses Tonband ein Ablenkungsmanöver?“ fragte Tschugunow Jura auf dem Rückweg.

„Ich glaube nicht. Aber wir müssen uns dezentralisieren und Verstärkung anfragen. Und du, Petrowitsch, fliegst jetzt ab. Jedem das Seine. Diese Sache fällt in unseren Kompetenzbereich.“

Tschugunow versuchte zu widersprechen, aber Jura schnitt ihm das Wort ab:

„Du hast auch so schon viel getan, und es war richtig, daß du mich hinzugezogen hast. Ohne uns hätte Siegfried hier vermutlich eine Belagerung inszeniert, und es hätte eine riesige Schießerei gegeben, die uns mehr geschadet als genützt hätte.“

„Urteile nicht so streng über ihn.“

„Nein, Petrowitsch, man muß streng sein! Für solche begriffsstutzigen Menschen ist das doch ein Segen. Und du fährst jetzt schleunigst weg, oder besser noch, du fliegst weg.“

Daraus wurde jedoch nichts, weil ihnen der Major noch am gleichen Abend mitteilte, daß eine außerplanmäßige Inspektion angekündigt worden sei.

Sie rechneten schon am folgenden Morgen mit einem Angriff, doch nichts dergleichen geschah. Die Inspektoren verwendeten einen vollen Tag auf die Untersuchung der Anlage und des Kampfstofflagers, und im Dorf bekamen einige der ärmeren Bewohner Besuch von entfernten Verwandten. Diese waren drei an der Zahl.

Die Lage spitzte sich rasch zu. Den Fähnrich hatten sie nicht ins Depot zurückgelassen; er saß immer noch bei Siegfrieds Verwandten im Bad, wo man dafür sorgte, daß ihm der Vodka nie ausging.

Es war klar, daß es sich bei den drei Besuchern um Kundschafter handelte, die sofort Alarm geben würden, wenn sich in dem Weiler Unbekannte blicken ließen. Oder wollten sie bloß an Ort und Stelle etwas auskundschaften?

Was tun?

Die Lösung ergab sich von selbst. Einer der Neuankömmlinge versuchte mit Siegfrieds Cousine anzubändeln, in deren Haus sich Siegfried und Jura niedergelassen hatten.

Siegfrieds Cousine, Vera, war eine große, attraktive Blondine mit grauen Augen. Gewiß, ihr entbehrungsreiches und unruhiges Leben war nicht spurlos an ihr vorbeigegangen, doch mit ihren zweiunddreißig Jahren sah sie trotzdem noch sehr gut aus. Da war es kein Wunder, daß der Fremde ein Auge auf sie warf und sich selbst zu ihr einlud. Die logische Folge war, daß es vor dem Eingangstor zum Haus zu einem kleinen Handgemenge kam.

Zu Siegfrieds Überraschung erwies sich der Fremde als erstklassiger Boxer und Ringer. Doch zu seinem Pech hatte er es nicht nur mit Siegfried zu tun, sondern noch mit nicht weniger als fünf weiteren „zufälligen Bekannten“, die aus dem Nichts aufgetaucht waren, oder genauer gesagt aus dem Schuppen, dem Bad und dem Nachbarhof.

Der knochenharte Drill im karpatischen Lager trug jetzt seine Früchte, ganz abgesehen davon, daß die erste Gruppe von Auszubildenden ohnehin nicht aus Anfängern bestanden hatte. Mit Siegfried allein wäre der Bursche von der Elitetruppe Speznas vermutlich schon fertiggeworden, nicht jedoch mit seinen fünf Kollegen.

„Singst du oder singst du nicht?“, fragte Winnie Pooh den nach allen Regeln der Kunst gefesselten Möchtegern-Casanova in liebenswürdigem Ton. „Warum hast du versucht, dich an eine so berühmte Frau heranzumachen? Oder wolltest du einfach herausfinden, wer hier wohnt? Wenn ja, was ist daran so interessant? Raus mit der Sprache und spiele ja nicht den Dummen! Was habt ihr bisher herausgefunden, und habt ihr ihr den Hauptharst eures Kommandos angewiesen, die Aktion abzublasen?“

Der Gefangene wollte ihm weismachen, er sei nur auf ein Liebesabenteuer mit Vera ausgewesen, aber Siegfried unterbrach ihn grob: „Versuche bloß nicht, dich als Frauenheld aufzuspielen!“ Der Mann sah ein, daß man ihm diese Ausrede nicht abnahm, und schwieg mürrisch.

„Na schön, du willst also nicht antworten. Wir werden selbst in dieser gottverlassenen Einöde keine asiatischen, barbarischen Mittel anwenden; es geht auch anders.“

In weiser Voraussicht hatte Jura ein paar Ampullen mitgebracht, die er von Guillaume erhalten hatte. Sie enthielten völlig neue Substanzen, die bisher noch keinem Geheimdienst der Welt zur Verfügung standen. Nachdem man ihm eine kräftige Dose dieses Wahrheits-Elixiers eingespritzt hatte, sagte der Gefangene aus, bisher hätten er und seine Begleiter kein Signal zum Abblasen der Operation gegeben. Sie hätten lediglich beschlossen, sich alle verdächtigen Personen etwas genauer anzusehen. Der ranghöchste der drei stand per Funktelefon in Verbindung mit dem Rest des Kommandos.

Wann genau das nächste Funksignal fällig war, wußte er nicht, doch jedenfalls frühestens in drei oder vier Stunden. Bis dann würde es Abend sein. Sie rechneten nicht mit unvorhergesehenen Zwischenfällen, und wenn sie die Aktion heute nicht abbliesen, würde diese am folgenden Morgen stattfinden.

Abermals standen sie vor der Frage: Was tun? Sollten sie die beiden anderen in Gewahrsam nehmen und den Funker zwingen, zu melden, daß die Luft rein sei? Dies war im Prinzip möglich, doch bestand die Gefahr, daß er nicht das funkte, was sie wollten. Sie mußten sich also wohl oder übel etwas Originelleres einfallen lassen.

War ihr Gefangener über den Plan im Bild? Nur in großen Zügen. Sobald sie gefunkt hatten, daß im Dorf alles in Ordnung war, sollten sie sich schleunigst aus dem Staub machen.

Wie es kam, daß Vera plötzlich in dem Bad auftauchte, wo sie den Gefangenen verhörten, konnte später keiner von ihnen mehr erklären. Doch als er ihre Stimme hörte, fiel Jura vor Empörung fast von der Bank.

„Kinder, können wir den für vierundzwanzig Stunden hier einschließen?“ fragte sie.

„Was zum Teufel hast du denn hier zu suchen?“ herrschte Jura sie an. „Siegfried, du bist kein Deutscher, sondern ein asiatischer Landstreicher! Was soll den Vera hier? Und wo ist die Wache? Die hält wohl Maulaffen feil.“

„Gehört sie etwa nicht zu uns, Jura?“ fragte einer der Wächter. „Wir dachten, ihr hättet sie hierherbestellt.“

„Ich glaube allmählich auch an deine Götter, Petrowitsch“, sagte Jura. „Wenn wir mit solchen Dilettanten zusammenarbeiten, kann uns nur ein Wunder vor einem völligen Fiasko bewahren.“

„Hör endlich zu, was eine Dame zu sagen hat“, mengte sich Vera ins Gespräch. „Anscheinend gibt es unter euch nur einen einzigen, der ein Mindestmaß an Erziehung genossen hat.“ Bei diesen Worten sah sie Tschugunow an.

„Sie hat recht, Jura. Hören wir ihr also zu“, beschwichtigte Pjotr seinen Kameraden.

„Na gut.“

„Ich wiederhole meine Frage: Können wir ihn für vierundzwanzig Stunden hier einsperren, ja oder nein?“

„Meinetwegen“, antwortete Jura mürrisch.

„Dann spritzt ihm eine genügend starke Dosis ein und füllt ihn vorher noch mit meinem billigen Fusel ab. Sigi und ich führen ihn ins Haus, damit es so aussieht, als habe er sich dort voll laufen lassen und sei stockbesoffen. Anschließend laden wir die beiden anderen zu uns ein, nachdem wir selbst einiges getrunken haben. Wer freiwillig an sie herantritt, kann doch keine bösen Absichten haben, werden sie denken.“

„Ein hochklassiger Profi könnte gerade darum Verdacht schöpfen“, meinte Jura nachdenklich. „Aber diese Halsabschneider sind wahrscheinlich keine hochklassigen Profis.“

„Komm, Brüderchen“, sagte Vera zu Siegfried.

Die beiden Speznas-Männer waren in der Tat mit nur durchschnittlichen Geistesgaben gesegnet, und außerdem gebot ihnen der Selbsterhaltungstrieb, diesen Ort, der schon am nächsten Tag eine vergiftete Wüste sein würde, so schnell wie möglich zu verlassen. Sie schluckten Veras Geschichte ohne weiteres, tranken ein wenig, verabschiedeten sich von Vera und Siegfried, meldeten ihrer Einheit per Funk, daß im Dorf alles in Ordnung war, und verzogen sich dann gemeinsam mit ihrem immer noch sinnlos betrunkenen Kollegen.

Hatten sie schlicht und einfach einen Fehler gemacht? Handelte es sich um reine Schlamperei oder vielleicht um verdeckte Fahnenflucht? fragte sich Tschugunow. Er wußte es nicht. Doch das Imperium war schon längst verfault und konnte seinen Widersachern nur noch Fäulnis entgegenstellen.

Der frühe Julimorgen war einfach wunderbar. Im Wald stand ein leichter Dunst; der berauschende Duft der Kräuter und der harzigen Föhren stach in die Nüstern. „Großer Gott“, dachte Pjotr, „neben allem anderen verteidigen wir ja auch diese Schönheit, dieses Wunder der Schöpfung, das ohne uns in einer ungeheueren Giftwolke zugrunde ginge, damit eine Bande von Parasiten, die nie etwas Gescheites geleistet haben, leben kann wie die Fürsten. Aber zu Fürsten fehlt diesen Lumpenhunden das Zeug.“

In der Ferne erdröhnten die Motoren mehrerer Lastwagen.

„Bereitet euch vor“, befahl Jura.

Sie nahmen sich nicht die Mühe, ihre Taktik gegenüber dem Handstreich in Baschkirien groß zu ändern. Genau wie damals verminten sie die Landstrasse und die Straßengräben. Der einzige Unterschied bestand darin, daß sie diesmal statt Maschinengewehre Maschinenpistolen verwendeten und außerdem fünf Gefangene machten.

Das Geheul von Hubschraubern erfüllte den leicht abfallenden Talkessel, in dem das Depot lag. Entweder hatte den Angreifern die Zeit gefehlt, diese zu warnen, oder sie hatten zum Starten keiner Bestätigung bedurft – jedenfalls flogen vier Hubschrauber auf das Depot zu. Dort wartete man auf sie und schoß sie während des Anflugs mit tragbaren Luftabwehrraketen ab.

Als er die Wracks am Boden liegen sah, wunderte sich Tschugunow, daß es keine Transport-, sondern Kampfhubschrauber waren. Auch begriff er zunächst nicht, warum der Feind zur Evakuierung der Angreifer nur vier solcher Hubschrauber entsandt hatte. Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Sie waren nicht gekommen, um die Angreifer zu evakuieren, sondern um sie zu vernichten!

„Sperrt eure Augen auf, ihr Schwachköpfe“, sagte Tschugunow vor den Hubschrauberwracks zu den Gefangenen. „Glaubt ihr wirklich, die seien gekommen, um euch von hier wegzubringen? Sie sind gekommen, um euch abzuschlachten. Sobald ihr euch auf dem Landeplatz versammelt hättet, hätten sie euch niedergemäht. So, und nun entscheidet selbst, wie ihr euch künftig betragen wollt.“

Der Major setzte sich per Funk mit Jura in Verbindung. „Bitte kommen Sie zum Kontrollposten.“

„Wir kommen“, antwortete Jura.

In Begleitung einiger Männer trat der Major durch das Eingangstor. „Gratuliere zum Sieg.“

„Wie seid ihr mit denen fertiggeworden?“

„Mit Ach und Krach. Wir haben mehr als zehn Tote zu beklagen.“

„Und wie viele Inspektoren waren es?“

„Neun.“

„Nun können Sie sich vorstellen, wie mühelos sie ins Depot eingedrungen wären, wenn ihr nicht gewarnt gewesen wäret.“

„Das kann ich mir in der Tat vorstellen. Aber darum geht es mir im Moment nicht. Wenn ich euch richtig einschätze, seid ihr Kerle, die um zwei Schritt vorausdenken können.“

„Ja und?“

„Es reicht nicht, daß ihr diese Provokation verhindert habt. Ihr müßt euch auch in einem möglichst günstigen Licht darstellen und eure Feinde als Versager entlarven.“

„Worauf wollen Sie hinaus, Major?“

„Ihr habt doch sicher eine Kamera?“ Ohne die Antwort abzuwarten, fuhr er fort: „Filmt meine Erklärung und die einiger meiner Untergebenen.“

„Das tun wir am besten gleich jetzt.“

Jura machte eine Gebärde, und aus dem Hintergrund trat ein Kameramann hervor.

„Vergeßt mir ja nicht, die Hubschrauber zu filmen“, mahnte Tschugunow.

„Keine Sorge. Siegfried!“

„Hier!“

„Nimm Petrowitsch unter deine Fittiche und sorge dafür, daß er schleunigst von hier wegkommt.“

„Aber Jura, die Aktion hier ist doch abgeschlossen!“ protestierte Tschugunow.

„Hier ist noch gar nichts abgeschlossen, Herr Oberpriester. Das sage ich dir als Profi.“

Kapitel 24. Das Opfer

Alle Medien der Welt berichteten in großer Aufmachung über den Versuch, bei Starowotkinsk eine ungeheure ökologische Katastrophe auszulösen.

Es wurde stündlich klarer, daß das gegenwärtige Regime in Rußland nicht nur keine Chance bei den Wahlen hatte, sondern sich nur mit Mühe und Not bis zu diesen würde behaupten können. Der Präsident sah sich gezwungen, sämtliche Personen, die bei dem geplanten Terrorakt in Starowotkinsk die Finger im Spiel gehabt hatten, zu entlassen und Ermittlungen gegen sie anzuordnen. So gut wie alle potentiellen Organisatoren künftiger konterrevolutionärer Machenschaften wurden aus ihren Stellungen entfernt.

Dem obersten Boss im Kreml war es sichtlich egal, wie dieser Spuk enden würde. Er machte längst kein Hehl mehr daraus, daß er bereit war, abzutreten und sämtliche Bedingungen der Wahlsieger zu erfüllen. Praktisch alle politischen Kräfte stellten ihm in Aussicht, daß man ihn in Ruhe lassen und ihm eine sorglose Zukunft garantieren werde. Keine solchen Versprechungen wurden freilich seinen „besonders enthusiastischen Anhängern“ von gestern gemacht, die nun über Nacht zu Kriminellen abgestempelt waren, welche einen Staatsstreich und Verbrechen gegen die Menschlichkeit geplant hatten.

Den Präsidenten ließ es bereits herzlich gleichgültig, welcher Art die bevorstehende Revolution sein würde: Eine samtene, eine orangenrote oder eine grau-braun-himbeerfarbene. In der Duma herrschte Ratlosigkeit. Die meisten Abgeordneten hatten sich als Anhänger des Präsidenten bezeichnet und waren nun mit ihrem Latein am Ende. Die einzige Frage, welche die Analytiker noch beschäftigte, war die, welche der in der Duma vertretenen Fraktionen es noch schaffen würden, beizeiten ins Lager der sicheren Wahlsieger – der Neuheiden – überzugehen. Wer dies nicht fertigbringen würde, besaß bei den Wahlen nicht den Hauch einer Chance, denn den Volksumfragen zufolge bekannten sich mittlerweile 65% der Bevölkerung zum Glauben an Swarog, Weles, Perun und Lada.

Infolge dieser Entwicklungen schied eine der Parteien, die den sogenannten „Patriotischen Block“ bildeten, aus diesem aus, gründete in der Duma ihre eigene kleine Fraktion und bekannte sich zum Bündnis mit den Neuheiden, was praktisch bereits Gewähr für ihren Sieg bot. Immerhin waren die „Vertreter des Götterwillens“, welche die Wahlfälscher gezüchtigt und Rußland vor einer gigantischen ökologischen Katastrophe bewahrt hatten, längst die Lieblinge der Jugend und darüber hinaus auch konsequente Verfechter des Volkswillens, Interessenvertreter des mittleren und kleinen Gewerbes sowie der regionalen Eliten. Zu guter Letzt zeigte es sich, daß die Beziehungen der Neuheiden zum Westen – und paradoxerweise auch zu den Muslimen – so schlecht nicht waren.

Man betrachtete Tschugunow und seine engsten Mitstreiter bereits als die künftigen Machthaber, und Pjotr kehrte nach Moskau zurück, ohne sich übermäßige Sorgen um seine Sicherheit zu machen. Mit der Regelung der politischen Angelegenheiten beauftragte er Vasilij und Ljocha Nikolski. Diesen standen Jura und Siegfried nach Kräften zur Seite, doch war die Position dieser beiden Männer zwiespältig: Einerseits waren sie Wohltäter der Gesellschaft, andererseits konnte man sie auch als Kriminelle einstufen, denn jeder der bei den Aktionen um Starowotkinsk Getötete konnte als ihr Opfer gedeutet werden, wenn man das Gesetz entsprechend auslegte.

Formell gesehen befand sich Tschugunow in einer ganz ähnlichen Lage, auch wenn er vom Standpunkt des Gesetzes aus natürlich weniger auf dem Kerbholz hatte als Siegfried. Aber um Formalitäten scherten sich damals die wenigsten. In der Augustluft schwebte ein frühlingshafter Enthusiasmus. „Ein Widerspruch zu den Naturgesetzen“, dachte sich Pjotr und wählte die Nummer seiner Geliebten.

„Tigerchen?“

Sie schwieg zunächst, sagte dann aber mit zitternder Stimme:

„Hast du mich vielleicht verzaubert? Als ich deine Stimme hörte, kamen mir gleich die Tränen. Ist das etwa normal?“

„Immerhin bin ich ja Hohepriester, und du bist meine Feuerfee. Also ist es ganz normal.“

„Ein Dummerjan bist du und kein Hohepriester.“

„Na gut. Sehen wir uns heute.“

„Kommst du denn heute in der Stadt?“

„Ja, ich komme heute“, sagte er, wobei er die Mundart ihrer Stadt nachäffte.

„Du sprichst ja schon wie einer von uns. Ruf mich wieder an, wenn du da bist.

In jener Nacht liebten sie einander mit sogar für sie ungewöhnlicher Zärtlichkeit und Leidenschaft. Als sie vom Liebesspiel gänzlich erschöpft waren, fuhr er fort, ihre reinen, fast kindhaft seidenen Schenkel mit unermüdlicher Zärtlichkeit zu liebkosen. Wie ein Kätzchen schnurrend, schmiegte sie sich eng und enger an ihn, als wolle sie für immer mit ihm verschmelzen.

Am Morgen übergab er ihr ein umfangreiches Paket.

„Was ist denn da drin?“ fragte sie.

„Ein wenig Geld, aber auch Dokumente für den Erwerb eines Hauses und eines Autos sowie ein notariell beglaubigtes Testament. Ich hinterlasse dir alles, was ich besitze, auch das Recht, meine Bücher herauszugeben.“

„Nun sag mal, bist du eigentlich wahnsinnig geworden? Was für ein Testament? Ich verbiete dir, an den Tod zu denken. Was soll denn das alles so plötzlich? Du Dummerjan, du Dummerjan, du Dummerjan.“ Nach einer Pause fuhr sie fort: „Am liebsten würde ich dich in Stücke reißen, aber wie soll ich ohne dich weiterleben? Lebe, kämpfe, siege, liebe diese Welt. Meine Haut ist noch warm von deinen Liebkosungen. Ich liebe dich. Du bist ein Hauch frischer Luft, ohne den ich nicht leben kann. Du bist mein Herzesleid, mein unerfüllbarer Traum. Du bist das Beste, was ich habe. Ich liebe dich. Ich liebe dich, ich liebe dich“, wiederholte sie immer wieder wie im Fiebertraum.

„Aber mein Tigerchen, es ist ja nur für alle Fälle“, wehrte er ab und streichelte ihr zärtlich über das Haar, wobei seine Finger durch ihre kurzen, unbezähmbaren Locken glitten. „Du weißt doch, wir leben jetzt in schwierigen Zeiten.“

„Du Dummerjan, wie dumm du doch bist. Was heißt denn ‚schwierige Zeiten’? Wir hatten es früher noch schwerer. Du hast ja schon fast gewonnen – das heißt, wir haben schon fast gewonnen.“

„Fast heißt noch nicht endgültig.“

„Verdrehe mir nicht das Wort im Mund! Was hast du dir dabei eigentlich gedacht?“

„Eigentlich nichts Besonderes, mein Tigerchen. Ich habe nur eine notwendige Vorsichtsmaßnahme getroffen. Immerhin war ich im früheren Leben ja Deutscher.“

„Ein Dummerjan warst du, und ein Dummerjan bist du geblieben. Komm zu mir. Zum Teufel mit diesem Frühstück.“

Er saß ganz allein in einem leeren Wagen des Stadtzugs. Im Grunde genommen war das schon merkwürdig. In seiner Situation hätte sich jeder andere ausschließlich in einer Limousine mit Leibwächtern und einer ganzen Kolonne von Begleitfahrzeugen fortbewegt, in denen Heerscharen von Gorillas gesessen hätten. Hatte er vergessen, daß er in einem halbasiatischen Lande lebte? Wie ihm Guillaume erzählt hatte, spazierten Fürst De Croix und Lord Bruce zu zweit an leeren Stränden, wobei sie sich über den Sinn des Lebens oder den Aufbau der Welt unterhielten. Aber nicht nur darüber. Sprachen sie nicht auch über grandiose politische Ränkespiele, welche die Welt auf den Kopf stellen konnten – nein, bereits jetzt auf den Kopf stellten? Und doch kamen sie ohne eine Kohorte von Leibwächtern aus.

Warum durfte er eigentlich nicht leben wie sie? In jeder Hinsicht. Angefangen beim Bewußtsein seiner menschlichen Würde und bis hin zu seinem Recht auf Einsamkeit.

„Hältst du dich eigentlich für unsterblich?“ schwirrte es ihm durch den Kopf.

„Ich halte mich nicht nur für unsterblich, sondern ich weiß, daß ich es bin. Meine Seele ist unsterblich und wird immer wieder in diese Welt zurückkehren. Sie wird jedesmal neues Wissen erwerben und dann bei Stammvater Swarog ausruhen.“

„Das werden wir ja noch sehen.“

„Ach laß mich doch endlich in Ruhe!“

Kapitel 25. Die Ehrenschuld des Ariers

Nichts hatte auf die Katastrophe hingedeutet. Die Tigerin arbeitete mit Feuereifer in einer Abteilung des Kinderkrankenhauses, das sie schon seit längerem verwaltete. Sie hatte alle ihre Aufgaben rechtzeitig erledigt und einen Haufen Probleme gelöst, ohne dabei irgend jemandem zu nahe zu treten oder irgendeinen ihrer Kollegen zu beleidigen. Wie hatte sie das fertiggebracht? Ganz einfach, hätte ein Weiser gesagt: Sie war eben eine gottbegnadete Ärztin, die ihren Beruf abgöttisch liebte. Allerdings liebte sie noch vieles andere im Leben, und das Leben belohnte sie dafür.

Und nun, wo sie schon über vierzig war, hatte das Leben ihr eine Liebe gesandt, von der man nur träumen konnte.

Als sie sich für einen kurzen Augenblick ins Sprechzimmer begab, lief gerade das Radio. Plötzlich hörte sie klar und deutlich seinen Familiennamen. „Der Hohepriester Swarogs, Vorsitzender des Verbandes russischer Ingenieure, Professor Tschugunow.“ Was war mit ihm? Was für eine Explosion? Was für ein Terrorakt? Oder war es ein Unfall gewesen? Oder ein Putsch? Hatte der Feind zum Gegenschlag ausgeholt?

Mit einem Schlag verstand sie ihre Muttersprache nicht mehr. Die Beine sanken ihr weg, und sie ließ sich auf einen Stuhl fallen.

In diesem Moment schrillte das Handy.

„Elena Petrowna?“ ertönte die wohlbekannte Stimme eines jungen Tschugunow-Mitarbeiters, eines der „Jungens“, wie er sie nannte.

„Stimmt es, Ljoscha?“ fragte sie, ohne genau zu wissen, was „es“ bedeutete.

„Ja, Elena Petrowna.“

Der Hörer fiel auf den Tisch.

„Elena Petrowna, Elena Petrowna, hören Sie mich?“ brüllte das Handy auf dem Tisch.

„Ja, ich höre Sie.“

„Elena Petrowna, viele unserer Leute sind umgekommen.“

Er stand noch vollkommen unter dem Eindruck der furchtbaren Geschehnisse und war sich gar nicht bewußt, wie entsetzlich das, was er vor ein paar Sekunden gesagt hatte, für sie sein mußte. Es war eben Krieg, und da hieß es an die Überlebenden denken.

„Wir brauchen Ihre Hilfe“, fuhr er fort. „Erstens auf medizinischem Gebiet, und zweitens, um ein paar unserer Leute zu verstecken.“

Sie war eine gottbegnadete Ärztin, und Gott verlieh ihr übermenschliche Kraft. Sie nahm sich zusammen, denn schließlich galt es Freunden zu helfen,

 jungen Burschen, welche die ungeheure Last des Kampfes für das Lichte Russenland auf ihre fast noch kindlich zarten Schultern genommen hatten.

„Natürlich, Ljoscha. Was muß ich tun?“

Erst jetzt begriff er, was für ein Keulenschlag seine Bestätigung, daß Tschugunow tot war, für sie gewesen mußte.

„Verzeihen Sie mir, Elena Petrowna. Verzeihen Sie mir meine Taktlosigkeit, wenn Sie dazu imstande sind. Aber...“

“Schon gut, Ljoscha. Kommen wir möglichst rasch zur Sache, solange ich noch fähig bin, mit dir zu sprechen“, sagte sie, wobei sie den Klumpen in ihrem Hals herunterwürgte.

Die Männer von der Gegenseite hatten die letzte Schlacht mit einem Paukenschlag eröffnet. Sie kämpften mit schmutzigen, hinterlistigen, feigen Mitteln. Drei Tage lang war Moskau voll und ganz in ihrer Gewalt. Sie pfiffen auf die Legitimität. Wenn das Gesetz nicht auf ihrer Seite war, dann eben zum Teufel mit dem Gesetz! Anhänger des Gesetzes waren sie nur, solange dieses auf ihrer Seite war. Und nun wollten sie jedermann vor Augen führen, daß das Gesetz immer auf Seiten des Stärkeren ist.

Unter Einsatz aller ihnen zur Verfügung stehenden Einheiten in Gesamtstärke von fünf Divisionen bemächtigten sie sich der Hauptstadt. Eine Gruppe von Generalen des Innenministeriums sowie der Armee gab bekannt, daß sie die Macht ergriffen hatte.

Doch die Saat der Ehre und Würde war in den Seelen vieler Menschen aufgegangen. Die Provinz weigerte sich, die neuen Machthaber anzuerkennen, und nach mehrtägigen Scharmützeln rüstete sie sich zum Sturm auf die von den Putschisten besetzte Hauptstadt. Es war keine Kraftdemonstration, sondern ein Kampf bis aufs Messer. Unter Bannern mit dem Swarog-Quadrat marschierten die Feinde der Putschisten in Kolonnen auf Moskau zu. Noch ein Jahr zuvor wäre dies undenkbar gewesen, doch mittlerweile besaß das Volk eine Widerstandsorganisation in Gestalt der neuen religiösen Organisation, die als Regierung und Armee zugleich fungierte. Eine moralische Autorität war sie ohnehin schon seit langem.

Die Usurpatoren wurden nervös. Sie hatten nicht mit Widerstand gerechnet.

Die Angreifer nahmen die Hauptstadt in die Zange. Wie sollte man diese Krieger nennen? Aufständische? Aber sie bekämpften keine legitime Regierung, sondern Putschisten. Verteidiger der Verfassung? Aber welcher? Etwa jener, die dem Volk aufgenötigt worden war, ohne daß man es je nach seiner Meinung gefragt hätte?

Nein, sie kämpften nicht für einen Fetzen Papier, das von Schurken, Feiglingen und Dummköpfen geschrieben worden war, sondern für die grundlegendsten aller Wertvorstellungen – Ehre, Würde, Freiheit.

„Stellen wir unsere Infraschallgeräte hier auf“, befahl der junge General mit dem Swarog-Quadrat über der linken Uniformwestentasche und markierte mit seinem Bleistift einen Punkt auf der Karte. „Auf welche Entfernung wirken die Dinger?“

„Sprechen Sie von einem tödlichen Effekt?“

„Nein, aber sie müssen den Feind für gewisse Zeit außer Gefecht setzen.“

„Vermutlich so um die dreihundertfünfzig Meter.“

„Dann deckt diese Häuser hier damit ein. Der Feind hat sie zu Widerstandsnestern ausgebaut, und sie hindern uns daran, seine Verteidigungslinie an dieser für uns vorteilhaftesten Stelle zu durchbrechen.“

„Zu Befehl!“ Der Bombenbastler in der altmodischen feldgrauen Uniform eines Oberstleutnants sah so aus, als habe er diese überhaupt nie abgelegt. Vasilij hatte ihn gestern hierauf aufmerksam gemacht, und Volodja hatte vergnügt gelacht. „Diese alte feldgraue Uniform trage ich überhaupt erst zum zweiten Mal im Leben.“

Die Kämpfe dauerten nun schon eine Woche an. Es war klar, daß beide Seiten mit den bisherigen Mitteln nicht weiter kamen und daß sich eine von ihnen anschickte, den Kampf mit einem einzigen, vernichtenden Schlag für sich zu entscheiden.

„Was ist eigentlich mit der Luftwaffe los?“ wollte der Bombenbastler bei ihrer nächtlichen Lagebesprechung wissen.

„Sie wahrt immer noch ihre Neutralität. Dasselbe gilt übrigens für die meisten Angehörigen von Armee und Polizei. Am Kampf beteiligt sind faktisch nur die fünf Divisionen der Gegenseite und die von verschiedenen Fraktionen unterstützen Kolonnen aus den Regionen, die ihrer Mannschaftsstärke nach ungefähr drei Divisionen entsprechen. Aber es fällt uns zunehmend schwer, sie unter Kontrolle zu halten. Schließlich sind sie ja ein ziemlich bunt zusammengewürfelter Haufen.“

„Warum locken wir den Gegner eigentlich nicht hierher?“ Bei diesen Worten zeigte Jura auf einen Fleck auf der Karte. „Schließlich wollen sie einen massiven Schlag gegen unsere Streitkräfte führen. Dann sollen sie das doch bitteschön tun.“

„Und dann?“ fragte ein Oberst.

„Die Frage ist an dich gerichtet, Bombenbastler!“

„Wir haben ein Bömbchen von zwanzig Kilotonnen Sprengkraft.“

„Warum sagen Sie das erst jetzt?“

„Erstens hatten wir gehofft, daß es nicht nötig sein würde. Zweitens können wir nicht sicher sein, daß es klappen wird; wir müssen realistischerweise mit einem Versager rechnen, und in diesem Fall ist das von Jura vorgeschlagene Manöver ungeheuer riskant. Der Feind bricht aus der Stadt aus, greift den Belagerungsring von hinten an und macht Kleinholz aus unseren Freiwilligen.“

„In diesem Fall ist ein solches Risiko gerechtfertigt, zumal wir eure Bombe sowieso nicht in der Stadt einsetzen können und uns ohnehin keine andere Wahl bleibt, als einen massiven Schlag zu führen. Die Lage treibt auf eine Entscheidung zu. Es fragt sich nur, wie wir das Ding an Ort und Stelle schaffen sollen.“

„Wir verfügen über ein paar Flugzeuge halbsportlichen Typs.“

„Können die eine solche Bombe denn tragen?“

„Sie ist nicht so groß. Schließlich schreiben wir nicht mehr das Jahr 1945.“

„Und wer fliegt?“

„Ich“, erwiderte Vasilij.

„Schaffst du es, dich nach dem Abwurf rechtzeitig in Sicherheit zu bringen?“

„Krieg ist Krieg.“

Seine blauen Augen funkelten plötzlich stählern. Immerhin war es zeit seines Lebens sein Traum gewesen, Kampfflieger zu werden.

„Ihr seid wirklich komische Vögel, ihr Amateur-Rebellen.“

„Erstens sind wir keine Rebellen, und zweitens sind wir längst keine Amateure mehr“, bemerkte Siegfried.

In der Ferne dröhnte Kampfeslärm.

„Fünf Minuten vor dem Abwurf drücken Sie auf diesen Knopf“, schärfte der Bombenbastler Vasilij noch einmal ein. „Damit aktivieren Sie die Bombe.“

„Fünf Minuten vor dem Abwurf bedeutet zehn Minuten nach dem Erreichen des Ausgangspunkts. Sie behalten Höhe und Kurs bei. Verirren können Sie sich kaum.“ Alexei waltete als Flugzeugtechniker und als Navigator zugleich. „Dann reißen Sie diesen Hebel hoch, geben sofort Vollgas und steigen auf maximale Höhe. Und wenn die Schockwelle Sie einholt, müssen Sie unbedingt klaren Kopf behalten.“

„Das ist dann schon mein Problem. Weg vom Propeller!“

Er startete fast perfekt und erreichte schon bald eine Höhe von 1200 Metern, worauf er sich davon überzeugte, daß er den Ausgangspunkt erreicht hatte und auf richtigem Kurs lag. Er hätte sich geradezu anstrengen müssen, um einen Fehler zu begehen, denn die Strecke bis zum Ziel war recht kurz. Die leichte Bewölkung hinderte ihn kaum daran, sich an Fixpunkten am Boden zu orientieren, doch periodisch durchstieß er die Wolkendecke, um sich vor möglichen Beobachtern am Boden zu schützen.

Allerdings schenkte der Feind am Boden dem, was sich am Himmel tat, keine besondere Aufmerksamkeit, weil er nicht mit einem Angriff aus dieser Richtung rechnete. Niemand interessierte sich für das kleine Flugzeug, das bald von den Wolken verhüllt wurde und bald wieder aus ihnen hervortauchte.

Oberhalb der Wolkendecke orientierte sich Vasilij mit Hilfe seines Kompasses. Seitdem er sich auf Kampfkurs befand, warf er nur ab und zu einen Blick auf den Boden, um sich zu vergewissern, daß er nicht vom Kurs abgekommen war. Als recht unerfahrener Pilot hätte er dies eigentlich öfter tun müssen, doch vertraute er dem Himmel mehr als der Erde und wollte ihn gewissermaßen in sich aufsaugen. Nach zehn Minuten war er an einem Punkt, wo die Wolken den Boden überhaupt nicht verdeckten.

Er sah, daß er sich über den Kolonnen befand, welche auf Befehl der Junta aus Moskau ausgebrochen waren. Noch fünf Minuten bis zum Abwurf. Kein Zweifel: Der Feind marschierte unter ihm, ein Irrtum war nicht möglich. Er drückte auf den roten Knopf und flog weiter, wobei er sorgsam darauf achtete, Flughöhe und Kurs zu wahren.

Fünf Minuten waren verstrichen. Er riß den Hebel hoch und fühlte, daß das Flugzeug etwas in Schleudern geriet. Ganz offenbar war es leichter geworden.

„Die Bombe ist auf dem Weg nach unten“, dachte Vasilij und steuerte sein Flugzeug mit aller Kraft nach oben.

Das Donnern der Nuklearexplosion erschütterte seine Kabine.

„Ich hab’s getan. Die Bombe ist explodiert. Jetzt sind sie am Ende.“

Es versteht sich von selbst, daß er die Kontrolle über das Flugzeug gänzlich verlor. Dieses taumelte wild hin und her wie ein Papierdrachen. Die Erde befand sich plötzlich nicht unter, sondern über ihm und tauchte eine Sekunde darauf an seiner Seite auf. Doch dann kam es ihm so vor, als falle er nicht, sondern gewinne wieder an Höhe.

In der Tat flog er nach oben. Durch einen Tunnel, aus dem es keinen Rückweg mehr gibt.

„Du bist ja ein Flieger, wie er im Buche steht, mein Enkel.“

Ein alter Mann mit grauen Augen sah ihn liebevoll und zufrieden an.

„Vorwärts, vorwärts!“ schrie Siegfried. Mit gewaltigen Sätzen sprang er in die Höhe und liess seine Maschinenpistole wie eine Keule auf die Köpfe der Feinde niedersausen. Seine Patronen hatte er schon längst verschossen.

Seine Abteilung hatte den Feind fünfunddreißig Kilometer vom Epizentrum der Detonation entfernt angegriffen.

Durch die Kernexplosion demoralisiert, rannten die überlebenden Soldaten der Junta wie Schafe vor Siegfried weg. Die Bombe war eine halbe Stunde vorher explodiert, die tödliche Schockwelle hatte die durch den Belagerungsring gebrochenen Divisionen furchtbar dezimiert, und die Feuerglut hatte jene, die sich nahe beim Epizentrum befanden, in Asche verwandelt. Nun galt es zu verhindern, daß die Überlebenden entkamen. Unter keinen Umständen durfte man ihnen erlauben, nach Moskau zurückzukehren. Deshalb durchschnitten einige Abteilungen der Provinzarmee den Keil, in dem die Truppen der Junta in den Operationsraum vorgestoßen waren – beziehungsweise in den formlosen Haufen, der von dem Keil noch übriggeblieben war.

Diese Offensive in der Zone der Atomexplosion war eine gefährliche Sache, doch Siegfried kannte keine Furcht. Er wußte, daß ihm keine Gefahr drohte. Wie sein legendärer Namensvetter hatte er gewissermaßen in Drachenblut gebadet und war dadurch unverwundbar geworden.

„Gott ist mit uns!“, brüllte Siegfried.

„Gott ist mit uns!“ wiederholten seine Krieger, die gemeinsam mit ihm die zermürbende Ausbildung im Karpatenlager absolviert und den Sieg bei Starowotkinsk errungen hatten. Mit ihren in Tücher gehüllten Gesichtern – ein improvisierter, notdürftiger Schutz gegen die Auswirkungen der Schockwelle – gemahnten sie an Gespenster. Nein, an Engel. An Racheengel.

Als Sinnbilder des Sieges am Himmel erschienen über ihnen die leichten Flugzeuge Ljocha Nikolskis. Unter anderen Umständen wären sie völlig nutzlos gewesen, aber jetzt warfen sie über der demoralisierten Herde der Gendarmen ... alte Betten ab, die beim Aufprall höllisch krachten. Der Himmel schien einzustützen, und den Flüchtenden fiel das Herz in die Hosen. Nach dem Schock der Kernexplosion reichte diese primitive Form der psychologischen Kriegsführung, um die bewaffneten Lakaien der Junta endgültig zu paralysieren und ihren Willen zum Widerstand definitiv zu brechen. Sie rannten wie die Hasen, warfen ihre Waffen weg und verkrochen sich im erstbesten Versteck.

Doch von hinten rückte ihnen Siegfried auf die Fersen, ein Held, der seine heilige Ehrenschuld als Arier beglich. Die Ehrenschuld der Rache.

„Für meine kaputtgemachte Jugend! Für den Professor, für Vasilij, für die wunderschöne Soja, der ein Rindvieh von einem Bullen die Jugend verdorben hat! Für sie alle, für sie alle! Kassiert euren Lohn dafür, daß ihr es gewagt hat, auf den Befehl fettgemästeter Halunken in Streifhosen eure Hände gegen eure Landsleute zu erheben!“

Rasend wie ein Berserker, schwang Siegfried seine Maschinenpistole und schmetterte den Kolben unter dem Rand des Helms gegen den Hals des Mannes, den er eben gestellt hatte. Dieser fiel mit der Nase voran ins Gras, und Siegfried hielt nach dem nächsten Feind Ausschau.

Er war glücklich.

Der Tag des Sieges war gekommen, doch der Tigerin war es nicht zum Feiern zumute; sie empfand Verzweiflung und Müdigkeit. Niemals mehr würde er an ihrer Seite sein! Sie kehrte aus dem Evakuierungslazarett, das nun wieder zum Kreiskrankenhaus wurde, nach Hause zurück und schlief vierundzwanzig Stunden ohne Unterbruch.

Das Leben geriet wieder einigermaßen ins Lot. Doch wie nach jeder gewaltsamen Erschütterung ging es nicht ohne Schwierigkeiten ab. Nun erinnerte sich die Tigerin an das Paket, das ihr Tschugunow überreicht hatte. Sie hatte es damals in den hintersten Winkel des Schranks geworfen, da sie sich abergläubisch davor fürchtete, es zu öffnen. Aber jetzt brauchte sie es, und sie machte es auf.

Auf einer dichten Schicht von Euro-Noten und Papieren lag ein Blatt, auf dem in seiner schwungvollen Handschrift stand:

„Sei nicht traurig, Tigerchen. Das Leben geht weiter. Unsere Aufgabe ist es, das Unmögliche möglich zu machen. Gott der Herr ist unser unfehlbarer Pilot.“

Sie brach in fassungsloses Schluchzen aus. Wie lange sie dann weinte, vermochte sie nicht zu sagen.

Ein Klingeln an der Tür zwang sie zur Rückkehr in die Wirklichkeit. Auf der Schwelle standen Jura, Siegfried, der Bombenbastler und Ljocha Nikolski.

„Guten Tag, Elena Petrowna, wir kommen zu Ihnen auf Besuch“, sagte der Bombenbastler im Namen aller.

„Guten Tag, Kinder. Entschuldigt bitte mein Aussehen.“ Hastig wischte sie sich die Tränen vom Gesicht.

Sie vermieden es taktvoll, ihre verweinten Augen zu bemerken.

„Aber bitte sehr, Sie sehen geradezu fabelhaft aus...“

„Und wo ist Vasilij?“ Sie kannte Tschugunows engste Mitarbeiter alle mit Namen.

Die Besucher schwiegen. Sie begriff im Nu.

„Elena Petrowna...“

„Sehe ich denn so schlecht aus, Siegfried? Früher nanntest du mich doch Lena.“

Sie warf den Kopf in den Nacken und versuchte sogar zu lächeln.

„Entschuldigen Sie, das heißt entschuldige“, stotterte Siegfried.

„Und wo sind Soja und Marina?“ fragte Jura, und man hatte das Gefühl, er lecke sich dabei die Lippen.

Sie lachte plötzlich auf. „Es ist an der Zeit, daß du deine Familie nach Moskau holst, Jura.“

„Das habe ich schon getan. Aber man kann ja das eine tun und das andere nicht lassen.“

Ihr wurde plötzlich sehr viel leichter zumute.

„Siehst du, das Leben geht in der Tat weiter“, schoß es ihr durch den Kopf.

„Jawohl, mein Tölpelchen“, antwortete sie unwillkürlich in Gedanken.

„Nun gut, ihr Jungens, laßt uns feiern. Herzliche Glückwünsche zum Tag des Sieges! Ljocha, geh mal rasch auf den Markt...“

Sie schickte sich an, ihm Geld aus dem Paket zu geben.

„Lena, wir haben doch alles mitgebracht“, sagte der Bombenbastler.

„Prima. Bei mir ist es freilich etwas eng. Versucht es euch trotzdem bequem zu machen.“

„Er wollte, daß du in seiner Wohnung lebst. Das wissen wir alle. Wir gehen jetzt mit dir dahin, damit es dir leichter zumute wird. Los, nur keine Bange“, sagte der Bombenbastler.

„Na gut, meine Jungens, gehen wir.“

Sie feierten fast so ausgelassen wie früher. Als sich alle ausgetobt hatten, stieg sie zur Mansarde hoch. Während ihr die Augen zufielen, ging es ihr durch den Kopf, daß sie mit dem Geld, das er ihr hinterlassen hatte, hier in der Stadt eine große Kinderklinik bauen würde.

Als sie am Morgen erwachte, begriff sie plötzlich, daß sie schwanger war. Sie hatte dies in den vergangenen, stürmischen Tagen einfach nicht bemerkt.

„Du hast bekommen, was du wolltest, Tölpelchen“, murmelte sie. „Ich bin längst kein Mädchen mehr, wie oft habe ich dir das gesagt. Du hast es sicher begriffen. Aber ich werde meiner Verantwortung gerecht werden.“

„Jetzt bist du ja reich und kannst es dir leisten, zum zweiten Mal Mutter zu werden.“

“Ein Dummerjan bist du, Petrowitsch, und dazu noch Professor. An dir ist wirklich Hopfen und Malz verloren.“

„Siehst du, Guillaume? Die Lage in Rußland gerät wieder ins Lot. Einfach Klasse, wie genau wir den Gang der Dinge vorausgesehen haben. Haben wir nicht prophezeit, daß Extremisten aus dem Umkreis des früheren Präsidenten aufs Ganze gehen würden, um das Rad doch noch zurückzudrehen?“

„Ja, ihre Prognosen haben sich bewahrheitet.“

„Nicht ganz. Ehrlich gesagt habe ich nicht zu hoffen gewagt, daß es diesen russischen Idealisten gelingen würde, alle Probleme so geschickt zu lösen und die Welt vor einer Bedrohung dieses Ausmaßes zu bewahren. Und jetzt sind sie an der Macht, und man darf sagen, daß sie deine Freunde sind. Mein Vetter Henry weiß sich vor Begeisterung gar nicht zu fassen. Er hält dich für die zentrale Figur bei diesem Projekt. Und das Ganze hat uns läppische zehn Millionen Euro gekostet! Für ein Projekt dieses Maßstabes eine geradezu kindische Summe.“

Guillaume fletschte die Zähne. „Und welchen Preis haben sie dafür bezahlen müssen?“ schrie die Seele des Fürsten De Croix – eine Seele, die das magische Rußland ein wenig „vergiftet“ hatte. Doch dieses Gift war nicht stärker als der kaum faßbare, goldene Abglanz seiner harten, bleifarbenen Augen. Deshalb antwortete er korrekt:

“Zweifellos haben Sie recht, Milord.“

„Habe ich Sie mit meinen Worten verletzt?“

„Das kommt Ihnen nur so vor. Als Astrophysiker möchte ich Sie übrigens noch darauf aufmerksam machen, daß der Planet Nemesis das Sonnensystem allem Anschein nach demnächst wieder verlassen wird.“

„Diesmal vermutlich für immer“, sagte der Lord und kaute seine Lippen. „Aber was hat das mit der Russischen Föderation zu tun?“

„Gar nichts, Milord. Hingegen hat es sehr wohl etwas mit der Entwicklung im Russenland zu tun. Sie sollten sich fortan der korrekten Terminologie bedienen.“

„Mir scheint, unsere Nachkommen haben zu guter Letzt doch noch eine gemeinsame Sprache gefunden, Brüderchen Thor“, sagte Swarog, „und die Zusammenarbeit klappt ganz hervorragend. Diesmal werden Europa und das Russenland, das Russenland und Europa zusammenspannen, um gemeinsam den Plan des Schöpfers zu verwirklichen. Dies ist ja auch der Grund dafür, daß Menschen geschaffen worden sind.“

„Weiße Menschen, Brüderchen, weiße. Wann wirst du endlich lernen, dich der korrekten Terminologie zu bedienen?“, brummte Thor.

Epilog. Wenn die Götter lachen

Die Jahre waren nicht spurlos an Siegfried vorbeigegangen. Zwar war er immer noch so leichtfüßig und von kerzengrader Gestalt wie in seiner Jugend, doch war sein Haar ergraut. Dies war aber nicht das einzige Kennzeichen, das sein Alter verriet. Seine Augen waren nicht länger die eines Träumers, sondern die eines Weisen; sie waren tief und ein wenig traurig – letzteres, weil er Dinge wußte, von denen andere Menschen nichts ahnten.

Allerdings verbarg sich diese Traurigkeit tief in seinem Inneren und hinderte Siegfried keinesfalls daran, seinen Gesprächspartnern Vertrauen einzuflössen. Seine Augen vermochten in eine Menschenseele einzudringen. Es war, als helfe er einem Fallenden wieder auf die Beine, stütze ihn und verleihe ihm die notwendige Zuversicht und Stärke, um nicht wieder zu stürzen. Diesem Giganten der Geschichte vertraute man instinktiv, und wenn er einen Befehl erteilte, führte man diesen widerspruchslos und freudig aus wie den Willen Gottes selbst.

Doch kam es vor, daß seine Blicke entsetzlich flammten. Seine blauen Augen wurden dann noch heller und vernichteten seinen Gegner mit einem überirdischen eisigen Feuer. Wehe dem, der den Zorn dieses Menschen auf sich lud! Schließlich verkörperte er den göttlichen Willen und sprach im Namen der vielen hundert gefallenen Helden und Genies, die ihm durch eine Fügung des Schicksals die Aufgabe anvertraut hatten, das Werk fortzusetzen, für das sie alles geopfert hatten, was sie besaßen.

Er dachte oft an sie. Er dachte an die schwierigen Jahre des Kampfes und an die Zeit danach, als es den Anschein machte, all ihre Ziele seien verwirklicht. Eigenartig war allerdings, daß er jetzt immer öfter an sie dachte. Sie lebten an seiner Seite. Dies war keine Übertreibung. Er war fast sicher, daß er sich tatsächlich mit dem Professor, dem Flieger, dem Bombenbastler und all den anderen beriet. Sie selbst und nicht ihre unauslöschlich in seinem Gedächtnis heftenden früheren Aussagen gaben ihm die strategischen Lösungen ein, die in letzter Zeit immer häufiger erforderlich waren.

Gewiß, der Kampf war längst vorbei, und das, was der Professor als „schöpferischen Aufbau“ bezeichnet hatte, war in vollem Gange. Dem Präsidenten des Lichten Russenlandes oblag es, dafür zu sorgen, daß dieser Aufbau in geordneten Bahnen verlief und das Land nicht vom richtigen Kurs abkam.

Du hast es erraten, lieber Leser: Präsident des Lichten Russenlandes war schon seit vielen Jahren Siegfried. Das politische System des Landes hatte sich freilich geändert; der Präsident bildete keine Regierung und erteilte den Regionen keine Befehle. Er erfüllte die Funktion eines Lehrers oder, wenn man so will, eines Hohepriesters. Man hätte ihn auch als „Garanten“ bezeichnen können, wäre in der Vergangenheit mit diesem Begriff nicht allzu viel Schindluder betrieben worden. Dies war der Grund dafür, daß es viele, nicht zuletzt Siegfried selbst, vermieden, sich seiner zu bedienen.

In seiner Eigenschaft als Lehrer und Kapitän war der Präsident des Lichten Russenlandes bei der Erörterung aller strategischen – und bisweilen auch anderer – Entscheidungen zugegen. So verfolgte er auch jetzt die stürmische Debatte über die Funktion der Justiz unter den neuen, zivilisierten Bedingungen.

Oberflächlich gesehen machte es den Anschein, als höre er nur mit halbem Ohr hin. Sein Gesichtsausdruck ließ nicht erkennen, was er von den Ausführungen der Redner dachte. Schließlich sollten alle frei reden können, ohne Rücksicht auf irgendeine Autorität nehmen zu müssen.

Diese Einstellung war richtig, und die Debatte verlief völlig frei und ungezwungen. Gewisse junge Politiker, die sich daran beteiligten, konnten sich des Verdachts nicht erwehren, daß „der Alte“ mit halboffenen Augen schlief.

Dem war jedoch nicht so. Siegfried lauschte den Diskussionsbeiträgen mit gespannter Aufmerksamkeit, und nachdem die Anhänger der Wiedereinführung des Gefängnissystems (in humaner und zivilisierter Form wohlverstanden) ihre Argumente im Brustton der Überzeugung vorgebracht und ihre Opponenten dadurch zum Nachdenken gezwungen hatten, erhob sich Siegfried jäh von seinem Stuhl.

Seine Stimme klang wie die eines Jugendlichen:

„Niemals wird es im Lichten Russenland Gefängnisse geben! Niemals werden wir Leute in Käfige sperren wie wilde Tiere! Gestalten wir denn nicht selbst unsere zoologischen Gärten neu, ohne Käfige?“ fügte er schmunzelnd hinzu.

Dieses Schmunzeln und der gedämpfte Ton, in dem er den letzten Satz gesagt hatte, führten einige der Anwesenden irre. Der junge, vor Gesundheit strotzende, aber bereits zur Fettleibigkeit neigende Initiator des Projekts, ein hochrangiger Funktionär des Justizministeriums, nutzte diese Pause, um dem Präsidenten zu widersprechen.

Siegfried verstand es, hinzuhören und ein Streitgespräch in korrekter Form zu führen. Doch dieser junge Mensch ging ihm mächtig auf die Nerven. Er erinnerte auf unbestimmte Weise an die anmaßenden Bürokraten der Putin-Zeit und ihre Vorgänger von der Komsomol. Was hatte ein solcher Typ in der Führungsspitze des Lichten Russenlandes zu suchen? Nein, der Lehrer durfte sich noch längst keine Entspannung gönnen. Der Professor hatte tausendmal recht gehabt, als er seinerzeit den Ausspruch tat, das Land werde nach der jahrhundertelangen Herrschaft einer stumpfsinnigen Bürokratie einer langen Konvaleszenzperiode bedürfen. Dies war auch der Grund dafür, daß man das Amt des Präsidenten beibehalten hatte, obwohl es jetzt, wo das politische System voll und ganz den Geboten der Zivilisation entsprach, im Grunde genommen überflüssig war.

Siegfried schmunzelte innerlich über seine Gedanken. Der Professor hätte bestimmt gesagt, er habe intellektuell ungemein an Format gewonnen, wenn er sogar privat in solchen Kategorien dachte. Ach, Professor! Professor, vielleicht wäre es auch ohne dein Opfer abgegangen? Wie oft hast du uns seither gefehlt! Nein, wenn man genauer darüber nachdenkt, hattest du recht. Niemand schenkt selbst den klügsten Reden Glauben, wenn er sich innerlich nicht bewußt wird, daß der Redner bereit ist, um seiner Überzeugungen willen alles zu opfern.

Doch unsere Trauer ist lichter Art! Gewiß, die Jahre fordern ihren Tribut, doch ist dies nicht nur Grund zur Betrübnis, sondern auch zur Freude. Schon bald werden wir uns im Lande des Ewigen Sommers wiedersehen und mit Swarog und Thor an ein und demselben Tisch sitzen.

Bis es soweit ist, mußte er sich intensiv mit der Kaderfrage auseinandersetzen. Es war höchste Zeit, gewissen Personen in Erinnerung zu rufen, in was für einem Land sie eigentlich lebten. Als erfahrener Führer pflegte Siegfried seinen Emotionen gemeinhin nicht freien Lauf zu lassen, aber im vorliegenden Fall war eine Ausnahme von dieser Regel durchaus angebracht. Hier galt es alle an die grundlegenden Prinzipien des politischen Systems des Landes zu erinnern. Merkwürdigerweise dachte er in diesem Augenblick überhaupt nicht an das, was er selbst hinter Gefängnismauern durchlitten hatte. Er war eine echte Führungspersönlichkeit und dachte vor allem als Stratege. Strategische und ideale Überlegungen waren es denn auch, die ihm in diesen Minuten durch den Kopf gingen.

Sicher, er hätte diesem verwöhnten Günstling des Schicksal das eine oder andere über jene Zeit erzählen können, als er, der „Faschist“, die Segnungen des russischen Gefängnissystems am eigenen Leibe erfahren durfte. Aber „Faschist“ war er nur in ferner Vergangenheit gewesen. Der Mann, der sich jetzt anschickte, das Wort zu ergreifen, war kein „Faschist“, sondern der Präsident des Lichten Russenlandes.

Seine Augen funkelten zornig, und seine stählerne Stimme paßte sehr gut zu seinem stählernen Blick.

„Möchten Sie vielleicht selbst eine Zeitlang in einem der Kerker schmachten, die Sie bauen wollen? Oder glauben Sie, etwas Besseres zu sein als Ihr Volk? Sie gehören der Führungsspitze des Landes an, um für jedes beliebige Problem eine Lösung zu finden, sie sich mit den Grundlagen unseres Systems und unserer Zivilisation in Übereinklang bringen läßt. Haben Sie die grundlegenden Prinzipien des politischen Systems des Lichten Russenlandes vielleicht vergessen? In diesem Fall gehören Sie weder in die Regierung noch in die Volksversammlung, sondern in einen Anfängerkurs in der Führungsakademie. Angesichts Ihrer Einstellung zweifle ich allerdings daran, daß Sie dort eine Chance hätten, auch nur eine einzige Prüfung zu bestehen.“

Siegfried richtete sich in seiner ganzen imposanten Länge auf.

„Kollegen“ – er verwendete dieses Wort mit Vorliebe und dachte jedesmal, wenn er es aussprach, an den Professor -, „Sie liegen absolut falsch. Gehen Sie in sich!

Es war für mich sehr betrüblich, diese Debatte zu verfolgen“, fuhr er fort. „Erstens kann ich es einfach nicht fassen, daß ein solcher Antrag überhaupt gestellt werden konnte. Muß sich denn jede neue Generation von Führungskräften nicht aus den Lehrbüchern, sondern am eigenen Leib von der Richtigkeit der Prinzipien überzeugen, auf denen unser politisches System fußt? Es ist nicht autoritär, aber jeder von uns sollte moralische und intellektuelle Autorität ausstrahlen! Sie wurzelt in uns selbst, und sie sollte die Richtlinie für unser Denken bilden.

Glauben Sie denn allen Ernstes, die hervorragenden Intellektuellen, welche unser System geschaffen und dafür ihr Leben hingegeben haben, hätten auch nur im Traum daran gedacht, ihre Stammesgenossen in Käfige zu sperren? Und alle Angehörigen der russischen Nation sind unsere Stammesgenossen. Schreiben Sie sich das gefälligst hinter die Ohren, meine Herren Politiker!

Zweitens hat mich auch betrübt, daß die Gegner des Antrags so wenig überzeugend argumentiert haben. Aktivieren Sie Ihre grauen Zellen, suchen Sie innerhalb und nicht außerhalb des Rahmens unseres zivilisatorischen Modells nach Wegen zur Lösung der gesellschaftlichen Probleme!

Erweisen Sie sich jener Errungenschaften würdig, welche unsere Zivilisation tagtäglich – jawohl, tagtäglich! – demonstriert und welche Ihnen unsere Kollegen auf dem Feld der Wissenschaft, der Technik und der Produktion tagtäglich vor Augen führen. Wenn Sie dazu nicht imstande sind, versuchen Sie sich am besten einmal als Operatoren einer Müllverwertungsanlage, um praktische Erfahrung zu sammeln.“

Von dieser Stunde hatte er lange geträumt. Endlich konnte er seinen ersten Flug als Testpilot antreten.

Die winzige fliegende Untertasse war technisch gesehen im Grunde keine Neuheit. Die ersten Modelle dieser Apparate, deren Auftriebskraft auf dem bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts entdeckten Prinzip der Anhaftung von Luftstrom beruhte, waren am Ende des 20. Jahrhunderts konstruiert worden, doch hatte man sie nie praktisch verwendet und nur eine geringe Anzahl davon hergestellt.

Übrigens hatte man in der debilen UdSSR und der noch debileren Russischen Föderation so gut wie keine der Erfindungen des russischen Ingenieursgenies praktisch genutzt. Dies war über Nacht anders geworden, als das verfaulende Imperium, das sich Rußland nannte, dem Lichten Russenlande weichen mußte.

Die fliegenden Untertassen waren zum Symbol der neuen Zivilisation geworden. Zwar war der Übergang von den großen zu den kleinen und superkleinen Modellen recht harzig verlaufen, doch letztere, welche die Eigenschaften eines Flugzeugs und eines Hubschraubers in sich vereinten, versprachen zum hauptsächlichen Transportmittel des Landes zu werden. Sie konnten die Automobile ersetzen. Jedermann begriff, was dies in den unendlichen Weiten Rußlands bedeutete, wo es dermaßen schwierig ist, die Strassen während der langen Winterszeit in idealem Zustand zu bewahren (und im Russenland, wo man die dafür erforderlichen Mittel anstandslos bereitstellte, waren sie tatsächlich in idealem Zustand!).

Aber während ein Kilometer auf einer Strasse nur ein kaum merklicher Fortschritt ist, eröffnete ein Kilometer in einer fliegenden Untertasse den Passagieren die ganze Welt.

Nun war der Endpunkt in einem langwierigen technologischen Prozeß erreicht. Man begann mit den Erprobungen dieser „fliegenden Automobile“, die schon bald in Massenproduktion angefertigt werden und nicht nur das Verkehrswesen, sondern das ganze Antlitz des Landes verändern sollten.

In geringer Höhe schien die Untertasse fast auf einem Luftkissen dahinzugleiten und verbrauchte nur geringfügig mehr Treibstoff als ein Auto, doch konnte sie sich im Handumdrehen in ein Flugzeug oder einen Helikopter verwandeln.

Welch ein Privileg war es doch, daß ausgerechnet er bei diesen Testflügen als anerkannter Spezialist tätig sein durfte!

Nachdem er anfangs sehr tief geflogen war und alle auch nur denkbaren Varianten der Benutzung der Untertasse als Automobil erprobt hatte, begann er in die Höhe zu steigen. Der Apparat funktionierte weiterhin tadellos.

„Nehmen wir einmal an, wir bewegen uns auf der Strasse fort, und vor uns taucht ein Hindernis auf“, dachte er und ließ seine Untertasse absinken. „Immerhin fahren wir mit einer Geschwindigkeit von 400 Stundenkilometern, das heißt sehr viel schneller als ein PKW. Wir müssen also unverzüglich in die Höhe steigen.“

Gesagt, getan. Höher, noch höher, und zwar schnell! „Halt, Wasilij, das reicht.“ Er wäre gerne noch höher geflogen, befolgte den Befehl jedoch anstandslos.

„Eine hervorragende Leistung, Mstislaw!“ lobte der Versuchsleiter. „Besonders beeindruckt hat mich, wie optimal du die Fähigkeit des Apparats, unmittelbar an Höhe zu gewinnen, ausgenutzt hast. Wie hast du es bloß fertiggebracht, rein theoretisch gewonnene Daten so präzise in die Praxis umzusetzen? Im allgemeinen schafft kein Flugapparat bei den ersten Versuchen auch nur annähernd jene Werte, die er theoretisch erreichen kann.“

„Ingenieursinstinkt, wahrscheinlich.“

„Genau so ist es, mein Freund. Du bist ein gottbegnadeter Versuchspilot.“

Als er sich umzog, erinnerte er sich, daß ihn jene Stimme unbegreiflicherweise „Wasilij“ genannt hatte. Was hatte es damit wohl in sich?

„Eine Reminiszenz aus deinem früheren Leben“, schoß es ihm durch den Kopf. „Wahrscheinlich warst du in deinem letzten Leben Wasilij Loktionow, Held des Lichten Russenlandes.“

Mstislaw schaute die Sonne an. Er besaß eine geradezu phänomenale Sehkraft und prüfte sich bisweilen, indem er unverwandt in die Sonne blickte. Und diesmal kam es ihm plötzlich so vor, als sehe er vor der Sonnenscheibe das Antlitz des heiligen Schmiedes Swarog, an den er seit seiner Kindheit glaubte.

Es war Mai und bereits so warm, daß man sagen durfte, der Sommer habe begonnen. Ein Sommer, von dem man das Gefühl hatte, er werde ungeheuer lang, ja fast ewig andauern.

Sie bewegte sich federnden Schrittes auf der Strasse fort, und ihre Absätze erzeugten auf dem Asphalt eine heitere Melodie.

Es war ihr erster Frühling als Studentin. Die Vorprüfungen lagen bereits hinter ihr, und in drei Tagen würden die Hauptprüfungen beginnen. Nein, sie war keine fanatische Streberin, ganz im Gegenteil. Dieser blitzgescheiten jungen Dame, die für ihr Leben gerne tanzte, fiel einfach alles in den Schoß.

Nun schritt sie leichtfüßig auf dieser Strasse einher; sie genoß den Frühling und kostete ihre drei freien Tage weidlich aus. Auf die Titelseite einer Modezeitschrift hätte sie es zwar kaum geschafft, doch war sie trotzdem ungemein reizend. Von harmonischem Körperbau, leicht, elegant, behende. Ihre hellblauen Augen strahlten und lachten und ließen ihr Gesicht lebhaft und ausdrucksreich erscheinen.

Wie jedes weibliche Wesen hielt sie sich für die Krönung der Schöpfung, doch da es ihr als Frau an Logik fehlte, war sie häufig mit sich unzufrieden. Bald bemäkelte sie ihren allzu niedrigen Wuchs, bald wollte sie ein wenig abnehmen. Übrigens hatten die regelmäßigen Shaping-Sitzungen und Gymnastik-Kurse des letzten Semesters ihr fast schon zu einer Idealfigur verholfen. Nun fühlte sie, wie jede Faser ihres jungen Körpers leicht und geschmeidig war.

Unter diesen Umständen war es kein Wunder, daß die vorbeigehenden Männer ihr bewundernde Blicke zuwarfen. Im Geist streckte sie allen die Zunge heraus und dachte: „Das Berühren mit den Pfoten ist verboten.“

Diesen seltsamen Passanten hatte sie anfangs schlicht nicht bemerkt. Er war ungefähr dreißig Jahre alt, gehörte für ein Mädchen ihres Alters also fast schon zum alten Eisen (wie wenig versteht man in diesem Alter doch noch vom Leben!), von mittlerem Wuchs, stämmig, fast quadratisch. Er strahlte große Kraft und eine Art gußeiserner Beständigkeit aus.

„Fräulein!“

Er versperrte ihr beinahe den Weg. Was für ein Flegel! Wie konnte er es wagen, ihr am hellichten Tage so dreist und ungeniert nachzustellen! Allerdings klang sein Tonfall recht unterwürfig. Beinahe hätte sie aufgelacht, so augenfällig war der Kontrast zwischen seiner rundlichen, fast bedrohlichen Figur und der Unterwürfigkeit seines Blicks und seiner Stimme.

Überhaupt war er ein ungewöhnlicher Kerl, vereinigte er in seinem Erscheinungsbild doch Eigenschaften, die scheinbar nicht unter einen Hut zu bringen waren. Einerseits wirkte er grobschlächtig, andererseits bewegte er sich sehr behende. Er war entsetzlich breitschultrig, jedoch an den Hüften beinahe schlank. Seine Gesichtszüge waren grob geschnitten, seine Augen hingegen ungewöhnlich klug und gut.

All dies machte ihn geradezu interessant. Ohne diese faszinierende Verbindung scheinbar gegensätzlicher Eigenschaften hätte er freilich bestenfalls mittelmäßig ausgesehen.

„Fräulein, ich bitte Sie sehr um Entschuldigung, aber sind wir uns nicht schon irgendwo begegnet?“

Was für eine primitive Masche! Dieser Lümmel verdiente eine scharfe Zurechtweisung, doch sie brachte es nicht übers Herz, ihm eine solche zu erteilen. Es wurde ihr schwindlig. Seine Stimme kam ihr in der Tat bekannt vor, und nun betrachtete sie ihn mit dem Blick einer reifen, erfahrenen Frau, die viel Freund und Leid erlebt hat. Mit fremder, etwas dumpf tönender Stimme antwortete sie:

„Im letzten Leben, Petrowitsch.“

Sie begriff nicht, was sie eben gesagt hatte. Ihr Kopf begann sich noch heftiger zu drehen. Sie taumelte, aber er fing sie auf und bewahrte sie so vor dem Sturz. Auch er schien sich unversehens an etwas zu erinnern. Er wußte, daß er vor dieser jungen Frau schuldig war. Gewiß, er hatte sich ihr gegenüber nicht gemein oder schmutzig verhalten, er hatte sie weder verraten noch beleidigt, ihr jedoch nichtsdestoweniger großes Leid zugefügt.

Er hielt sie vorsichtig, wie eine zerbrechliche Vase, in seinen Armen und sah sie mit dem Blick eines klugen Hundes an, der weiß, daß er etwas Verbotenes getan hat.

„Verzeihen Sie mir bitte. Verzeih mir, meine Teure, aber ich konnte einfach nicht anders“, verbesserte er sich automatisch.

Wie er sich hätte anstellen sollen und was der Sinn seiner Worte war, wußte er selbst nicht, doch aus irgendeinem Grund war er überzeugt, daß er richtig gehandelt hatte.

Wie angenehm, wie süß es doch war, von den Armen dieses gutherzigen Grobians umschlungen zu werden! Wie lange hatte sie auf diese Begegnung gewartet! Die Tränen rollten ihr die Wangen herunter.

„Du Rindvieh, du Hornochse!“ (Großer Gott, wie spreche ich zu diesem unbekannten, soliden Mann!) „Du gußeiserner Tölpel!“ Sie trommelte mit ihrer Faust gegen seine eisenharte Brust. „Mein Liebling, mein Schatz, mein Ein und Alles...“

Und dann sagte sie zu ihrer grenzenlosen Überraschung, unter Tränen lächelnd:

„Ein Dummerjan warst du, und ein Dummerjan bist du geblieben. Küssen konntest du freilich schon immer.“

Ihre Lippen berührten seine Wangen vorsichtig und zärtlich. Die Passanten gingen an diesem merkwürdigen Paar vorbei, das sich bald zankte und bald wieder versöhnte, bald weinte und bald lachte.

Und dann schritten sie wie zwei Kinder Hand in Hand auf dieser frühlingshaften Strasse einher. Sie schritten auf ihrer Erde einher, der Erde des Lichten Russenlandes, daß ihre Väter den Halunken des Imperiums schon vor geraumer Zeit abgerungen hatten.

Was sie einander bei diesem ihrem ersten Treffen dann noch sagten, davon kündet keine menschliche Seele.

Der große Swarog blickte vom Himmel auf seine Enkel herab. Im ihrem früheren Leben waren sie ihren Göttern treu gewesen. Sie hatten an die Unsterblichkeit der Seele geglaubt und die Gebote ihrer Ahnen nicht mit Füssen getreten. Ohne zu zittern, hatten sie den ihnen vorbestimmten Kelch bis zur Neige geleert. Sie hatten ihr Glück also redlich verdient. Swarog war überzeugt, daß ihre Seelen allzu edel waren, um das ihnen zuteil gewordene Glück zu mißbrauchen. Sie hatten ihr jetziges Erdenschicksal tatsächlich mit eigener Hand geschmiedet...

„Mit explosiven Technologien“, dachte der alte Schmied schmunzelnd.

Moskau – Alexandrow, 2005


[1] Swarog ist der slawische Gott des Himmels und des Feuers.

[2] Staatliches Komitee für den Ausnahmezustand zur Rettung der Sowjetunion.

Buchumschlag der russischen Ausgabe 2006

Buchumschlag der russischen Ausgabe


BIOGRAPHIE

Pjotr Michailowitsch Chomjakow

Pjotr Michailowitsch Chomjakow

Ideologe des Netzes der Gesellschaften für die Nationale Befreiung des Russischen Volkes (NORNA), stellvertretender Vorsitzender der Freiheitspartei. Ehemaliger stellvertretender Vorsitzender des Exekutivkomitees des Kongresses Russischer Gemeinden.

Geboren 1950 in Moskau. Absolvent der geographischen und mechanisch-mathematischen Fakultät der Staatlichen Universität Moskau; Doktor der technischen Wissenschaften, Professor.

Seine berufliche Tätigkeit begann Pjotr Chomjakow als junger technischer Geologe. Er nahm an geologischen und ingenieurstechnischen Expeditionen teil und leistete Wehrdienst in der sowjetischen Armee.

Nach 1981 arbeitete er an der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, im Staatlichen Komitee für Wissenschaft und Technologien, im Komitee für Wirtschaftsplanung der UdSSR (GOSPLAN), an der Russische Akademie der Wissenschaften (RAS) und befaßte sich mit den Problemen der Informatisierung der Staatslenkung, der stabilen Versorgung der verschiedenen Volkswirtschaftszweige mit natürlichen Ressourcen, der regionalen Wirtschaft sowie der regionalen Verwaltung. Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Systemanalysen an der Russischen Akademie der Wissenschaften (RAS).

Seit Ende 1991 ist er politisch aktiv. Er war Experte des Obersten Rats der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik und gehörte 1992/1993 dem Duma Parlament der Russischen Nationalversammlung  Alexander Sterligows an. 1993 wurde er zum Mitglied des Zentralrats der von Nikolai Lysenko geführten National-Republikanischen Partei Rußlands.

Bei den Wahlen zur Staatlichen Duma im Dezember 1993 war er der elfte Kandidat auf der föderativen Liste der National-Republikanischen Partei. Nachdem diese 1994 in zwei gleichnamige Parteien unter N. Lysenko und Juri Beljaew zerfallen war, unterstützte er J. Beljaew und trat der nichtregistrierten Neuen National-Republikanischen Partei als Mitglied bei. 1997/1998 war er politischer Berater von General Lew Rochlin, dem Vorsitzenden der Bewegung zur Unterstützung der Armee.

2002 war Pjotr Chomjakow stellvertretender Vorsitzender des Exekutivkomitees des Kongresses russischer Gemeinden, an dessen Spitze Dmitri Rogosin stand, und im Oktober 2005 stellvertretender Vorsitzender des Zentralkomitees der Freiheitspartei (ihr Vorsitzender war J. Beljaew). Bei einer außerordentlichen Versammlung des Zentralkomitees der Freiheitspartei im Dezember 2005 wurde beschlossen, die Partei beim Justizministerium offiziell registrieren zu lassen, damit sie bei den Parlamentswahlen des Jahres 2007 teilnehmen kann. Zur Vorbereitung des Gründungskongresses der Freiheitspartei wurde ein Organisationskomitee ins Leben gerufen, dem neben anderen J. Beljaew, Denis Tananin, P. Chomjakow angehörten.

P. Chomjakow arbeitete als Analytiker und Beobachter des RIA Novosti sowie der Nachrichtenagentur TASS. Er ist Verfasser zahlreicher Publikationen in Zeitungen und Zeitschriften (Literaturnaja Rossija, Rossijskaja Gaseta, Nesawisimaja Gaseta, Parlamentskaja Gaseta, Kommersant, Russkij Sobor, Den, Sawtra, Interview, Duel, Stringer, Nazionalnaja Gaseta, Respektabelnaja Respublika, Prawda-5, Junost, Nauka i promyschlenost Rossii, Chimija i schisn etc.). Ferner ist er Verfasser der Serie SWAROGOW KWADRAT: Die Eigenen und die Fremden (2003), Der Kreuzweg (2005), Der weltweite Umsturz (2005), Rußland gegen Russenland. Russenland gegen Rußland (2004-2006), Das Geheimnis Zar Johanns (2006), Rechenschaftsbericht des Veteranen der Russischen Bewegung gegenüber den Russischen Göttern (2006), Götter und Unholde (2006).

Aus seiner Feder stammen mehr als 80 wissenschaftliche Publikationen, von denen folgende namentlich zu erwähnen sind: Geoökologische Modellierung zur Steuerung der Nutzung der Natur unter den Bedingungen des Wandels von Umwelt und Klima (Moskau 2002); Systemanalyse in zehn Lektionen (Moskau 2006); Der Einfluß globaler Veränderungen der natürlichen Umwelt und des Klimas auf die Funktion der Wirtschaft sowie die Gesundheit der Bevölkerung Rußlands (Moskau 2005); Mathematische Modellierung der Evolution des Waldes zur Leitung der Forstwirtschaft (Moskau 2005); Management in 18 Lektionen (Moskau 2006).


ANMERKUNGEN
zu den Büchern der Serie Swarog-Quadrat[1]

Swarog-Quadrat

Der Kreuzweg Science-fiction-Thriller

Eine Gruppe junger Technokraten unter der Führung von Veteranen der Russischen Bewegung provoziert unter Nutzung moderner Technologien und mit ausländischer Unterstützung in Rußland zunächst ein Dafault und dann eine politische Krise, wonach sie an die Macht kommt.

In diesem Buch findet der Leser alles – Intrigen, kriegerische Aktionen, Liebe, Familiendramen, die Schilderung heidnischer Feiern. Selbst der Auftritt der russischen Götter fügt sich nahtlos in dieses Drama des Kampfes für das Glück des russischen Volkes ein.

Wem die gegenwärtige bleierne Zeit zuwider ist, wer vom Licht am Ende des Tunnels träumt, und sei es auch nur in Form einer phantastischen Erzählung, den wird dieses Buch fesseln!

Weltenumsturz Science-fiction-Thriller

Liebesdrama vor dem Hintergrund politischer Schlachten. Die von den gegenwärtigen Machthabern ausgeheckten ungeheuerliche Verbrechen gegen die gesamte Menschheit sowie das Volk Rußlands werden von einer Gruppe energischer russischer Nationalisten – Helden und Intellektuellen, Technokraten und Romantikern – durchkreuzt.

In ihrem harten Kampf erhalten die Helden Hilfe von den besten Vertretern der Weltgemeinschaft – Aristokraten und Intellektuellen, welche die überragende Persönlichkeit ihrer russischen Freunde in ihren Bann zieht.

Die Helden sind lichte, facettenreiche Gestalten, deren Charakter realistisch und scharf gezeichnet ist, im Stil der Traditionen der großen russischen Literatur und nicht in jenem der Hollywood-Knüller.

Erwarten Sie kein süßliches, verlogenes Happy-End. Doch die Tragödie bricht die Beteiligten nicht, sondern adelt sie. Und den unsterblichen Seelen der Helden wird in einem neuen Erdenleben Glück zuteil.

Das Geheimnis des Zaren Johann Phantastischer Kriminalroman

Mehrere Gruppen mit verschiedenen Zielen suchen die legendäre Bibliothek Iwans des Schrecklichen. Die Geheimnissen einiger Mörder, fieberhafte Suchaktionen, Abenteuer und Treibjagden, Liebesdramen und Geheimnisse der Geschichte – all dies findet sich im vorliegenden Buch.

Den selbstbewußten Kämpfern für die russische Sache winkt das Glück, eilt ihnen doch Fürstin Polozkaja selbst zur Hilfe, die Nachfahrin eines alten Fürsten- und Zauberergeschlechts, deren Ur-Ur-Ur-Urgroßmutter einem Schicksal als Konkubine Iwans des Schrecklichen zu entrinnen vermochte.

Götter und Kreaturen Fantasy

Vergangenheit und Gegenwart fließen in diesem Buch ineinander über. In speziellen Laboratorien des KGB werden geophysische und psychotronische Waffen entwickelt; zugleich entfalten altrussische Weise ihr Wirken. Die legendären Swarog und Perun[2] leben in der gleichen Periode wie die Opfer des Atomkraftwerkunfalls in Tschernobyl und des Erdbebens in Spitak.

Die Geheimnisse der olympischen Götter und die Triebfedern des Trojanischen Krieges sieht man in ganz anderem Lichte, wenn man all das weiß, was die die Experimentatoren aus den stillgelegten Labors des KGB wissen.

Rußland gegen Russenland. Russenland gegen Rußland Historische Untersuchung

Die Entlarvung des größten Geheimnisses der russischen Geschichte. Wer den Einfall Batys „bestellte und bezahlte“, wer davon profitierte, wer zu den Verlierern zählte. Helden entpuppen sich als Halunken. Doch die russische Geschichte wurde nicht nur von Lakaien und komplexbehafteten Sadisten geschrieben. Der Widerstand hat niemals aufgehört. Und nun besitzt das Russenland endlich die Chance, das Rußland aufgezwungene Joch der Horde abzuschütteln.

Rechenschaft vor den russischen Göttern Sammelband zu den Themen Ideologie und Politik

Erinnerungen eines Veteranen der Russischen Bewegung. Woher die Gesellschaft „Pamjat“[3] kam. Wie die KPdSU die künftigen „Liberalen“ und „Patrioten“ „ernannte“. Weshalb die Armee dem Weißen Haus anno 1993 keine Unterstützung gewährte. Wer General Rochlin verriet und ermordete. Die aktuellste Frage lautet heute nicht „Was tun?“, sondern „Was man besser nicht tut“.

Die Eigenen und die Fremden Ideendrama

War der Mensch Kannibale? Warum kokettieren Frauen so gerne? Wie oft wurde auf Erden schon der Sozialismus aufgebaut? Warum muß der Nachrichtendienst zur wichtigsten bewaffneten Kraft werden? Was bedeutet das Jahr 7511 seit der Erschaffung der Welt? Was fehlt den Juden zum völligen Glück? Sind die Geheimnisse der russischen Seele wirklich so unerklärlich? Wann wird das „Ende der Welt“ eintreten, und wird es tatsächlich so schrecklich sein?

Auf all diese und noch viele andere Fragen findet der Leser im vorliegenden Buch eine Antwort. Es ist unterhaltsam, jedoch vom wissenschaftlichen Standpunkt aus hieb- und stichfest.



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