Iwan Schukow
An den Werken Solschenizyns kann man allerlei aussetzen; man kann viele seiner Ansichten ablehnen, doch gibt es nichts daran zu rütteln, daß Alexander Issajewitsch wichtige, historische Verdienste um Rußland erworben hat. Er war der bekannteste und angesehenste sowjetische Schriftsteller der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und stellte seinen weltweiten Ruhm bewußt in den Dienst des russischen Volkes.
Die Auffassung, Solschenizyn habe zum Sturz der Sowjetmacht beigetragen, entspricht nicht den Tatsachen. Der Zerfall der UdSSR erfolgte aus innenpolitischen Gründen und war das Ergebnis der Entscheidungen und Taten der kommunistischen Elite selbst. Hingegen trifft es durchaus zu, daß die Werke Solschenizyns in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts den sowjetischen Kommunismus weltweit, vor allem aber im Westen moralisch rettungslos diskreditiert haben. Die heutigen, prosowjetischen Kritiker weisen auf zahlreiche faktische Fehler hin, die sich in dem Archipel Gulag finden. Dieses Buch entstand auf der Grundlage der Erinnerungen von Zeugen, die den sowjetischen Terror überlebt hatten; die Forscher erhielten damals keinen Zugang zu den sowjetischen Geheimarchiven (auch heute sind nicht alle Dokumente aus der Sowjetzeit zugänglich). Die sowjetischen Genossen täten besser daran, darüber nachzudenken, weshalb die kommunistischen Agitprop-Spezialisten mit dem Genossen Suslow an der Spitze, die über alle Fakten verfügten, die angeblich lügenhaften „Schmähschriften“ des „literarischen Wlassows“ nicht entlarvt haben. Die sowjetischen Kommunisten beschränkten sich darauf, weinerlich zu behaupten, Solschenizyn sei ein antisowjetischer Renegat, der im Solde der CIA stehe.
Es scheint heute in Vergessenheit geraten zu sein, daß die von Chruschtschow und seinen Anhängern vollzogene Demaskierung des berüchtigten „Personenkultes“ sich auf die Verurteilung „gesetzwidriger Repressionen“ gegen Kommunisten begrenzte, man jedoch kein Wort über die Millionen von Opfern verlor, die der Terror Lenins und Stalin unter dem einfachen Volk gefordert hat. Als hauptsächliches Opfer des krankhaft argwöhnischen Stalin galt der Altbolschewik, der treue Leninist, der Tschekist, der Parteifunktionär, der stolze Albatros der Revolution, der unschuldig ins Lager geschickt oder sogar erschossen wurde. Übrigens wurde auch die Selbstvernichtung der Kommunisten in den dreißiger Jahren nach Kräften herabgespielt. Die sowjetischen Propagandisten innerhalb des Landes waren völlig außerstande, die "antisowjetischen Lügen“ Solschenizyns zu entlarven, und wagten es einfach nicht, über den Inhalt dieses subversiven „Archipels“ zu sprechen.
Nicht nur bei den sowjetischen Kommunisten, sondern auch bei vielen „antisowjetischen“ Dissidenten jüdischer Herkunft war Solschenizyn höchst unbeliebt. Die vorwiegend jüdischstämmige sowjetische Dissidentenbewegung legte gegenüber dem Schriftsteller einen unterschiedlich starken Grad an Ablehnung an den Tag, die von kühler Reserviertheit bis zu unverhohlenem nationalem Haß reichte. Solschenizyn hat die Juden niemals angegriffen, doch objektiv versetzten seine Werke dem Mythos vom Leiden der unschuldigen Juden unter dem russischen Kommunismus den Todesstoß, wiesen sie doch auf die große historische Verantwortung der jüdischen Intelligenz für die Verbrechen des Kommunismus hin. Dergleichen wird niemandem verziehen. Allerdings war es für die Kommissare aus dem Stetl ein Ding der Unmöglichkeit, Solschenizyn zur Strecke zu bringen; hiervor schützte ihn seine Bekanntheit im Westen.
Vor dem Fall der Sowjetmacht und danach war und blieb Solschenizyn der einzige russische Nationalist, der berühmt genug war und über die nötigen Mittel verfügte, sich an Land und Volk zu wenden. Nationalist war er nicht im Sinne der Zugehörigkeit zu irgendeiner Partei oder Bewegung, sondern insofern, als er russische Interessen verteidigte. Solschenizyn tat für das russische Volk und Rußland, was in seinen Kräften stand. Seine praktischen politischen Erfolge waren freilich äußerst gering. Der vorgetäuschte Antikommunismus der neuen russischen Machthaber und die „liberale“ Intelligenz wagten den Patriarchen des Antisowjetismus nicht offen zu attackieren, sabotierten seine Bemühungen jedoch hinterrücks auf alle mögliche Art.
„Solschenizyn kehrte 1994 in seine Heimat zurück. Er hoffte, am gesellschaftlichen Leben Rußlands teilnehmen zu können. Doch dies verlief nicht so erfolgreich, wie man es sich gedacht hatte; ein Jahr nach seiner Rückkehr verlor der Schriftsteller sein allwöchentliches Fernsehprogramm, dem Vernehmen nach wegen dessen geringer Beliebtheit.“
Die Engländer lügen: Das kleine, eine Viertelstunde lang dauernde Programm wurde 1995 aus politischen Gründen eingestellt.
S. Blagowolin: „Weshalb mußten wir das Programm A. Solschenizyns aus dem Fernsehkanal ORT entfernen? Weil das Land in den Wahlkampf eintritt. Es geschah, was geschehen mußte. Man begann uns Fragen zu stellen: Wenn Solschenizyn darf, warum ich denn nicht? Sofern uns Solschenizyn diese Taktlosigkeit verzeiht, werden wir uns freuen, ihn zu sehen, immer auf unserem Kanal und in allen unseren politischen Sendungen.“
Die angeblich antikommunistische „liberale“ Intelligenz nahm Solschenizyns Vertreibung aus dem russischen Fernsehen mit großer Befriedigung zur Kenntnis. Zum Vergleich: Man erinnere sich, wie die Intelligenzija Zeter und Mordio schrie, als sich die tschekistischen Klans später in die Haare gerieten und die Putin-Anhänger die Spitzel von der 5. Abteilung des KGB aus dem Sender NTW verjagten.
Man tut gut daran, sich folgendes in Erinnerung zu rufen: Die liberale Intelligenz redet viel von der Abwürgung der Meinungsfreiheit durch Putin. Als Beispiele für die Repression führt sie irgendwelche Fernseh- oder Zeitungsfritzen an, die man in die Wüste geschickt hat. Doch 1995 wurde Solschenizyn vom Fernsehen verbannt und der Möglichkeit beraubt, einmal wöchentlich in einem kleinen Programm aufzutreten. „Wir können ihm nicht gestatten, das zu sagen", hieß es. Dabei hatte Solschenizyn nichts allzu Aufrührerisches gesagt, aber angesichts der totalen Kampagne, welche die Medien für die Wiederwahl des Vampirs Jelzin führten, erfolgte eine liberale Gleichschaltung. Hat irgendein Vertreter der Intelligenz für Solschenizyn, dem vorher alle ihre Liebe bekundet und ihre Treue geschworen hatten, eine Lanze gebrochen? Hat die blutige KGB-Clique sie daran gehindert?
1998 verschmähte Solschenizyn eine Medaille, die ihm Jelzin zugedacht hatte.
„Am 1. Juli 1998 wurde durch einen Erlaß des Präsidenten der Russischen Föderation der Orden des Heiligen Apostels Andreas des Erstberufenen als höchster Verdienstorden der Russischen Föderation wiedereingeführt.“
Jelzin versuchte, Solschenizyn anläßlich seines 80. Geburtstags mit diesem seltsamen Orden auszuzeichnen.
„… von einer Staatsmacht, welche Rußland in den gegenwärtigen, verderblichen Zustand geführt hat, kann ich keine Auszeichnung entgegennehmen.“
Als erster nahm das schimpfliche klingelnde Metallstück, das einen historischen russischen Orden dreist parodiert, der durch seine Servilität bekannte Liebling der humanistischen Intelligenz, der Akademiker Lichatschew, entgegen.
„Unerzogen, lebt aber nach seinem Gewissen.“ Der erste Kavalier des Ordens des Heiligen Apostels Andreas des Erstberufenen, der Akademiker Dmitri Lichatschew, sieht im Verzicht Alexander Solschenizyns, diese höchste Auszeichnung Rußlands entgegenzunehmen, eine „elementare Ungezogenheit“ und eine „Respektlosigkeit gegenüber der Regierung“. „Ich versuchte Alexander Solschenizyn zur Annahme des Ordens zu überreden, doch er warf sich in Pose und blieb unbeugsam", erklärte er.
Nachdem Solschenizyn die Kühnheit besessen hatte, Zar Boris die kalte Schulter zu zeigen, machte sich die Schickeria herablassend über den angeblich Anzeichen von Demenz zeigenden Solschenizyn lustig:
„Ich sah es am Fernsehen. Chasanow1 las eine Reprise darüber, wie Solschenizyn bei Rostropowitsch auf der Datscha lebte, irgend etwas Langes schrieb, sich, mit einer wattierten Jacke bekleidet, in seinem Zimmer einschloß, Brotspeise mit Kwass nur darum aß, um sein Image nicht zu ruinieren, und, mit Verlaub, seine Bedürfnisse in Rostropowitschs Cello verrichtete, das er für eine Latrine hielt. Ein widerlicher Anblick, im Saal Rostropowitschs kicherten die Wischnewskaja, Luschkow und Tschernomyrdin, ein dreifach widerlicher Anblick.“
Was sich erst nach der 2001 erfolgten Veröffentlichung von Solschenizyns 200 Jahre zusammen abspielte, läßt sich nur schwer wiedergeben.
„… das Problem mit Solschenizyn besteht darin, daß es im Grunde unmöglich ist, Einwände gegen 200 Jahre zusammen zu erheben. Das Buch enthält unwiderlegbares historisch-dokumentarisches Material und unzählige Verweise auf jüdische Quellen. Man kann über die Interpretationen streiten, doch auf den nichtjüdischen Leser hinterläßt das Buch einen großen Eindruck.“
Vor drei Jahren, nach einem der letzten Auftritte Solschenizyns, als man sehen konnte, daß er schon sehr alt und schwerkrank war, schrieb udod99 einen wunderbaren Nekrolog:
„Solschenizyn wurde, wenn man sich so ausdrücken darf, plötzlich zum Medium des russischen Geistes, und zwar so einem höchst fähigen. Diesen russischen Geist hat bis zur Mitte der fünfziger Jahre bei den Lebenden niemand geehrt, und sogar sein stalinistisches Surrogat, das aus dem fauligen Pelz von Marx sowie zertretenen Kirchenfahnen genäht war, hatte man damals bereits begraben ─ nein, zur Tür hinausgejagt, zum Fenster hinausgeworfen. Der russische Geist meldete sich in der Sprache Solschenizyns wieder zu Wort etwas gebrochen und merkwürdig (übrigens ist es erstaunlich, daß Leute, die seit ihrer Kindheit alle möglichen regionalen Jargons sprechen, Solschenizyn wegen seiner angeblichen „sprachlichen Unbeholfenheit“ kritisieren) Doch er meldete sich zu Wort!“
„Solschenizyn schrieb 200 Jahre zusammen. Er hatte sich die Aufgabe gestellt, mit diesem Werk den Anstoß zu einer öffentlichen Diskussion zu geben, und dies gelang ihm vorzüglich. Ehrlich gesagt, nach dieser Diskussion gingen vielen (nicht zuletzt mir) die Augen auf. Insbesondere begriff man nun, mit wem und womit wir es während der gesamten sowjetischen und postsowjetischen Geschichte zu tun hatten und haben, und wie wir uns unter diesen Bedingungen verhalten müssen.“
„Mir persönlich ist schon vor langer Zeit aufgefallen, daß jemand, der Solschenizyns Ansichten verlacht (ich spreche jetzt nicht von vernünftiger Kritik und Meinungsverschiedenheiten zu inhaltlichen Fragen, denn Grund zu einer solchen Kritik gibt es durchaus) in der Regel ein echter Feind Rußlands ist. Hiervon habe ich mich täglich überzeugen können.“
„Ja, ich kann bei Solschenizyn vieles nicht akzeptieren. Doch muß ich ihm für alles Dankeschön sagen. Es gibt Situationen, in denen du fühlst, daß deine Arbeit höher als alles Persönliche, höher als Meinungsunterschiede, höher als eine konkrete politische Situation steht. Übrigens auch höher als Rußland als solches ─ dieses ist ja nur ein kleines Stück des Universums ─, sondern um etwas Wesentlicheres, etwas, was einen kleinen Flecken des Planeten Erde zum Kampf mit seinen Feinden ausgewählt hat, und wir sind in diesen Krieg verstrickt. Krieg ist Krieg, und wir wissen nicht einmal, ob wir siegen werden. Und manchmal müssen wir jene begraben, die auf unserer Seite gefochten haben. Da hilft nichts, wir werden eine Zeitlang schweigen und dann weiter marschieren. Wir haben keine Zeit, um lange bei den Gräbern zu verweilen, uns erwarten andere Aufgaben. Wir werden nach Kräften ein ganz anderes Rad drehen und in eine ganz andere Richtung fahren.“
Das russische Volk wird Alexander Issajewitsch Solschenizyn ein ehrendes Andenken bewahren.
Alexej Schiropajew
Dem Andenken Alexander Issajewitsch Solschenizyns geweiht
Mein Verstand sagte mir, daß dieser Tag früher oder später kommen mußte. Der Tag, an dem der große russische Klassiker nicht mehr unter uns weilen würde. Und nun ist dieser Tag eingetroffen, und zwar im August, dem Monat der schlechten Nachrichten.
Alexander Solschenizyn ist gestorben.
Die Bedeutung dieser Gestalt ist dermaßen groß, daß man sie in einem kurzen Text über die jüngsten Geschehnisse nicht angemessen würdigen kann. Gleich gesagt sei, daß Solschenizyn nicht so sehr ein literarisches Phänomen als eine Erscheinung des russischen Nationalgeistes war. Solschenizyn stand für die Würde der Russen, die auch im Albtraum des 20. Jahrhunderts stets leuchtete. Vor aller Welt verkündete er laut und deutlich, daß das Russische und das Sowjetische unvereinbar waren; gegen den Kommunismus trat er seiner Eigenschaft als russischer Mensch, als Fleisch vom Fleische der Geknechteten auf. Solschenizyns Antisowjetismus war nicht derjenige der bürgerlichen Intelligenz, sondern jener tiefe, volkstümliche, der dem besten, bodenständigen Teil der Russen eigen war. Solschenizyn bezeugte, daß das russische Volk antisowjetisch war und widerlegte all die Spekulationen vom „sowjetischen Patriotismus“ oder „Nationalbolschewismus“, die in den Kabinetten des ZK und den Zeitungsredaktionen der Hauptstadt ausgebrütet worden sind.
Es ist schwierig, sich unsere Lage vorzustellen, wenn Der Archipel Gulag nicht geschrieben worden wäre, dieser unnachahmliche künstlerische, historische und politische Querschnitt des Sowjetsystems. Man darf getrost behaupten, daß wir ohne den Archipel fast nichts über das Sowjetregime wüßten. Wir wüßten nichts über die Millionen von Gequälten und über die Sklavenhalternatur des sowjetischen Systems. Und wenn dieses seine wahre Natur heute verhehlen und Zuflucht zur Mimik nehmen muß, um seine tschekistische Fratze wenigstens notdürftig zu verbergen, dann ist dies in mancher Hinsicht der schmerzlichen Wahrheit des Archipel zu verdanken, die heute niemand mehr unter den Teppich kehren kann.
Die hauptsächliche Bedeutung des Archipel Gulag besteht darin, daß dieser das Urteil des russischen Volkes über das Sowjetsystem ausdrückt. Das Buch ist in höchstem Maße national, doch viele seiner Aspekte sind bis heute noch nicht vollständig begriffen worden. Insbesondere war Solschenizyn der erste, der das Thema der Russischen Befreiungsarmee, der Lokotischen Republik sowie überhaupt der großen Zahl unserer Landsleute aufgriff, die gemeinsam mit Deutschland gegen den Bolschewismus fochten und dafür zum „zusätzlichen Opfer auf dem seit 1917 nie erkalteten Opferaltar“ wurden. Für diese schriftstellerische und staatsbürgerliche Unerschrockenheit wollen wir uns tief vor Alexander Issajewitsch verneigen! Er fürchtete sich nicht davor, in den Augen der „sowjetischen Öffentlichkeit“ und der westlichen Linken als „Hofsänger von Hitlers Helfershelfern“ zu gelten. (Die sowjetische Presse geißelte ihn deswegen als „literarischen Wlassow.) Zitieren wir einige heute bereits unsterbliche Passagen:
„Daß tatsächlich Russen gegen uns standen und härter kämpften als sämtliche SS-Männer, erfuhren wir schon bald. Im Juli 1943 verteidigte beispielsweise bei Orjol ein Zug von Russen in deutscher Uniform die Neusiedlung Sobakinskije Wysselki. Sie kämpften dermaßen verbissen, als hätten sie diesen Weiler selbst erbaut. Einen von ihnen jagte man in einen Keller und warf dann Handgranaten hinab; er verstummte, doch sobald seine Verfolger sich anschickten, hinabzusteigen, feuerte er wieder aus seiner Maschinenpistole. Erst nachdem sie eine Panzerabwehrgranate hineingejagt hatten, merkten sie, daß es im Keller noch eine Grube gab, in der er vor den detonierenden Handgranaten in Deckung gegangen war. Man muß sich vorstellen, wie er, durch den Krach taub geworden und halbzerquetscht, dennoch verzweifelt weiterkämpfte.
„Ihnen blieb keine andere Wahl. Sie konnten nicht anders kämpfen. Man hatte ihnen nicht die Wahl gelassen, beim Kämpfen etwas mehr Rücksicht auf sich selbst zu nehmen. Wenn allein schon die Kriegsgefangenschaft an sich bei uns als unverzeihlicher Vaterlandsverrat galt, was blühte dann erst jenen, welche auf der Seite des Feindes gegen uns zu den Waffen gegriffen hatten? Das Verhalten dieser Menschen wurde bei uns grobschlächtig propagandistisch wie folgt erklärt: 1) Mit ihrem Verrätertum (war dieses biologisch bedingt, lag es ihnen im Blut?) 2) Mit ihrer Feigheit. Eine seltsame Feigheit war das! Ein Feigling sucht nach Wegen, um glimpflich und nachsichtig behandelt zu werden. Zum Kampf in den Wlassow-Abteilungen der deutschen Armee vermochte sie nur eine extreme Situation, eine grenzenlose Verzweiflung, die Unmöglichkeit, noch weiter unter dem bolschewistischen Regime zu leben, sowie ein völliger Mangel an Rücksichtnahme auf ihre eigene Sicherheit zu bewegen. Sie wußten nämlich: Hier winkt uns nicht die geringste Hoffnung auf Gnade! Gerieten sie bei uns in Gefangenschaft, erschoß man sie, sobald das erste verständliche russische Wort aus ihrem Mund kam. (Eine Gruppe, die sich in der Gegend um Bobrujsk freiwillig in Gefangenschaft begeben wollte, konnte ich noch anhalten und warnen: Sie sollten sich als Bauern verkleiden und sich über die Dörfer zerstreuen.) Wie in der deutschen Gefangenschaft ging es den Russen auch in der russischen am schlimmsten.
Dieser Krieg öffnete uns überhaupt die Augen darüber, daß es nichts Schlimmeres auf der Welt gibt, als Russe zu sein.
Mit Scham erinnere ich mich, wie ich bei der Inbesitznahme (d.h. Plünderung) des Kessels von Bobrujsk zwischen zerstörten und umgestürzten deutschen Fahrzeugen auf einer mit Beutegut übersäten Landstraße einher schritt, und aus einer Niederung, wo Fahrzeuge und Automobile im Schlamm versanken, deutsche Zugpferde umherirrten und Scheiterhaufen aus Beutegut rauchten, ein Hilferuf erscholl: „Herr Hauptmann! Herr Hauptmann!“ Dieser Hilfeschrei stammte von einem Infanteristen in deutschen Hosen und mit nacktem Oberkörper, bereits ganz mit Blut überströmt, und ein Sergeant von der Spezialabteilung des NKWD trieb ihn mit der Peitsche vor sich hin, gab ihm keine Gelegenheit, sich umzudrehen oder um Hilfe zu rufen; er trieb ihn vor sich her und schlug ihn, so daß sich seine Haut mit neuen roten Striemen bedeckte… Dieses Bild ist mir in der Erinnerung haften geblieben. Es ist nämlich fast ein Symbol des Archipel, und man könnte es auf dem Umschlag eines Buches unterbringen.
All dies ahnten sie voraus, wußten sie voraus und nähten sich trotzdem auf den linken Ärmel ein Schild mit dem Andreaskreuz und den Buchstaben ROA (Russische Befreiungsarmee) auf.
Der Erwähnung bedarf unbedingt auch das letzte große Werk Solschenizyns, 200 Jahre zusammen, dessen zwei Bände 2001 bzw. 2002 erschienen und das dem Problem der russisch-jüdischen Beziehungen gewidmet ist. Uns fehlt hier der Raum, um uns ausführlich mit diesem Werk auseinanderzusetzen, und wir wollen nur hervorheben, daß sich Solschenizyn auch hier als mutiger russischer Denker erwiesen hat, der nicht davor zurückscheute, die heißesten Eisen anzupacken. Meiner Meinung nach sind jene Kapitel besonders interessant, die der Geschichte des Judentums in der sowjetischen Periode gewidmet sind und dazu geführt haben, daß man dem Schriftsteller "Xenophobie", ja "Antisemitismus" vorwarf (ähnliche Beschuldigungen waren schon früher, nach der Veröffentlichung des Archipel Gulag, laut geworden). Diese Seiten ermöglichen dem Leser einen neuen Blick auf den „Großen Vaterländischen Krieg“, seine Triebkräfte und seinen verborgenen Sinn.
Ich zitierte: „Im Dezember 1941, nachdem die Deutschen vor den Toren Moskaus zurückgeschlagen worden waren, vergleich Radio Moskau ─ natürlich nicht in russischer, sondern in polnischer Sprache, und am folgenden Tag nochmals auf deutsch ─ die erfolgreiche russische Offensive mit dem von den Maccabäern vollbrachten Wunder und wies die Deutschen darauf hin, daß "ausgerechnet in der Chanukka-Woche" die 134. Nürnberger Division vernichtet worden war, die nach der Stadt benannt war, „in der die Rassengesetzgebung entstand“.
Zitieren wir weiter:
„Ilja Ehrenburg und anderen, z.B. dem Journalisten Kriger, wurde grünes Licht dazu erteilt, den ganzen Krieg hindurch den Deutschenhaß zu schüren und zu verbreiten, wobei sie das für sie brennende und delikate jüdische Thema zwar zur Sprache zu bringen, jedoch nicht überbetonen durften. Ehrenburg war während des gesamten Krieges der führende Troubadour; er behauptete, der Deutsche sei „seiner Natur nach ein Tier“, rief dazu auf, "nicht einmal die noch ungeborenen Faschisten zu verschonen“ (d.h. schwangere deutsche Frauen zu ermorden). Erst ganz am Schluß, als der Krieg immer weiter auf deutsches Gebiet übergriff und es sich herausstellte, daß die Armee die Propaganda der hemmungslosen Rache an allen Deutschen nur allzu gut verinnerlicht hatte, gebot man ihm Einhalt.“
Schließlich gilt es noch darauf hinzuweisen, daß Solschenizyn als einer der ersten nicht nur zwischen russisch und sowjetisch, sondern auch zwischen russisch und imperial unterschied, womit er gewissermaßen zum Vorläufer der Nationaldemokratie wurde. Kein anderer als Solschenizyn rief die Russen erstmals dazu auf, die drückende Last der unzähligen „welthistorischen“ Missionen abzuwerfen (mochte dies nun das „Dritte Rom“ oder die „Dritte Internationale“ sein) und sich auf ihre eigenen nationalen Probleme zu konzentrieren. Kein anderer als Solschenizyn betonte, daß die Russen kein imperiales Volk, kein Unterdrückervolk sind, sondern eines der vom Imperium geknechteten Völker, wenn nicht gar das am härtesten geknechtete.
Gewiß, in vielem blieb der Nationalismus Solschenizyns altertümlich: Alexander Issajewitsch vermochte sich nicht zu einer objektiven Beurteilung der ukrainischen Frage durchzuringen; seine Weltanschauung war in ungemein hohem Grade von der Orthodoxie geprägt, die übrigens während der Sowjetzeit, als sich Solschenizyns Ansichten herauskristallisierten, vielen als geistige Grundlage des Widerstands gegen das System galt. Allerdings übte Solschenizyn bereits damals herbe Kritik an den „Tschekisten mit dem Heiligenschein“ in den Reihen der orthodoxen Priesterschaft. Wie dem auch sei, man darf nicht vergessen, daß Solschenizyn ein Kind seiner Zeit war, das deren monströse Anziehungskraft zu überwinden vermochte; er war ein Sowjetmensch, der zum Russen wurde, und dies spricht Bände über diese Persönlichkeit genialen Kalibers.
Irgendwann wollte die Sowjetmacht Maxim Gorki ein Denkmal setzen, an der Stelle, wo die Oka und die Wolga zusammenfließen, auf einem hohen Ufer, inmitten freier Räume. Jetzt weiß ich, daß die Zeit kommen wird, wo die Republik Salessjaka Russ2 an diesem Orte ein Denkmal für Alexander Solschenizyn errichten wird. Schließlich ist es in mancher Hinsicht ihm zu verdanken, daß das russische Volk nicht zu einer Herde sowjetisierter Hohlköpfe wurde. Das ist schon ein Denkmal an einem der eindrücklichsten Orte der Heimaterde wert.
Zum Schluß möchte ich nochmals Solschenizyn selbst zitieren, denn einen großen Schriftsteller ehrt man am besten mit einem seiner großen Texte.
„In einem Dorf der Gegend von Rjasan versammelten sich am 3. Juli 1941 die Bauern in der Nähe der Schmiede und hörten sich am Rundfunkgerät eine Rede Stalins an. Und als Stalin, der früher so unerbittlich auf die Tränen des russischen Menschen reagiert hatte, plötzlich verlegen und halb weinend „Brüder und Schwestern!“ hervorpreßte, dann antwortete einer der Bauern dem „schwarzen Papierrachen“3:
„Ach du Hurensohn“, und er zeigte dem Rundfunkgerät die beliebte russische Geste, wenn man mit der linken Hand in die Beuge des rechten Armes schlägt und sich dabei der Arm aufrichtet. Und die Bauern lachten aus vollem Halse.
Hätten wir uns in allen Dörfern bei allen Augenzeugen erkundigt, so hätten wir von zehntausend solchen Fällen erfahren, auch von noch drastischeren.
Diese „beliebte russische Geste“ vollziehen wir heute gegenüber dem russischen Neosowjetismus mit seinem „großen Sieg“, dem imperialen Patriotismus, den Fernseh-Ehrenburgs, dem Moskauer Patriarchat und der Firma Gasprom. Es ist dies die Geste unseres heidnischen Saluts am Grabe des großen Alten.
Das letzte Buch Solschenizyns "200 Jahre zusammen" (über das Zusammenleben von Russen und Juden) wird mit Spenden ins Englische übersetzt! Ein großer Teil des Buches ist bereits online!
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